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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Die Verschuldung des ländlichen Grundbesitzes und das ländliche Kreditwesen

empfohlen wurden ist. Im vorliegenden Bande weist der Verfasser nach, daß
die Darlehnskassen nach Rniffeisens System, und sie allein, der Aufgabe voll¬
kommen gewachsen sind, den Bauernstand aus den Klauen der Wucherer zu
befreien, ihn unabhängig zu machen und ans seine eignen Füße zu stellen.
Der Darstellung des Entstehens, der Geschichte, der Wirksamkeit dieser Kassen
und der sich an sie anschließenden ländlichen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossen¬
schaften im deutschen Reiche folgt eine Geschichte des bäuerlichen Kreditwesens
in den Krvnlündern der österreichischen Monarchie und eine Übersicht der
Kreditorganisation in Frankreich, Italien, Belgien und England.

Das Buch bestätigt durchaus das Urteil über diese Kassen, das wir
wiederholt in den Grenzboten ausgesprochen haben. Ihre Gründung ist die
Frucht einer tiefreligiösen Persönlichkeit. Kurz vor seinem Tode, am 1. Juni
1887, hat Naiffeisen auf dem Verbandstage zu Düsseldorf noch einmal seine
innerste Meinung ausgesprochen. Er schilderte da den heutigen Zeitgeist,
seine Selbstsucht, seine fieberhafte Gewinnsucht, den Geist herzloser Ausbeutung,
jenen Kampf ums Dasein, wo jeder nach Gewinn ringt, unbekümmert um die
andern, die er durch seinen Gewinn vernichtet. "Dieser Zeitgeist, sagte er,
soll durch unsre Vereine bekämpft werden." Diese Vereine sollen die beiden
christlichen Wahrheiten wieder lebendig machen, daß jeder Mensch nicht unum-
schränkter Herr, sondern nur Verwalter seines Vermögens ist, und daß Zweck
und Ziel unsers Lebens nicht im Diesseits, sondern im Jenseits liegen. Der
aufrichtige Glaube an diese beiden Wahrheiten soll bewirken, daß sich jeder
Begüterte verpflichtet fühlt, den notleidenden Brüdern zu helfen, und in den
ländlichen Gemeinden wird das am wirksamsten dadurch geschehen, daß sie
ohne Anspruch auf Gewinn den Geldverlegenheiten der Armem abhelfen und
auf diese Weise den drohenden wirtschaftlichen Untergang des Kleinbcmern-
standes abwenden.

Schulze-Delitzsch hat den edeln Naiffeisen dreißig Jahre lang mit Er¬
bitterung bekämpft und dessen Vereine als unsolid, unhaltbar, allen Grundsätzen
eines gesunden Kreditwesens widersprechend der Öffentlichkeit und den Be¬
hörden denunzirt. Aber während bei seinen eignen Vorschußvereinen Bank-
brttche, die Millionen verschlangen, nichts seltenes waren, that ihm kein ein¬
ziger Darlehnskassenverein den Gefallen, in Konkurs zu geraten, und so sah
er sich denn gegen das Ende seines Lebens gezwungen, einzugestehen, daß die Ver¬
eine seines Konkurrenten für die ländlichen Verhältnisse nicht übel zu passen
schienen. Bei Schulze persönlich mag es liberaler Doktrinarismus und Kon¬
kurrenzneid gewesen sein, was ihn antrieb, Naiffeisens Arbeit zu stören. Daß
aber die Genossenschaftler Schulzischer Richtung grundsätzliche Feinde der Naiff-
eisenscheu Bereine sein müssen, ergiebt sich ohne weitres ans dem kapitalistischen
Geiste, der sie beherrscht. Denn nicht, wie sie vorgeben oder sich vielleicht
auch selbst einreden, um Stützung der kleinen Gewerbtreibenden, sondern um


Die Verschuldung des ländlichen Grundbesitzes und das ländliche Kreditwesen

empfohlen wurden ist. Im vorliegenden Bande weist der Verfasser nach, daß
die Darlehnskassen nach Rniffeisens System, und sie allein, der Aufgabe voll¬
kommen gewachsen sind, den Bauernstand aus den Klauen der Wucherer zu
befreien, ihn unabhängig zu machen und ans seine eignen Füße zu stellen.
Der Darstellung des Entstehens, der Geschichte, der Wirksamkeit dieser Kassen
und der sich an sie anschließenden ländlichen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossen¬
schaften im deutschen Reiche folgt eine Geschichte des bäuerlichen Kreditwesens
in den Krvnlündern der österreichischen Monarchie und eine Übersicht der
Kreditorganisation in Frankreich, Italien, Belgien und England.

Das Buch bestätigt durchaus das Urteil über diese Kassen, das wir
wiederholt in den Grenzboten ausgesprochen haben. Ihre Gründung ist die
Frucht einer tiefreligiösen Persönlichkeit. Kurz vor seinem Tode, am 1. Juni
1887, hat Naiffeisen auf dem Verbandstage zu Düsseldorf noch einmal seine
innerste Meinung ausgesprochen. Er schilderte da den heutigen Zeitgeist,
seine Selbstsucht, seine fieberhafte Gewinnsucht, den Geist herzloser Ausbeutung,
jenen Kampf ums Dasein, wo jeder nach Gewinn ringt, unbekümmert um die
andern, die er durch seinen Gewinn vernichtet. „Dieser Zeitgeist, sagte er,
soll durch unsre Vereine bekämpft werden." Diese Vereine sollen die beiden
christlichen Wahrheiten wieder lebendig machen, daß jeder Mensch nicht unum-
schränkter Herr, sondern nur Verwalter seines Vermögens ist, und daß Zweck
und Ziel unsers Lebens nicht im Diesseits, sondern im Jenseits liegen. Der
aufrichtige Glaube an diese beiden Wahrheiten soll bewirken, daß sich jeder
Begüterte verpflichtet fühlt, den notleidenden Brüdern zu helfen, und in den
ländlichen Gemeinden wird das am wirksamsten dadurch geschehen, daß sie
ohne Anspruch auf Gewinn den Geldverlegenheiten der Armem abhelfen und
auf diese Weise den drohenden wirtschaftlichen Untergang des Kleinbcmern-
standes abwenden.

