Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Bilder aus dem kochten

es. -- Es füllt keinem vernünftigen Menschen mehr ein, sagte sie. -- Sie
sollten es aber doch thun, erwiderte ich. Wissen Sie, was sie mir ant¬
wortete? Dadurch wird doch das Kind um nichts reicher!

Damit waren wir vor der Terrassentreppe des Hospitals angelangt, und
der Doktor befestigte, nachdem wir aufgestiegen waren, sein Pferd durch ein
Mctallgewicht, das im Lu^M gelegen hatte, und das er nun mit einer Kette
an das Gebiß des Pferdes hakte, sodaß das am Boden liegende Gewicht bei
jeder stärkern Bewegung den Pferdekopf leicht niederzog. Diese praktische
Einrichtung erspart hier allgemein Kutscher und Pferdejungen. Daß Gefährte
gestohlen werden, kommt hier eben so selten vor, wie daß etwa die des Nachts
auf den Vercmdas stehenden Milchkarren, worin oft ein Dollar und mehr
für schuldige Milch liegt, gestohlen würden. Der Milchmann kommt morgens
zeitig, steckt sein Geld für die vergangne Woche ein, macht einen Strich in
seinem Buch und füllt wieder die Kanne. So geschieht es auch mit Fleisch¬
waren, Gemüse, Brot, Eiern u. s. w. Ein armer Teufel, der etwa arbeitslos
herumstreicht, sagt sich, wenn er in Versuchung kommen sollte: Finde ich
morgen Arbeit, so habe ich drei bis vier Dollar für den Tag, was soll ich
mich da wegen eines Diebstahls von einem Dollar aus der Stadt jagen lassen?
Seinen Hunger kann er von den fünf Cents, die er etwa noch hat, in der
ersten besten Stehbierstube stillen von der Wurst, den Radieschen und den
Butterbroten, die er für sein bezahltes Glas Bier überall frei hat. Darum
kann ich auch mein Pferd hier ruhig und getrost stehen lassen, sagte der Kol¬
lege. Der Amerikaner hat viel zu viel Selbstgefühl, als daß er sich auf kleine
Diebstähle einließe. Und der Diebstahl eines solchen Geschirrs wäre für
einen hiesigen Landstreicher schon etwas zu miserables.

Wir traten in das Haus, wo uns eine Diakonissin in saubrer schwarz
und weißer Amtstracht empfing und in das ärztliche Sprechzimmer geleitete.
Ihr frisches und dabei feines Gesicht leuchtete wie Milch, und Blut aus der
tadellos saubern Haube hervor -- ein Gesichtchen zum Küssen. Was diese
"Braut Christi" wohl zur Weltentsagung getrieben haben mochte? Denn daß
es nicht eine protestantische Diakonissin, sondern eine katholische Schwester
war, ging aus dem Rosenkranz und den Kruzifixen, womit sie behängt war,
hervor.

Sie kannte die Wünsche und Gewohnheiten der hier verkehrenden Ärzte,
ging an einen kleinen Wandschrank, ans dem sich ebenfalls ein Kruzifix befand,
öffnete, ihn und stellte zwei Spitzgläschen und eine medizinisch aussehende
Flasche mit der Aufschrift Lxiriw3 truinsuti auf den Tisch. Dann entfernte sie
sich, um den Morgenbesuch des Arztes in den verschiednen Zimmern anzu¬
melden.

Daß dieses zarte Gesichtchen zu dem letzten Dynamitcittentat hier in Be¬
ziehung stehen soll, werden Sie wohl kaum glauben, sagte Dr. Brand, noch


Bilder aus dem kochten

es. — Es füllt keinem vernünftigen Menschen mehr ein, sagte sie. — Sie
sollten es aber doch thun, erwiderte ich. Wissen Sie, was sie mir ant¬
wortete? Dadurch wird doch das Kind um nichts reicher!

Damit waren wir vor der Terrassentreppe des Hospitals angelangt, und
der Doktor befestigte, nachdem wir aufgestiegen waren, sein Pferd durch ein
Mctallgewicht, das im Lu^M gelegen hatte, und das er nun mit einer Kette
an das Gebiß des Pferdes hakte, sodaß das am Boden liegende Gewicht bei
jeder stärkern Bewegung den Pferdekopf leicht niederzog. Diese praktische
Einrichtung erspart hier allgemein Kutscher und Pferdejungen. Daß Gefährte
gestohlen werden, kommt hier eben so selten vor, wie daß etwa die des Nachts
auf den Vercmdas stehenden Milchkarren, worin oft ein Dollar und mehr
für schuldige Milch liegt, gestohlen würden. Der Milchmann kommt morgens
zeitig, steckt sein Geld für die vergangne Woche ein, macht einen Strich in
seinem Buch und füllt wieder die Kanne. So geschieht es auch mit Fleisch¬
waren, Gemüse, Brot, Eiern u. s. w. Ein armer Teufel, der etwa arbeitslos
herumstreicht, sagt sich, wenn er in Versuchung kommen sollte: Finde ich
morgen Arbeit, so habe ich drei bis vier Dollar für den Tag, was soll ich
mich da wegen eines Diebstahls von einem Dollar aus der Stadt jagen lassen?
Seinen Hunger kann er von den fünf Cents, die er etwa noch hat, in der
ersten besten Stehbierstube stillen von der Wurst, den Radieschen und den
Butterbroten, die er für sein bezahltes Glas Bier überall frei hat. Darum
kann ich auch mein Pferd hier ruhig und getrost stehen lassen, sagte der Kol¬
lege. Der Amerikaner hat viel zu viel Selbstgefühl, als daß er sich auf kleine
Diebstähle einließe. Und der Diebstahl eines solchen Geschirrs wäre für
einen hiesigen Landstreicher schon etwas zu miserables.

