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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Denkmäler deutscher Tonkunst

seiner Klavierwerke kennt, von seinen übrigen Jnstrumentalschöpfungen gar
nicht zu reden. Der größte deutsche Komponist aus dem Ende des sechzehnten
Jahrhunderts, Hans Leo Haßler, der selbst vor Palestrinci und Gabrieli nicht
zurückzutreten braucht, ist heute nur in Bruchstücken bekannt, die kaum den
dritten Teil seines hinterlassenen Lebenswerkes ausmachen. So könnte ich
noch Seiten lang fortfahren, ohne wichtige andre Gebiete, wie das begleitete
Lied und die Oper, auch nur zu streifen.

Wenn ein neues großes Unternehmen begonnen werden soll, so hat man
nicht nur auf die gute Absicht zu sehen, auf den Fleiß und die Opferwilligkeit
der Unternehmer, sondern auch darnach wird zu fragen sein, ob die geistige
Schulung und Reife, ob die Ein- und Umsicht vorhanden ist, das Werk zweck¬
entsprechend durchzuführen. Auf die Schultern eines einzelnen darf man eine
solche Aufgabe nicht laden. Die Durcharbeitung und Veröffentlichung eines
Komponisten kann allenfalls von einem geleistet werden: bei Händel und
Schütz ist es geschehen, bei Bach wenigstens annähernd. Es kann aber selbst
in diesem Falle der äußere Umfang des Stoffs so gewaltig sein, daß nur
ausnahmsweise die Kraft und Lebensdauer eines Mannes ausreicht, ihn zu
bewältigen. Wenn Friedrich Chryscmder demnächst seine Hündelausgabe mit
dem hundertsten Foliobande abschließen wird, so ist ein Lebenswerk vollbracht,
vor dem sich die Welt bewundernd zu neigen hat. Aber das Rüstzeug des
Herausgebers ist doch dem einen Künstler gegenüber beschränkter, durch
seine Zeit und Persönlichkeit hauptsächlich bedingt und kaun unter nor¬
malen Verhältnissen ohne Schwierigkeiten erworben werden. Ein Unternehmen
wie die "Denkmäler deutscher Tonkunst" kann nur durch das Zusammenwirken
vieler gedeihen. Sind diese vorhanden, oder werden sie es sein, wenn das
Werk in Fluß kommt, und sich immer größere Anforderungen an Arbeitskräfte
erheben?

Die Frage setzt die Beantwortung einer andern voraus: wie ist der
heutige Stand der Musikwissenschaft? Daß ein Arbeitsfeld, wie das hier neu
aufzuthuende, nicht von Künstlern, sondern von Gelehrten bestellt werden muß,
das dürfte wohl niemand ernstlich abstreiten. Je mehr der Künstler ist, was
er sein soll: Selbstschöpfer, desto befangner wird er den Schöpfungen andrer
gegenüberstehen, desto schwerer wird er sich in die abweichenden Kunstanschan-
ungen vergangner Perioden einleben. In frühern Zeiten finden wir zuweilen
Kunst und Wissenschaft scheinbar in einer Person vereinigt. Aber damals
war Musikwissenschaft fast gleichbedeutend mit Musiktheorie, und diese gehört
mit ihrer einen Seite der praktischen Musik zu. Männer, die ans das Gebiet
der Geschichte und Urkundenwisseuschaft übergriffen, waren selten. Aber wie
sie sich auch bethätigten, die Erfolge als Gelehrte haben sie stets an ihrem
Künstlertum gebüßt. Zarlino wäre nicht der große Theoretiker geworden!
Mattheson nicht der einflußreiche Schriftsteller, wenn beide anch geniale Kom-


Denkmäler deutscher Tonkunst

seiner Klavierwerke kennt, von seinen übrigen Jnstrumentalschöpfungen gar
nicht zu reden. Der größte deutsche Komponist aus dem Ende des sechzehnten
Jahrhunderts, Hans Leo Haßler, der selbst vor Palestrinci und Gabrieli nicht
zurückzutreten braucht, ist heute nur in Bruchstücken bekannt, die kaum den
dritten Teil seines hinterlassenen Lebenswerkes ausmachen. So könnte ich
noch Seiten lang fortfahren, ohne wichtige andre Gebiete, wie das begleitete
Lied und die Oper, auch nur zu streifen.