Schulze-Delitzsch hat den edeln Naiffeisen dreißig Jahre lang mit Er¬
bitterung bekämpft und dessen Vereine als unsolid, unhaltbar, allen Grundsätzen
eines gesunden Kreditwesens widersprechend der Öffentlichkeit und den Be¬
hörden denunzirt. Aber während bei seinen eignen Vorschußvereinen Bank-
brttche, die Millionen verschlangen, nichts seltenes waren, that ihm kein ein¬
ziger Darlehnskassenverein den Gefallen, in Konkurs zu geraten, und so sah
er sich denn gegen das Ende seines Lebens gezwungen, einzugestehen, daß die Ver¬
eine seines Konkurrenten für die ländlichen Verhältnisse nicht übel zu passen
schienen. Bei Schulze persönlich mag es liberaler Doktrinarismus und Kon¬
kurrenzneid gewesen sein, was ihn antrieb, Naiffeisens Arbeit zu stören. Daß
aber die Genossenschaftler Schulzischer Richtung grundsätzliche Feinde der Naiff-
eisenscheu Bereine sein müssen, ergiebt sich ohne weitres ans dem kapitalistischen
Geiste, der sie beherrscht. Denn nicht, wie sie vorgeben oder sich vielleicht
auch selbst einreden, um Stützung der kleinen Gewerbtreibenden, sondern um


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[0597] Die Verschuldung des ländlichen Grundbesitzes und das ländliche Kreditwesen empfohlen wurden ist. Im vorliegenden Bande weist der Verfasser nach, daß die Darlehnskassen nach Rniffeisens System, und sie allein, der Aufgabe voll¬ kommen gewachsen sind, den Bauernstand aus den Klauen der Wucherer zu befreien, ihn unabhängig zu machen und ans seine eignen Füße zu stellen. Der Darstellung des Entstehens, der Geschichte, der Wirksamkeit dieser Kassen und der sich an sie anschließenden ländlichen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossen¬ schaften im deutschen Reiche folgt eine Geschichte des bäuerlichen Kreditwesens in den Krvnlündern der österreichischen Monarchie und eine Übersicht der Kreditorganisation in Frankreich, Italien, Belgien und England. Das Buch bestätigt durchaus das Urteil über diese Kassen, das wir wiederholt in den Grenzboten ausgesprochen haben. Ihre Gründung ist die Frucht einer tiefreligiösen Persönlichkeit. Kurz vor seinem Tode, am 1. Juni 1887, hat Naiffeisen auf dem Verbandstage zu Düsseldorf noch einmal seine innerste Meinung ausgesprochen. Er schilderte da den heutigen Zeitgeist, seine Selbstsucht, seine fieberhafte Gewinnsucht, den Geist herzloser Ausbeutung, jenen Kampf ums Dasein, wo jeder nach Gewinn ringt, unbekümmert um die andern, die er durch seinen Gewinn vernichtet. „Dieser Zeitgeist, sagte er, soll durch unsre Vereine bekämpft werden." Diese Vereine sollen die beiden christlichen Wahrheiten wieder lebendig machen, daß jeder Mensch nicht unum- schränkter Herr, sondern nur Verwalter seines Vermögens ist, und daß Zweck und Ziel unsers Lebens nicht im Diesseits, sondern im Jenseits liegen. Der aufrichtige Glaube an diese beiden Wahrheiten soll bewirken, daß sich jeder Begüterte verpflichtet fühlt, den notleidenden Brüdern zu helfen, und in den ländlichen Gemeinden wird das am wirksamsten dadurch geschehen, daß sie ohne Anspruch auf Gewinn den Geldverlegenheiten der Armem abhelfen und auf diese Weise den drohenden wirtschaftlichen Untergang des Kleinbcmern- standes abwenden. Schulze-Delitzsch hat den edeln Naiffeisen dreißig Jahre lang mit Er¬ bitterung bekämpft und dessen Vereine als unsolid, unhaltbar, allen Grundsätzen eines gesunden Kreditwesens widersprechend der Öffentlichkeit und den Be¬ hörden denunzirt. Aber während bei seinen eignen Vorschußvereinen Bank- brttche, die Millionen verschlangen, nichts seltenes waren, that ihm kein ein¬ ziger Darlehnskassenverein den Gefallen, in Konkurs zu geraten, und so sah er sich denn gegen das Ende seines Lebens gezwungen, einzugestehen, daß die Ver¬ eine seines Konkurrenten für die ländlichen Verhältnisse nicht übel zu passen schienen. Bei Schulze persönlich mag es liberaler Doktrinarismus und Kon¬ kurrenzneid gewesen sein, was ihn antrieb, Naiffeisens Arbeit zu stören. Daß aber die Genossenschaftler Schulzischer Richtung grundsätzliche Feinde der Naiff- eisenscheu Bereine sein müssen, ergiebt sich ohne weitres ans dem kapitalistischen Geiste, der sie beherrscht. Denn nicht, wie sie vorgeben oder sich vielleicht auch selbst einreden, um Stützung der kleinen Gewerbtreibenden, sondern um

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/597>, abgerufen am 23.07.2024.