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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Land und Leute in Gstfriesland

hängig und abgeschlossen hielten, anch innerlich verschlossen wurden, zurück¬
haltend, still, in sich gekehrt, vorsichtig, mißtrauisch, schweigsam? Schweig¬
samkeit ist bis auf diesen Tag die berechtigte Eigentümlichkeit der Ostfriesen.
Zu ihrer Erklärung dienen allerdings auch physikalische Ursachen. Vor allem
hat gewiß das Meer Einfluß gehabt, an dessen Küsten der Ostfriese wohnt,
und auf dessen Wassern er sein Wesen treibt, das gewaltige, stürmische, düstere,
graue deutsche Meer. Wohl kann es auch sonnig und wonnig lachen, sodaß
einem auf seinen Wogen das Blau von oben und das Blau von unten tief
ins Herz hineinscheint, und wer es so trifft, etwa an einem Hochsommertage
auf der Fahrt nach der deutschen Insel Helgoland, der kann von Glück sagen
und nimmt gewiß in seiner Seele ein Bild mit hinweg, das sich nie wieder
ganz verwischen läßt. Aber man trifft es selbst im Juli nicht immer so.
Und was soll der seefahrende Mann gar vom November sagen! Da ist es
auf der Nordsee entweder so neblig, daß man sich ganz weltverloren vorkommt,
oder es weht mit solcher Heftigkeit, daß einem der Sturm jedes Wort mit
Gewalt vom Munde wegnimmt. Wozu soll man da noch reden? Da braucht
es nicht der Worte, sondern der Thaten, da muß mit fester, sichrer Hand zu-
gegriffen werden. Still und stumm steht der Mann am Ruder, still und
stumm entern die Matrosen auf, lautlos thun sie ihre Pflicht in der heulenden,
pfeifenden Takelage. "Jene Rnye, die den Seemann in allen Lagen seines
Lebens kennzeichnet," sie hat der Ostfriese von jeher besessen, denn der Haupt¬
teil der Bevölkerung war ehemals seemännisch. In den Tagen, wo auf den
Landstraßen "Deutschlands" das Raubrittertum binde, trieben in "Ostfriesland"
auch Leute das seemännische Handwerk, die gar keine Seeleute, sondern ent¬
weder Seeräuber von Berief oder gelegentlich Seeräuber aus Neigung, jeden¬
falls aber Seeräuber waren, auch wenn sie daneben noch ein ehrliches Gewerbe
trieben und einem "erlaubten Nahrungszweig" nachgingen. Es war aber auch
zu verlockend, einmal zu untersuchen, was wohl die Schiffe der Osterlinge aus
ihrem Wege nach oder von London für kostbare Ladung mit sich führten.
Noch früher aber, in den Tagen Karls des Großen, in den Zeiten der Römer,
da waren alle Leute, die überhaupt an der See wohnten, anch Seeleute. Und
was für welche! Es waren Leute von jener Kühnheit und Unerschrockenst,
die auch in Kampf und Gefahr, in Sturm und Wngengebraus ihren Mann
steht, ja der das Ringen mit den empörten Elementen Lust und Freude
ist. Das haben die alten Römer, denen es in diesen flutenden und ebbenden
deutschen Gewässern ohnehin nicht recht geheuer war. oft genug mit Schrecken
erfahren. Und der Schrecken hatte eine verzweifelte Ähnlichkeit mit dem kim-
brischen, der ihnen so gut im Gedächtnis geblieben war. So viel sich aber auch
seit jenen Tagen geändert hat, das Meer ist dasselbe geblieben, und etwas
von der alten Schweigsamkeit hat sich anch erhalten. Mag der Neapolitaner
unter seinein ewig binnen Himmel an seinem ewig blauen Meere ewig schwatzen