Wir traten in das Haus, wo uns eine Diakonissin in saubrer schwarz
und weißer Amtstracht empfing und in das ärztliche Sprechzimmer geleitete.
Ihr frisches und dabei feines Gesicht leuchtete wie Milch, und Blut aus der
tadellos saubern Haube hervor — ein Gesichtchen zum Küssen. Was diese
„Braut Christi" wohl zur Weltentsagung getrieben haben mochte? Denn daß
es nicht eine protestantische Diakonissin, sondern eine katholische Schwester
war, ging aus dem Rosenkranz und den Kruzifixen, womit sie behängt war,
hervor.

Sie kannte die Wünsche und Gewohnheiten der hier verkehrenden Ärzte,
ging an einen kleinen Wandschrank, ans dem sich ebenfalls ein Kruzifix befand,
öffnete, ihn und stellte zwei Spitzgläschen und eine medizinisch aussehende
Flasche mit der Aufschrift Lxiriw3 truinsuti auf den Tisch. Dann entfernte sie
sich, um den Morgenbesuch des Arztes in den verschiednen Zimmern anzu¬
melden.

Daß dieses zarte Gesichtchen zu dem letzten Dynamitcittentat hier in Be¬
ziehung stehen soll, werden Sie wohl kaum glauben, sagte Dr. Brand, noch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0320" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214775"/>
          <fw type="header" place="top"> Bilder aus dem kochten</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1228" prev="#ID_1227"> es. &#x2014; Es füllt keinem vernünftigen Menschen mehr ein, sagte sie. &#x2014; Sie<lb/>
sollten es aber doch thun, erwiderte ich. Wissen Sie, was sie mir ant¬<lb/>
wortete?  Dadurch wird doch das Kind um nichts reicher!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1229"> Damit waren wir vor der Terrassentreppe des Hospitals angelangt, und<lb/>
der Doktor befestigte, nachdem wir aufgestiegen waren, sein Pferd durch ein<lb/>
Mctallgewicht, das im Lu^M gelegen hatte, und das er nun mit einer Kette<lb/>
an das Gebiß des Pferdes hakte, sodaß das am Boden liegende Gewicht bei<lb/>
jeder stärkern Bewegung den Pferdekopf leicht niederzog. Diese praktische<lb/>
Einrichtung erspart hier allgemein Kutscher und Pferdejungen. Daß Gefährte<lb/>
gestohlen werden, kommt hier eben so selten vor, wie daß etwa die des Nachts<lb/>
auf den Vercmdas stehenden Milchkarren, worin oft ein Dollar und mehr<lb/>
für schuldige Milch liegt, gestohlen würden. Der Milchmann kommt morgens<lb/>
zeitig, steckt sein Geld für die vergangne Woche ein, macht einen Strich in<lb/>
seinem Buch und füllt wieder die Kanne. So geschieht es auch mit Fleisch¬<lb/>
waren, Gemüse, Brot, Eiern u. s. w. Ein armer Teufel, der etwa arbeitslos<lb/>
herumstreicht, sagt sich, wenn er in Versuchung kommen sollte: Finde ich<lb/>
morgen Arbeit, so habe ich drei bis vier Dollar für den Tag, was soll ich<lb/>
mich da wegen eines Diebstahls von einem Dollar aus der Stadt jagen lassen?<lb/>
Seinen Hunger kann er von den fünf Cents, die er etwa noch hat, in der<lb/>
ersten besten Stehbierstube stillen von der Wurst, den Radieschen und den<lb/>
Butterbroten, die er für sein bezahltes Glas Bier überall frei hat. Darum<lb/>
kann ich auch mein Pferd hier ruhig und getrost stehen lassen, sagte der Kol¬<lb/>
lege. Der Amerikaner hat viel zu viel Selbstgefühl, als daß er sich auf kleine<lb/>
Diebstähle einließe. Und der Diebstahl eines solchen Geschirrs wäre für<lb/>
einen hiesigen Landstreicher schon etwas zu miserables.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1230"> Wir traten in das Haus, wo uns eine Diakonissin in saubrer schwarz<lb/>
und weißer Amtstracht empfing und in das ärztliche Sprechzimmer geleitete.<lb/>
Ihr frisches und dabei feines Gesicht leuchtete wie Milch, und Blut aus der<lb/>
tadellos saubern Haube hervor &#x2014; ein Gesichtchen zum Küssen. Was diese<lb/>
&#x201E;Braut Christi" wohl zur Weltentsagung getrieben haben mochte? Denn daß<lb/>
es nicht eine protestantische Diakonissin, sondern eine katholische Schwester<lb/>
