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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Streif- und Federziige ans vergangnen Tagen

schieden; denn das Gewitter, das Thiers am politischen Himmel herauf¬
beschworen hatte, entlud sich in einer Kantate. Strophe: Sie sollen ihn nicht
haben! von Niklas Becker, Gegenstrophe: Umi8 l'^vous ein votrv Min g.1Iö-
nmncl, von Alfred de Musset, Finale: Friedeusmarseillaise von Lamartine.
Auch entdeckte man bald, daß er für die Schreibstube tauglicher war, als für
den Exerzierplatz.

Aber bald schwor er noch zu einer andern Fahne. Als er eine neue
"Bude" suchte, wurde er von einer Dame mit einen: Kinde empfangen, mietete
das ihm zusagende Zimmer, und um sich mit der vermeintlichen Padrona gleich
ans einen guten Fuß zu stellen, bewunderte er die Kleine und fragte, ob
"Madame" noch mehr Kinder habe? Wir zwei Schwestern sind die einzigen,
war die schnippische Antwort, die ihn belehrte, daß ihm seine Kurzsichtigkeit
einen schlimmen Streich gespielt hatte. Das junge Mädchen aber dachte: Ist
das ein geckiger Mensch! Sehe ich mit meinen sechzehn Jahren aus, als ob
ich eine zehnjährige Tochter haben könnte?

Mit der Zeit schaffte sich aber Leo eine Brille an und lernte nun
nicht nur das Alter Theresens richtiger abschätzen, sondern bemerkte auch, daß
sie bildhübsch war. Das muß sie in der That gewesen sein, dafür sprachen
noch in spätern Jahren das goldblonde Haar, die freundlichen Augen und die
gesnnoe Röte der Wangen. Sie wiederum trug dem Jüngling mit dem schwarzen
Schnurrbärte den ersten Irrtum nicht lange nach, und der tägliche Verkehr
führte, wie das schon öfter vorgekommen sein soll, zu einem stillen und dann
zu einem ausgesprochnen Einverständnis. Damit war jedoch die Frau Mutter
durchaus nicht einverstanden. Eine Liebschaft mit einem Studenten wäre unter
keinen Umständen nach ihrem Geschmack gewesen, und nun gar mit einem, der
gar kein Christ, geschweige denn ein rechtgläubiger war! Zu allem Überfluß
hatte sich bereits ein solider Bewerber gemeldet, ein junger Kaufmann aus
Köln. Sie griff zu den Mitteln, die schon viele Mütter als verfehlt erkannt
haben, wenn es zu spät war. Der Student erhielt die freundliche Aufforderung,
sich schleunigst nach einer andern Wohnung umzuthun, die Tochter deu ge¬
messenen Befehl, sich ihn aus dem Kopfe zu schlage" und dafür desto fleißiger
an den Kölner zu denken. Aber Therese ließ sich nicht kommandiren, am
menigsten einen Liebhaber aufdisputiren, der ihr nicht gefiel, und das Geheimnis
erhöhte natürlich den Reiz des Verhältnisses zu ihrem Leo. Auch erfreute
sich die stille Liebe bald eines eifrigen Beschützers.

Freund B. hatte nämlich litterarische Neigungen, war Mitarbeiter eines
damals am Rhein sehr verbreiteten Blattes, des in Wesel erscheinenden
"Sprechers" geworden, und hatte gelegentlich den Redakteur zu seinein Ver¬
trauten gemacht. Dieser Redakteur war Roderich Benedix, ehemals Schau¬
spieler und vor kurzem mit seinen ersten dramatischen Arbeiten, dem
Stndentenstncke "Das bemoste Haupt" n. s. w., hervorgetreten. Der wußte


Streif- und Federziige ans vergangnen Tagen

schieden; denn das Gewitter, das Thiers am politischen Himmel herauf¬
beschworen hatte, entlud sich in einer Kantate. Strophe: Sie sollen ihn nicht
haben! von Niklas Becker, Gegenstrophe: Umi8 l'^vous ein votrv Min g.1Iö-
nmncl, von Alfred de Musset, Finale: Friedeusmarseillaise von Lamartine.
Auch entdeckte man bald, daß er für die Schreibstube tauglicher war, als für
den Exerzierplatz.

Aber bald schwor er noch zu einer andern Fahne. Als er eine neue
„Bude" suchte, wurde er von einer Dame mit einen: Kinde empfangen, mietete
das ihm zusagende Zimmer, und um sich mit der vermeintlichen Padrona gleich
ans einen guten Fuß zu stellen, bewunderte er die Kleine und fragte, ob
„Madame" noch mehr Kinder habe? Wir zwei Schwestern sind die einzigen,
war die schnippische Antwort, die ihn belehrte, daß ihm seine Kurzsichtigkeit
einen schlimmen Streich gespielt hatte. Das junge Mädchen aber dachte: Ist
das ein geckiger Mensch! Sehe ich mit meinen sechzehn Jahren aus, als ob
ich eine zehnjährige Tochter haben könnte?