Land und Leute in Gstfriesland

hängig und abgeschlossen hielten, anch innerlich verschlossen wurden, zurück¬
haltend, still, in sich gekehrt, vorsichtig, mißtrauisch, schweigsam? Schweig¬
samkeit ist bis auf diesen Tag die berechtigte Eigentümlichkeit der Ostfriesen.
Zu ihrer Erklärung dienen allerdings auch physikalische Ursachen. Vor allem
hat gewiß das Meer Einfluß gehabt, an dessen Küsten der Ostfriese wohnt,
und auf dessen Wassern er sein Wesen treibt, das gewaltige, stürmische, düstere,
graue deutsche Meer. Wohl kann es auch sonnig und wonnig lachen, sodaß
einem auf seinen Wogen das Blau von oben und das Blau von unten tief
ins Herz hineinscheint, und wer es so trifft, etwa an einem Hochsommertage
auf der Fahrt nach der deutschen Insel Helgoland, der kann von Glück sagen
und nimmt gewiß in seiner Seele ein Bild mit hinweg, das sich nie wieder
ganz verwischen läßt. Aber man trifft es selbst im Juli nicht immer so.
Und was soll der seefahrende Mann gar vom November sagen! Da ist es
auf der Nordsee entweder so neblig, daß man sich ganz weltverloren vorkommt,
oder es weht mit solcher Heftigkeit, daß einem der Sturm jedes Wort mit
Gewalt vom Munde wegnimmt. Wozu soll man da noch reden? Da braucht
es nicht der Worte, sondern der Thaten, da muß mit fester, sichrer Hand zu-
gegriffen werden. Still und stumm steht der Mann am Ruder, still und
stumm entern die Matrosen auf, lautlos thun sie ihre Pflicht in der heulenden,
pfeifenden Takelage. „Jene Rnye, die den Seemann in allen Lagen seines
Lebens kennzeichnet," sie hat der Ostfriese von jeher besessen, denn der Haupt¬
teil der Bevölkerung war ehemals seemännisch. In den Tagen, wo auf den
Landstraßen „Deutschlands" das Raubrittertum binde, trieben in „Ostfriesland"
auch Leute das seemännische Handwerk, die gar keine Seeleute, sondern ent¬
weder Seeräuber von Berief oder gelegentlich Seeräuber aus Neigung, jeden¬
falls aber Seeräuber waren, auch wenn sie daneben noch ein ehrliches Gewerbe
trieben und einem „erlaubten Nahrungszweig" nachgingen. Es war aber auch
zu verlockend, einmal zu untersuchen, was wohl die Schiffe der Osterlinge aus
ihrem Wege nach oder von London für kostbare Ladung mit sich führten.
Noch früher aber, in den Tagen Karls des Großen, in den Zeiten der Römer,
da waren alle Leute, die überhaupt an der See wohnten, anch Seeleute. Und
was für welche! Es waren Leute von jener Kühnheit und Unerschrockenst,
die auch in Kampf und Gefahr, in Sturm und Wngengebraus ihren Mann
steht, ja der das Ringen mit den empörten Elementen Lust und Freude
ist. Das haben die alten Römer, denen es in diesen flutenden und ebbenden
deutschen Gewässern ohnehin nicht recht geheuer war. oft genug mit Schrecken
erfahren. Und der Schrecken hatte eine verzweifelte Ähnlichkeit mit dem kim-
brischen, der ihnen so gut im Gedächtnis geblieben war. So viel sich aber auch
seit jenen Tagen geändert hat, das Meer ist dasselbe geblieben, und etwas
von der alten Schweigsamkeit hat sich anch erhalten. Mag der Neapolitaner
unter seinein ewig binnen Himmel an seinem ewig blauen Meere ewig schwatzen


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[0460] Land und Leute in Gstfriesland hängig und abgeschlossen hielten, anch innerlich verschlossen wurden, zurück¬ haltend, still, in sich gekehrt, vorsichtig, mißtrauisch, schweigsam? Schweig¬ samkeit ist bis auf diesen Tag die berechtigte Eigentümlichkeit der Ostfriesen. Zu ihrer Erklärung dienen allerdings auch physikalische Ursachen. Vor allem hat gewiß das Meer Einfluß gehabt, an dessen Küsten der Ostfriese wohnt, und auf dessen Wassern er sein Wesen treibt, das gewaltige, stürmische, düstere, graue deutsche Meer. Wohl kann es auch sonnig und wonnig lachen, sodaß einem auf seinen Wogen das Blau von oben und das Blau von unten tief ins Herz hineinscheint, und wer es so trifft, etwa an einem Hochsommertage auf der Fahrt nach der deutschen Insel Helgoland, der kann von Glück sagen und nimmt gewiß in seiner Seele ein Bild mit hinweg, das sich nie wieder ganz verwischen läßt. Aber man trifft es selbst im Juli nicht immer so. Und was soll der seefahrende Mann gar vom November sagen! Da ist es auf der Nordsee entweder so neblig, daß man sich ganz weltverloren vorkommt, oder es weht mit solcher Heftigkeit, daß einem der Sturm jedes Wort mit Gewalt vom Munde wegnimmt. Wozu soll man da noch reden? Da braucht es nicht der Worte, sondern der Thaten, da muß mit fester, sichrer Hand zu- gegriffen werden. Still und stumm steht der Mann am Ruder, still und stumm entern die Matrosen auf, lautlos thun sie ihre Pflicht in der heulenden, pfeifenden Takelage. „Jene Rnye, die den Seemann in allen Lagen seines Lebens kennzeichnet," sie hat der Ostfriese von jeher besessen, denn der Haupt¬ teil der Bevölkerung war ehemals seemännisch. In den Tagen, wo auf den Landstraßen „Deutschlands" das Raubrittertum binde, trieben in „Ostfriesland" auch Leute das seemännische Handwerk, die gar keine Seeleute, sondern ent¬ weder Seeräuber von Berief oder gelegentlich Seeräuber aus Neigung, jeden¬ falls aber Seeräuber waren, auch wenn sie daneben noch ein ehrliches Gewerbe trieben und einem „erlaubten Nahrungszweig" nachgingen. Es war aber auch zu verlockend, einmal zu untersuchen, was wohl die Schiffe der Osterlinge aus ihrem Wege nach oder von London für kostbare Ladung mit sich führten. Noch früher aber, in den Tagen Karls des Großen, in den Zeiten der Römer, da waren alle Leute, die überhaupt an der See wohnten, anch Seeleute. Und was für welche! Es waren Leute von jener Kühnheit und Unerschrockenst, die auch in Kampf und Gefahr, in Sturm und Wngengebraus ihren Mann steht, ja der das Ringen mit den empörten Elementen Lust und Freude ist. Das haben die alten Römer, denen es in diesen flutenden und ebbenden deutschen Gewässern ohnehin nicht recht geheuer war. oft genug mit Schrecken erfahren. Und der Schrecken hatte eine verzweifelte Ähnlichkeit mit dem kim- brischen, der ihnen so gut im Gedächtnis geblieben war. So viel sich aber auch seit jenen Tagen geändert hat, das Meer ist dasselbe geblieben, und etwas von der alten Schweigsamkeit hat sich anch erhalten. Mag der Neapolitaner unter seinein ewig binnen Himmel an seinem ewig blauen Meere ewig schwatzen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/460>, abgerufen am 29.09.2024.