war, ging aus dem Rosenkranz und den Kruzifixen, womit sie behängt war,<lb/>
hervor.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1231"> Sie kannte die Wünsche und Gewohnheiten der hier verkehrenden Ärzte,<lb/>
ging an einen kleinen Wandschrank, ans dem sich ebenfalls ein Kruzifix befand,<lb/>
öffnete, ihn und stellte zwei Spitzgläschen und eine medizinisch aussehende<lb/>
Flasche mit der Aufschrift Lxiriw3 truinsuti auf den Tisch. Dann entfernte sie<lb/>
sich, um den Morgenbesuch des Arztes in den verschiednen Zimmern anzu¬<lb/>
melden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1232" next="#ID_1233"> Daß dieses zarte Gesichtchen zu dem letzten Dynamitcittentat hier in Be¬<lb/>
ziehung stehen soll, werden Sie wohl kaum glauben, sagte Dr. Brand, noch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0320] Bilder aus dem kochten es. — Es füllt keinem vernünftigen Menschen mehr ein, sagte sie. — Sie sollten es aber doch thun, erwiderte ich. Wissen Sie, was sie mir ant¬ wortete? Dadurch wird doch das Kind um nichts reicher! Damit waren wir vor der Terrassentreppe des Hospitals angelangt, und der Doktor befestigte, nachdem wir aufgestiegen waren, sein Pferd durch ein Mctallgewicht, das im Lu^M gelegen hatte, und das er nun mit einer Kette an das Gebiß des Pferdes hakte, sodaß das am Boden liegende Gewicht bei jeder stärkern Bewegung den Pferdekopf leicht niederzog. Diese praktische Einrichtung erspart hier allgemein Kutscher und Pferdejungen. Daß Gefährte gestohlen werden, kommt hier eben so selten vor, wie daß etwa die des Nachts auf den Vercmdas stehenden Milchkarren, worin oft ein Dollar und mehr für schuldige Milch liegt, gestohlen würden. Der Milchmann kommt morgens zeitig, steckt sein Geld für die vergangne Woche ein, macht einen Strich in seinem Buch und füllt wieder die Kanne. So geschieht es auch mit Fleisch¬ waren, Gemüse, Brot, Eiern u. s. w. Ein armer Teufel, der etwa arbeitslos herumstreicht, sagt sich, wenn er in Versuchung kommen sollte: Finde ich morgen Arbeit, so habe ich drei bis vier Dollar für den Tag, was soll ich mich da wegen eines Diebstahls von einem Dollar aus der Stadt jagen lassen? Seinen Hunger kann er von den fünf Cents, die er etwa noch hat, in der ersten besten Stehbierstube stillen von der Wurst, den Radieschen und den Butterbroten, die er für sein bezahltes Glas Bier überall frei hat. Darum kann ich auch mein Pferd hier ruhig und getrost stehen lassen, sagte der Kol¬ lege. Der Amerikaner hat viel zu viel Selbstgefühl, als daß er sich auf kleine Diebstähle einließe. Und der Diebstahl eines solchen Geschirrs wäre für einen hiesigen Landstreicher schon etwas zu miserables. Wir traten in das Haus, wo uns eine Diakonissin in saubrer schwarz und weißer Amtstracht empfing und in das ärztliche Sprechzimmer geleitete. Ihr frisches und dabei feines Gesicht leuchtete wie Milch, und Blut aus der tadellos saubern Haube hervor — ein Gesichtchen zum Küssen. Was diese „Braut Christi" wohl zur Weltentsagung getrieben haben mochte? Denn daß es nicht eine protestantische Diakonissin, sondern eine katholische Schwester war, ging aus dem Rosenkranz und den Kruzifixen, womit sie behängt war, hervor. Sie kannte die Wünsche und Gewohnheiten der hier verkehrenden Ärzte, ging an einen kleinen Wandschrank, ans dem sich ebenfalls ein Kruzifix befand, öffnete, ihn und stellte zwei Spitzgläschen und eine medizinisch aussehende Flasche mit der Aufschrift Lxiriw3 truinsuti auf den Tisch. Dann entfernte sie sich, um den Morgenbesuch des Arztes in den verschiednen Zimmern anzu¬ melden. Daß dieses zarte Gesichtchen zu dem letzten Dynamitcittentat hier in Be¬ ziehung stehen soll, werden Sie wohl kaum glauben, sagte Dr. Brand, noch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/320
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/320>, abgerufen am 26.08.2024.