Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Mangel an geschichtlichem Sinn

vollen Philosophie, die Geringschätzung eines sich selbst genügenden Gelehrten-
tums, die Stupidität des Philisters, die Bosheit des Gegners -- sollten sie
uns auch nur einen Augenblick kümmern? Wenn die Geschichte in Wirklichkeit
bis dahin eine schlechte Lehrmeisterin gewesen ist, so können wir deshalb doch
nicht sagen, daß die Schuld an ihr liege. Das vernünftige, das sie berichtet,
sollte es nicht auf den, der Vernunft hat und sie gebraucht, wirken, das
unvernünftige, das sie ebenfalls auf ihren Blättern verzeichnet, ihn nicht ab¬
schrecken können?

Die deutsche Nation steht vor der wichtigsten Entscheidung von allen, an
die sie jemals wegen ihrer Zukunft getreten ist. Die Kriege von 1866 und
1870 waren nur die Vorfragen, die Hauptfrage, die Erörterung, ob Deutsch¬
land sein darf oder nicht, wird erst in dem nächsten europäischen Kriege ent¬
schieden werden. Es ist das dieselbe Entscheidung, vor der einst alle die
Staaten gestanden haben, die den starken Willen hatten, ihr Dasein nur durch
die eignen Interessen bestimmen zu lassen. Sollten wir da nicht mit vollem
Recht und in erster Linie nach dem fragen, was in ähnlicher Lage die Völker
vor uns gethan haben, und wenn wir diese Frage unzühligemale gestellt hätten,
sollten wir nicht immer von neuem zu untersuchen anfangen, was der Kern
der Sache in jener Zeit war, das allgemeine, was damals bestimmend war
oder hätte sein sollen und deshalb auch der kategorische Imperativ für uns
sein muß?

Die griechische Geschichte ist bis zum Überdruß umgewälzt und bis zum
Ekel gelernt worden, aber dieser Überdruß und dieser Ekel liegen nicht in dem
Stoff, sondern in dem Mangel unsers Erkennens. Nur wenn wir bis zum
untersten Grunde vorgedrungen sind, geht uns Licht und Leben auf, gewinnen
wir Fvende an dem Bilde, das sich unsern Blicken entrollt. Immer von neuem
treten wir daun davor hin, weil wir in seinen Zügen unser eignes Wesen er¬
kennen, und weil wir aus der toten Vergangenheit Leben in der Gegenwart
zu erwecken vermögen. Als Themistokles seine Mitbürger zwang, sich ihrer
Laurionaktien zu Gunsten der Kriegsbedürfnisse des Staats zu begeben, da
begann die Zeit einer nationale" Hochflut, die kaum ihresgleichen hat. Sie
berechtigte zu deu höchsten Hoffnungen und hätte in das Ziel der Einigung
und Beherrschung von Griechenland auslaufen müssen, wenn sie nicht politisch
unter dem Doktrinarismus der Demokratie von Perikles Gnaden ins Stocken
geraten wäre. Als dann der größte aller Athener, Aleibiades, seinen Mit¬
bürgern wieder neue hohe Ziele wies, aber auch dem entsprechend große An¬
strengungen von ihnen verlangte, da fiel er nicht allein dnrch die Koalition
der aristokratischen Heißsporne und der radikalen Demokratie, sondern ganz be¬
sonders durch die Philisterei der Besitzenden, die ihren Geldsack und ihre Be¬
haglichkeit gefährdet sahen. So erfüllten sich die Geschicke Griechenlands, und
als später trotz der von Athen ausstrahlenden Ruhe Krieg von Makedonien


Der Mangel an geschichtlichem Sinn

vollen Philosophie, die Geringschätzung eines sich selbst genügenden Gelehrten-
tums, die Stupidität des Philisters, die Bosheit des Gegners — sollten sie
uns auch nur einen Augenblick kümmern? Wenn die Geschichte in Wirklichkeit
bis dahin eine schlechte Lehrmeisterin gewesen ist, so können wir deshalb doch
nicht sagen, daß die Schuld an ihr liege. Das vernünftige, das sie berichtet,
sollte es nicht auf den, der Vernunft hat und sie gebraucht, wirken, das
unvernünftige, das sie ebenfalls auf ihren Blättern verzeichnet, ihn nicht ab¬
schrecken können?

Die deutsche Nation steht vor der wichtigsten Entscheidung von allen, an
die sie jemals wegen ihrer Zukunft getreten ist. Die Kriege von 1866 und
1870 waren nur die Vorfragen, die Hauptfrage, die Erörterung, ob Deutsch¬
land sein darf oder nicht, wird erst in dem nächsten europäischen Kriege ent¬
schieden werden. Es ist das dieselbe Entscheidung, vor der einst alle die
Staaten gestanden haben, die den starken Willen hatten, ihr Dasein nur durch
die eignen Interessen bestimmen zu lassen. Sollten wir da nicht mit vollem
Recht und in erster Linie nach dem fragen, was in ähnlicher Lage die Völker
vor uns gethan haben, und wenn wir diese Frage unzühligemale gestellt hätten,
sollten wir nicht immer von neuem zu untersuchen anfangen, was der Kern
der Sache in jener Zeit war, das allgemeine, was damals bestimmend war
oder hätte sein sollen und deshalb auch der kategorische Imperativ für uns
sein muß?

