Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Naturgeschichte des Pessimismus

die zu meiner Sache passen, wie die Schweinskarbonade zur Judenhochzeit."
Passen, das ist das richtige Wort. Jeder entscheidet sich für das System,
das zu seiner Gemütsart "paßt"; auf logischem Wege kommt man zu dem
einen System so leicht wie zum andern, daher ist eine Entscheidung durch
logische Schlußfolgerungen nicht möglich. Und Ludwig Sigismund Ruht
(Direktor der kurhessischen Kunstsammlungen) schreibt in einer dem Andenken
des verstorbnen Freundes gewidmeten Note zu seiner Novelle "Eine Groteske":
"Wie viel ich deinem Umgang verdanke, habe ich erst Jahre lang nachher so
recht einsehen lernen. Vielleicht auch daß du mir nichts hättest lehren können,
Ware ich nicht für das Kontagium deines Pessimismus schon vorher reif und
Prädestinirt gewesen."

Schopenhauer hatte sehr Recht, wenn er den Kantischen Idealismus,
d-h. die Ansicht, die Welt sei nichts als ein wesenloses Traumbild, als die
Vorstufe seines Pessimismus bezeichnete, und das war es eben, was ihn zu
Kant hinzog. Denn mit dieser Ansicht ist zugleich die andre gerechtfertigt,
daß das Leben wertlos und der Willensdrang, der diesem wertlosen Dasein
Wesen, Wert und Dauer einhauchen möchte, unvernünftig sei.^) Kant hatte
die äußersten Folgerungen seiner Grundlehre teils nicht gezogen, teils in der
zweiten Auflage seines Hauptwerth zurückgenommen. Schopenhauer schreibt
darüber (in der Reklmnschen Ausgabe seiner Werke Band 1, S. 554 ff.), er
habe anfänglich Kant des Widerspruchs geziehen, weil dieser von seinen Vor¬
aussetzungen nicht bis zu dem schon von Berkeley aufgestellten Satze fort¬
geschritten sei, daß es ohne Subjekt kein Objekt gebe, und erzählt dann weiter:
"Als ich nun aber später Kants' Hauptwerk in der bereits selten gewordnen
ersten Auflage las, sah ich, zu meiner großen Freude, alle jene Widersprüche
verschwinden und fand, daß Kant, wenn er gleich nicht .die Formel "kein
Objekt ohne Subjekt" gebraucht, doch, mit eben der Entschiedenheit wie Berkeley
und ich, die in Raum und Zeit vorliegende Außenwelt für bloße Vorstellung
des sie erkennenden Subjekts erklärt; daher er z. B. S. 383 daselbst ohne
Rückhalt sagt: "Wenn ich das deutende Subjekt wegnehme, muß die ganze
Körperwelt fallen, als die nichts ist. als die Erscheinung in der Sinnlichkeit
unsers Subjekts und eine Art Vorstellungen desselben." Aber die ganze Stelle
von S. 348 bis 392, in welcher Kant seinen entschiednen Idealismus überaus
schön und deutlich darlegt, wurde von ihm in der zweiten Auflage supprimirt
und dagegen eine Menge ihr widerstreitender Äußerungen hineingebracht. Da¬
durch ist denn der Text der "Kritik der reinen Vernunft", wie er vom Jahre
^787 an bis zum Jahre 1838 zirkulirt hat, ein verunstalteter und verdorbner



Eine sehr unglückliche Frau aus dem Volke, die weder zum Lese" noch zum Grübeln
Zeit halte, hörten wir einmal sagen: "Zuweilen kommt es mir so vor, als sei das ganze
Leben nichts als ein wüster Traum."
Zur Naturgeschichte des Pessimismus

die zu meiner Sache passen, wie die Schweinskarbonade zur Judenhochzeit."
Passen, das ist das richtige Wort. Jeder entscheidet sich für das System,
das zu seiner Gemütsart „paßt"; auf logischem Wege kommt man zu dem
einen System so leicht wie zum andern, daher ist eine Entscheidung durch
logische Schlußfolgerungen nicht möglich. Und Ludwig Sigismund Ruht
(Direktor der kurhessischen Kunstsammlungen) schreibt in einer dem Andenken
des verstorbnen Freundes gewidmeten Note zu seiner Novelle „Eine Groteske":
„Wie viel ich deinem Umgang verdanke, habe ich erst Jahre lang nachher so
recht einsehen lernen. Vielleicht auch daß du mir nichts hättest lehren können,
Ware ich nicht für das Kontagium deines Pessimismus schon vorher reif und
Prädestinirt gewesen."