Mit der Zeit schaffte sich aber Leo eine Brille an und lernte nun
nicht nur das Alter Theresens richtiger abschätzen, sondern bemerkte auch, daß
sie bildhübsch war. Das muß sie in der That gewesen sein, dafür sprachen
noch in spätern Jahren das goldblonde Haar, die freundlichen Augen und die
gesnnoe Röte der Wangen. Sie wiederum trug dem Jüngling mit dem schwarzen
Schnurrbärte den ersten Irrtum nicht lange nach, und der tägliche Verkehr
führte, wie das schon öfter vorgekommen sein soll, zu einem stillen und dann
zu einem ausgesprochnen Einverständnis. Damit war jedoch die Frau Mutter
durchaus nicht einverstanden. Eine Liebschaft mit einem Studenten wäre unter
keinen Umständen nach ihrem Geschmack gewesen, und nun gar mit einem, der
gar kein Christ, geschweige denn ein rechtgläubiger war! Zu allem Überfluß
hatte sich bereits ein solider Bewerber gemeldet, ein junger Kaufmann aus
Köln. Sie griff zu den Mitteln, die schon viele Mütter als verfehlt erkannt
haben, wenn es zu spät war. Der Student erhielt die freundliche Aufforderung,
sich schleunigst nach einer andern Wohnung umzuthun, die Tochter deu ge¬
messenen Befehl, sich ihn aus dem Kopfe zu schlage« und dafür desto fleißiger
an den Kölner zu denken. Aber Therese ließ sich nicht kommandiren, am
menigsten einen Liebhaber aufdisputiren, der ihr nicht gefiel, und das Geheimnis
erhöhte natürlich den Reiz des Verhältnisses zu ihrem Leo. Auch erfreute
sich die stille Liebe bald eines eifrigen Beschützers.

Freund B. hatte nämlich litterarische Neigungen, war Mitarbeiter eines
damals am Rhein sehr verbreiteten Blattes, des in Wesel erscheinenden
„Sprechers" geworden, und hatte gelegentlich den Redakteur zu seinein Ver¬
trauten gemacht. Dieser Redakteur war Roderich Benedix, ehemals Schau¬
spieler und vor kurzem mit seinen ersten dramatischen Arbeiten, dem
Stndentenstncke „Das bemoste Haupt" n. s. w., hervorgetreten. Der wußte


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[0425] Streif- und Federziige ans vergangnen Tagen schieden; denn das Gewitter, das Thiers am politischen Himmel herauf¬ beschworen hatte, entlud sich in einer Kantate. Strophe: Sie sollen ihn nicht haben! von Niklas Becker, Gegenstrophe: Umi8 l'^vous ein votrv Min g.1Iö- nmncl, von Alfred de Musset, Finale: Friedeusmarseillaise von Lamartine. Auch entdeckte man bald, daß er für die Schreibstube tauglicher war, als für den Exerzierplatz. Aber bald schwor er noch zu einer andern Fahne. Als er eine neue „Bude" suchte, wurde er von einer Dame mit einen: Kinde empfangen, mietete das ihm zusagende Zimmer, und um sich mit der vermeintlichen Padrona gleich ans einen guten Fuß zu stellen, bewunderte er die Kleine und fragte, ob „Madame" noch mehr Kinder habe? Wir zwei Schwestern sind die einzigen, war die schnippische Antwort, die ihn belehrte, daß ihm seine Kurzsichtigkeit einen schlimmen Streich gespielt hatte. Das junge Mädchen aber dachte: Ist das ein geckiger Mensch! Sehe ich mit meinen sechzehn Jahren aus, als ob ich eine zehnjährige Tochter haben könnte? Mit der Zeit schaffte sich aber Leo eine Brille an und lernte nun nicht nur das Alter Theresens richtiger abschätzen, sondern bemerkte auch, daß sie bildhübsch war. Das muß sie in der That gewesen sein, dafür sprachen noch in spätern Jahren das goldblonde Haar, die freundlichen Augen und die gesnnoe Röte der Wangen. Sie wiederum trug dem Jüngling mit dem schwarzen Schnurrbärte den ersten Irrtum nicht lange nach, und der tägliche Verkehr führte, wie das schon öfter vorgekommen sein soll, zu einem stillen und dann zu einem ausgesprochnen Einverständnis. Damit war jedoch die Frau Mutter durchaus nicht einverstanden. Eine Liebschaft mit einem Studenten wäre unter keinen Umständen nach ihrem Geschmack gewesen, und nun gar mit einem, der gar kein Christ, geschweige denn ein rechtgläubiger war! Zu allem Überfluß hatte sich bereits ein solider Bewerber gemeldet, ein junger Kaufmann aus Köln. Sie griff zu den Mitteln, die schon viele Mütter als verfehlt erkannt haben, wenn es zu spät war. Der Student erhielt die freundliche Aufforderung, sich schleunigst nach einer andern Wohnung umzuthun, die Tochter deu ge¬ messenen Befehl, sich ihn aus dem Kopfe zu schlage« und dafür desto fleißiger an den Kölner zu denken. Aber Therese ließ sich nicht kommandiren, am menigsten einen Liebhaber aufdisputiren, der ihr nicht gefiel, und das Geheimnis erhöhte natürlich den Reiz des Verhältnisses zu ihrem Leo. Auch erfreute sich die stille Liebe bald eines eifrigen Beschützers. Freund B. hatte nämlich litterarische Neigungen, war Mitarbeiter eines damals am Rhein sehr verbreiteten Blattes, des in Wesel erscheinenden „Sprechers" geworden, und hatte gelegentlich den Redakteur zu seinein Ver¬ trauten gemacht. Dieser Redakteur war Roderich Benedix, ehemals Schau¬ spieler und vor kurzem mit seinen ersten dramatischen Arbeiten, dem Stndentenstncke „Das bemoste Haupt" n. s. w., hervorgetreten. Der wußte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/425>, abgerufen am 23.07.2024.