Die griechische Geschichte ist bis zum Überdruß umgewälzt und bis zum
Ekel gelernt worden, aber dieser Überdruß und dieser Ekel liegen nicht in dem
Stoff, sondern in dem Mangel unsers Erkennens. Nur wenn wir bis zum
untersten Grunde vorgedrungen sind, geht uns Licht und Leben auf, gewinnen
wir Fvende an dem Bilde, das sich unsern Blicken entrollt. Immer von neuem
treten wir daun davor hin, weil wir in seinen Zügen unser eignes Wesen er¬
kennen, und weil wir aus der toten Vergangenheit Leben in der Gegenwart
zu erwecken vermögen. Als Themistokles seine Mitbürger zwang, sich ihrer
Laurionaktien zu Gunsten der Kriegsbedürfnisse des Staats zu begeben, da
begann die Zeit einer nationale» Hochflut, die kaum ihresgleichen hat. Sie
berechtigte zu deu höchsten Hoffnungen und hätte in das Ziel der Einigung
und Beherrschung von Griechenland auslaufen müssen, wenn sie nicht politisch
unter dem Doktrinarismus der Demokratie von Perikles Gnaden ins Stocken
geraten wäre. Als dann der größte aller Athener, Aleibiades, seinen Mit¬
bürgern wieder neue hohe Ziele wies, aber auch dem entsprechend große An¬
strengungen von ihnen verlangte, da fiel er nicht allein dnrch die Koalition
der aristokratischen Heißsporne und der radikalen Demokratie, sondern ganz be¬
sonders durch die Philisterei der Besitzenden, die ihren Geldsack und ihre Be¬
haglichkeit gefährdet sahen. So erfüllten sich die Geschicke Griechenlands, und
als später trotz der von Athen ausstrahlenden Ruhe Krieg von Makedonien