Schopenhauer hatte sehr Recht, wenn er den Kantischen Idealismus,
d-h. die Ansicht, die Welt sei nichts als ein wesenloses Traumbild, als die
Vorstufe seines Pessimismus bezeichnete, und das war es eben, was ihn zu
Kant hinzog. Denn mit dieser Ansicht ist zugleich die andre gerechtfertigt,
daß das Leben wertlos und der Willensdrang, der diesem wertlosen Dasein
Wesen, Wert und Dauer einhauchen möchte, unvernünftig sei.^) Kant hatte
die äußersten Folgerungen seiner Grundlehre teils nicht gezogen, teils in der
zweiten Auflage seines Hauptwerth zurückgenommen. Schopenhauer schreibt
darüber (in der Reklmnschen Ausgabe seiner Werke Band 1, S. 554 ff.), er
habe anfänglich Kant des Widerspruchs geziehen, weil dieser von seinen Vor¬
aussetzungen nicht bis zu dem schon von Berkeley aufgestellten Satze fort¬
geschritten sei, daß es ohne Subjekt kein Objekt gebe, und erzählt dann weiter:
„Als ich nun aber später Kants' Hauptwerk in der bereits selten gewordnen
ersten Auflage las, sah ich, zu meiner großen Freude, alle jene Widersprüche
verschwinden und fand, daß Kant, wenn er gleich nicht .die Formel »kein
Objekt ohne Subjekt« gebraucht, doch, mit eben der Entschiedenheit wie Berkeley
und ich, die in Raum und Zeit vorliegende Außenwelt für bloße Vorstellung
des sie erkennenden Subjekts erklärt; daher er z. B. S. 383 daselbst ohne
Rückhalt sagt: »Wenn ich das deutende Subjekt wegnehme, muß die ganze
Körperwelt fallen, als die nichts ist. als die Erscheinung in der Sinnlichkeit
unsers Subjekts und eine Art Vorstellungen desselben.« Aber die ganze Stelle
von S. 348 bis 392, in welcher Kant seinen entschiednen Idealismus überaus
schön und deutlich darlegt, wurde von ihm in der zweiten Auflage supprimirt
und dagegen eine Menge ihr widerstreitender Äußerungen hineingebracht. Da¬
durch ist denn der Text der »Kritik der reinen Vernunft«, wie er vom Jahre
^787 an bis zum Jahre 1838 zirkulirt hat, ein verunstalteter und verdorbner