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0495" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214950"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Mangel an geschichtlichem Sinn</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1898" prev="#ID_1897"> vollen Philosophie, die Geringschätzung eines sich selbst genügenden Gelehrten-<lb/>
tums, die Stupidität des Philisters, die Bosheit des Gegners &#x2014; sollten sie<lb/>
uns auch nur einen Augenblick kümmern? Wenn die Geschichte in Wirklichkeit<lb/>
bis dahin eine schlechte Lehrmeisterin gewesen ist, so können wir deshalb doch<lb/>
nicht sagen, daß die Schuld an ihr liege. Das vernünftige, das sie berichtet,<lb/>
sollte es nicht auf den, der Vernunft hat und sie gebraucht, wirken, das<lb/>
unvernünftige, das sie ebenfalls auf ihren Blättern verzeichnet, ihn nicht ab¬<lb/>
schrecken können?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1899"> Die deutsche Nation steht vor der wichtigsten Entscheidung von allen, an<lb/>
die sie jemals wegen ihrer Zukunft getreten ist. Die Kriege von 1866 und<lb/>
1870 waren nur die Vorfragen, die Hauptfrage, die Erörterung, ob Deutsch¬<lb/>
land sein darf oder nicht, wird erst in dem nächsten europäischen Kriege ent¬<lb/>
schieden werden. Es ist das dieselbe Entscheidung, vor der einst alle die<lb/>
Staaten gestanden haben, die den starken Willen hatten, ihr Dasein nur durch<lb/>
die eignen Interessen bestimmen zu lassen. Sollten wir da nicht mit vollem<lb/>
Recht und in erster Linie nach dem fragen, was in ähnlicher Lage die Völker<lb/>
vor uns gethan haben, und wenn wir diese Frage unzühligemale gestellt hätten,<lb/>
sollten wir nicht immer von neuem zu untersuchen anfangen, was der Kern<lb/>
der Sache in jener Zeit war, das allgemeine, was damals bestimmend war<lb/>
oder hätte sein sollen und deshalb auch der kategorische Imperativ für uns<lb/>
sein muß?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1900" next="#ID_1901"> Die griechische Geschichte ist bis zum Überdruß umgewälzt und bis zum<lb/>
Ekel gelernt worden, aber dieser Überdruß und dieser Ekel liegen nicht in dem<lb/>
Stoff, sondern in dem Mangel unsers Erkennens. Nur wenn wir bis zum<lb/>
untersten Grunde vorgedrungen sind, geht uns Licht und Leben auf, gewinnen<lb/>
wir Fvende an dem Bilde, das sich unsern Blicken entrollt. Immer von neuem<lb/>
treten wir daun davor hin, weil wir in seinen Zügen unser eignes Wesen er¬<lb/>
kennen, und weil wir aus der toten Vergangenheit Leben in der Gegenwart<lb/>
zu erwecken vermögen. Als Themistokles seine Mitbürger zwang, sich ihrer<lb/>
Laurionaktien zu Gunsten der Kriegsbedürfnisse des Staats zu begeben, da<lb/>
begann die Zeit einer nationale» Hochflut, die kaum ihresgleichen hat. Sie<lb/>
berechtigte zu deu höchsten Hoffnungen und hätte in das Ziel der Einigung<lb/>
und Beherrschung von Griechenland auslaufen müssen, wenn sie nicht politisch<lb/>
unter dem Doktrinarismus der Demokratie von Perikles Gnaden ins Stocken<lb/>
geraten wäre. Als dann der größte aller Athener, Aleibiades, seinen Mit¬<lb/>
bürgern wieder neue hohe Ziele wies, aber auch dem entsprechend große An¬<lb/>
strengungen von ihnen verlangte, da fiel er nicht allein dnrch die Koalition<lb/>
der aristokratischen Heißsporne und der radikalen Demokratie, sondern ganz be¬<lb/>
sonders durch die Philisterei der Besitzenden, die ihren Geldsack und ihre Be¬<lb/>
haglichkeit gefährdet sahen. So erfüllten sich die Geschicke Griechenlands, und<lb/>
als später trotz der von Athen ausstrahlenden Ruhe Krieg von Makedonien</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0495] Der Mangel an geschichtlichem Sinn vollen Philosophie, die Geringschätzung eines sich selbst genügenden Gelehrten- tums, die Stupidität des Philisters, die Bosheit des Gegners — sollten sie uns auch nur einen Augenblick kümmern? Wenn die Geschichte in Wirklichkeit bis dahin eine schlechte Lehrmeisterin gewesen ist, so können wir deshalb doch nicht sagen, daß die Schuld an ihr liege. Das vernünftige, das sie berichtet, sollte es nicht auf den, der Vernunft hat und sie gebraucht, wirken, das unvernünftige, das sie ebenfalls auf ihren Blättern verzeichnet, ihn nicht ab¬ schrecken können? Die deutsche Nation steht vor der wichtigsten Entscheidung von allen, an die sie jemals wegen ihrer Zukunft getreten ist. Die Kriege von 1866 und 1870 waren nur die Vorfragen, die Hauptfrage, die Erörterung, ob Deutsch¬ land sein darf oder nicht, wird erst in dem nächsten europäischen Kriege ent¬ schieden werden. Es ist das dieselbe Entscheidung, vor der einst alle die Staaten gestanden haben, die den starken Willen hatten, ihr Dasein nur durch die eignen Interessen bestimmen zu lassen. Sollten wir da nicht mit vollem Recht und in erster Linie nach dem fragen, was in ähnlicher Lage die Völker vor uns gethan haben, und wenn wir diese Frage unzühligemale gestellt hätten, sollten wir nicht immer von neuem zu untersuchen anfangen, was der Kern der Sache in jener Zeit war, das allgemeine, was damals bestimmend war oder hätte sein sollen und deshalb auch der kategorische Imperativ für uns sein muß? Die griechische Geschichte ist bis zum Überdruß umgewälzt und bis zum Ekel gelernt worden, aber dieser Überdruß und dieser Ekel liegen nicht in dem Stoff, sondern in dem Mangel unsers Erkennens. Nur wenn wir bis zum untersten Grunde vorgedrungen sind, geht uns Licht und Leben auf, gewinnen wir Fvende an dem Bilde, das sich unsern Blicken entrollt. Immer von neuem treten wir daun davor hin, weil wir in seinen Zügen unser eignes Wesen er¬ kennen, und weil wir aus der toten Vergangenheit Leben in der Gegenwart zu erwecken vermögen. Als Themistokles seine Mitbürger zwang, sich ihrer Laurionaktien zu Gunsten der Kriegsbedürfnisse des Staats zu begeben, da begann die Zeit einer nationale» Hochflut, die kaum ihresgleichen hat. Sie berechtigte zu deu höchsten Hoffnungen und hätte in das Ziel der Einigung und Beherrschung von Griechenland auslaufen müssen, wenn sie nicht politisch unter dem Doktrinarismus der Demokratie von Perikles Gnaden ins Stocken geraten wäre. Als dann der größte aller Athener, Aleibiades, seinen Mit¬ bürgern wieder neue hohe Ziele wies, aber auch dem entsprechend große An¬ strengungen von ihnen verlangte, da fiel er nicht allein dnrch die Koalition der aristokratischen Heißsporne und der radikalen Demokratie, sondern ganz be¬ sonders durch die Philisterei der Besitzenden, die ihren Geldsack und ihre Be¬ haglichkeit gefährdet sahen. So erfüllten sich die Geschicke Griechenlands, und als später trotz der von Athen ausstrahlenden Ruhe Krieg von Makedonien

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/495
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/495>, abgerufen am 23.07.2024.