Eine sehr unglückliche Frau aus dem Volke, die weder zum Lese» noch zum Grübeln
Zeit halte, hörten wir einmal sagen: „Zuweilen kommt es mir so vor, als sei das ganze
Leben nichts als ein wüster Traum."
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0358" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214813"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Naturgeschichte des Pessimismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1404" prev="#ID_1403"> die zu meiner Sache passen, wie die Schweinskarbonade zur Judenhochzeit."<lb/>
Passen, das ist das richtige Wort. Jeder entscheidet sich für das System,<lb/>
das zu seiner Gemütsart &#x201E;paßt"; auf logischem Wege kommt man zu dem<lb/>
einen System so leicht wie zum andern, daher ist eine Entscheidung durch<lb/>
logische Schlußfolgerungen nicht möglich. Und Ludwig Sigismund Ruht<lb/>
(Direktor der kurhessischen Kunstsammlungen) schreibt in einer dem Andenken<lb/>
des verstorbnen Freundes gewidmeten Note zu seiner Novelle &#x201E;Eine Groteske":<lb/>
&#x201E;Wie viel ich deinem Umgang verdanke, habe ich erst Jahre lang nachher so<lb/>
recht einsehen lernen. Vielleicht auch daß du mir nichts hättest lehren können,<lb/>
Ware ich nicht für das Kontagium deines Pessimismus schon vorher reif und<lb/>
Prädestinirt gewesen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1405" next="#ID_1406"> Schopenhauer hatte sehr Recht, wenn er den Kantischen Idealismus,<lb/>
d-h. die Ansicht, die Welt sei nichts als ein wesenloses Traumbild, als die<lb/>
Vorstufe seines Pessimismus bezeichnete, und das war es eben, was ihn zu<lb/>
Kant hinzog. Denn mit dieser Ansicht ist zugleich die andre gerechtfertigt,<lb/>
daß das Leben wertlos und der Willensdrang, der diesem wertlosen Dasein<lb/>
Wesen, Wert und Dauer einhauchen möchte, unvernünftig sei.^) Kant hatte<lb/>
die äußersten Folgerungen seiner Grundlehre teils nicht gezogen, teils in der<lb/>
zweiten Auflage seines Hauptwerth zurückgenommen. Schopenhauer schreibt<lb/>
darüber (in der Reklmnschen Ausgabe seiner Werke Band 1, S. 554 ff.), er<lb/>
habe anfänglich Kant des Widerspruchs geziehen, weil dieser von seinen Vor¬<lb/>
aussetzungen nicht bis zu dem schon von Berkeley aufgestellten Satze fort¬<lb/>
geschritten sei, daß es ohne Subjekt kein Objekt gebe, und erzählt dann weiter:<lb/>
&#x201E;Als ich nun aber später Kants' Hauptwerk in der bereits selten gewordnen<lb/>
ersten Auflage las, sah ich, zu meiner großen Freude, alle jene Widersprüche<lb/>
verschwinden und fand, daß Kant, wenn er gleich nicht .die Formel »kein<lb/>
Objekt ohne Subjekt« gebraucht, doch, mit eben der Entschiedenheit wie Berkeley<lb/>
und ich, die in Raum und Zeit vorliegende Außenwelt für bloße Vorstellung<lb/>
des sie erkennenden Subjekts erklärt; daher er z. B. S. 383 daselbst ohne<lb/>
Rückhalt sagt: »Wenn ich das deutende Subjekt wegnehme, muß die ganze<lb/>
Körperwelt fallen, als die nichts ist. als die Erscheinung in der Sinnlichkeit<lb/>
unsers Subjekts und eine Art Vorstellungen desselben.« Aber die ganze Stelle<lb/>
von S. 348 bis 392, in welcher Kant seinen entschiednen Idealismus überaus<lb/>
schön und deutlich darlegt, wurde von ihm in der zweiten Auflage supprimirt<lb/>
und dagegen eine Menge ihr widerstreitender Äußerungen hineingebracht. Da¬<lb/>
durch ist denn der Text der »Kritik der reinen Vernunft«, wie er vom Jahre<lb/>
^787 an bis zum Jahre 1838 zirkulirt hat, ein verunstalteter und verdorbner</p><lb/>
          <note xml:id="FID_64" place="foot"> Eine sehr unglückliche Frau aus dem Volke, die weder zum Lese» noch zum Grübeln<lb/>
Zeit halte, hörten wir einmal sagen: &#x201E;Zuweilen kommt es mir so vor, als sei das ganze<lb/>
Leben nichts als ein wüster Traum."</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0358] Zur Naturgeschichte des Pessimismus die zu meiner Sache passen, wie die Schweinskarbonade zur Judenhochzeit." Passen, das ist das richtige Wort. Jeder entscheidet sich für das System, das zu seiner Gemütsart „paßt"; auf logischem Wege kommt man zu dem einen System so leicht wie zum andern, daher ist eine Entscheidung durch logische Schlußfolgerungen nicht möglich. Und Ludwig Sigismund Ruht (Direktor der kurhessischen Kunstsammlungen) schreibt in einer dem Andenken des verstorbnen Freundes gewidmeten Note zu seiner Novelle „Eine Groteske": „Wie viel ich deinem Umgang verdanke, habe ich erst Jahre lang nachher so recht einsehen lernen. Vielleicht auch daß du mir nichts hättest lehren können, Ware ich nicht für das Kontagium deines Pessimismus schon vorher reif und Prädestinirt gewesen." Schopenhauer hatte sehr Recht, wenn er den Kantischen Idealismus, d-h. die Ansicht, die Welt sei nichts als ein wesenloses Traumbild, als die Vorstufe seines Pessimismus bezeichnete, und das war es eben, was ihn zu Kant hinzog. Denn mit dieser Ansicht ist zugleich die andre gerechtfertigt, daß das Leben wertlos und der Willensdrang, der diesem wertlosen Dasein Wesen, Wert und Dauer einhauchen möchte, unvernünftig sei.^) Kant hatte die äußersten Folgerungen seiner Grundlehre teils nicht gezogen, teils in der zweiten Auflage seines Hauptwerth zurückgenommen. Schopenhauer schreibt darüber (in der Reklmnschen Ausgabe seiner Werke Band 1, S. 554 ff.), er habe anfänglich Kant des Widerspruchs geziehen, weil dieser von seinen Vor¬ aussetzungen nicht bis zu dem schon von Berkeley aufgestellten Satze fort¬ geschritten sei, daß es ohne Subjekt kein Objekt gebe, und erzählt dann weiter: „Als ich nun aber später Kants' Hauptwerk in der bereits selten gewordnen ersten Auflage las, sah ich, zu meiner großen Freude, alle jene Widersprüche verschwinden und fand, daß Kant, wenn er gleich nicht .die Formel »kein Objekt ohne Subjekt« gebraucht, doch, mit eben der Entschiedenheit wie Berkeley und ich, die in Raum und Zeit vorliegende Außenwelt für bloße Vorstellung des sie erkennenden Subjekts erklärt; daher er z. B. S. 383 daselbst ohne Rückhalt sagt: »Wenn ich das deutende Subjekt wegnehme, muß die ganze Körperwelt fallen, als die nichts ist. als die Erscheinung in der Sinnlichkeit unsers Subjekts und eine Art Vorstellungen desselben.« Aber die ganze Stelle von S. 348 bis 392, in welcher Kant seinen entschiednen Idealismus überaus schön und deutlich darlegt, wurde von ihm in der zweiten Auflage supprimirt und dagegen eine Menge ihr widerstreitender Äußerungen hineingebracht. Da¬ durch ist denn der Text der »Kritik der reinen Vernunft«, wie er vom Jahre ^787 an bis zum Jahre 1838 zirkulirt hat, ein verunstalteter und verdorbner Eine sehr unglückliche Frau aus dem Volke, die weder zum Lese» noch zum Grübeln Zeit halte, hörten wir einmal sagen: „Zuweilen kommt es mir so vor, als sei das ganze Leben nichts als ein wüster Traum."

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/358
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/358>, abgerufen am 23.07.2024.