Wenn ein neues großes Unternehmen begonnen werden soll, so hat man
nicht nur auf die gute Absicht zu sehen, auf den Fleiß und die Opferwilligkeit
der Unternehmer, sondern auch darnach wird zu fragen sein, ob die geistige
Schulung und Reife, ob die Ein- und Umsicht vorhanden ist, das Werk zweck¬
entsprechend durchzuführen. Auf die Schultern eines einzelnen darf man eine
solche Aufgabe nicht laden. Die Durcharbeitung und Veröffentlichung eines
Komponisten kann allenfalls von einem geleistet werden: bei Händel und
Schütz ist es geschehen, bei Bach wenigstens annähernd. Es kann aber selbst
in diesem Falle der äußere Umfang des Stoffs so gewaltig sein, daß nur
ausnahmsweise die Kraft und Lebensdauer eines Mannes ausreicht, ihn zu
bewältigen. Wenn Friedrich Chryscmder demnächst seine Hündelausgabe mit
dem hundertsten Foliobande abschließen wird, so ist ein Lebenswerk vollbracht,
vor dem sich die Welt bewundernd zu neigen hat. Aber das Rüstzeug des
Herausgebers ist doch dem einen Künstler gegenüber beschränkter, durch
seine Zeit und Persönlichkeit hauptsächlich bedingt und kaun unter nor¬
malen Verhältnissen ohne Schwierigkeiten erworben werden. Ein Unternehmen
wie die „Denkmäler deutscher Tonkunst" kann nur durch das Zusammenwirken
vieler gedeihen. Sind diese vorhanden, oder werden sie es sein, wenn das
Werk in Fluß kommt, und sich immer größere Anforderungen an Arbeitskräfte
erheben?

Die Frage setzt die Beantwortung einer andern voraus: wie ist der
heutige Stand der Musikwissenschaft? Daß ein Arbeitsfeld, wie das hier neu
aufzuthuende, nicht von Künstlern, sondern von Gelehrten bestellt werden muß,
das dürfte wohl niemand ernstlich abstreiten. Je mehr der Künstler ist, was
er sein soll: Selbstschöpfer, desto befangner wird er den Schöpfungen andrer
gegenüberstehen, desto schwerer wird er sich in die abweichenden Kunstanschan-
ungen vergangner Perioden einleben. In frühern Zeiten finden wir zuweilen
Kunst und Wissenschaft scheinbar in einer Person vereinigt. Aber damals
war Musikwissenschaft fast gleichbedeutend mit Musiktheorie, und diese gehört
mit ihrer einen Seite der praktischen Musik zu. Männer, die ans das Gebiet
der Geschichte und Urkundenwisseuschaft übergriffen, waren selten. Aber wie
sie sich auch bethätigten, die Erfolge als Gelehrte haben sie stets an ihrem
Künstlertum gebüßt. Zarlino wäre nicht der große Theoretiker geworden!
Mattheson nicht der einflußreiche Schriftsteller, wenn beide anch geniale Kom-


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[0032] Denkmäler deutscher Tonkunst seiner Klavierwerke kennt, von seinen übrigen Jnstrumentalschöpfungen gar nicht zu reden. Der größte deutsche Komponist aus dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts, Hans Leo Haßler, der selbst vor Palestrinci und Gabrieli nicht zurückzutreten braucht, ist heute nur in Bruchstücken bekannt, die kaum den dritten Teil seines hinterlassenen Lebenswerkes ausmachen. So könnte ich noch Seiten lang fortfahren, ohne wichtige andre Gebiete, wie das begleitete Lied und die Oper, auch nur zu streifen. Wenn ein neues großes Unternehmen begonnen werden soll, so hat man nicht nur auf die gute Absicht zu sehen, auf den Fleiß und die Opferwilligkeit der Unternehmer, sondern auch darnach wird zu fragen sein, ob die geistige Schulung und Reife, ob die Ein- und Umsicht vorhanden ist, das Werk zweck¬ entsprechend durchzuführen. Auf die Schultern eines einzelnen darf man eine solche Aufgabe nicht laden. Die Durcharbeitung und Veröffentlichung eines Komponisten kann allenfalls von einem geleistet werden: bei Händel und Schütz ist es geschehen, bei Bach wenigstens annähernd. Es kann aber selbst in diesem Falle der äußere Umfang des Stoffs so gewaltig sein, daß nur ausnahmsweise die Kraft und Lebensdauer eines Mannes ausreicht, ihn zu bewältigen. Wenn Friedrich Chryscmder demnächst seine Hündelausgabe mit dem hundertsten Foliobande abschließen wird, so ist ein Lebenswerk vollbracht, vor dem sich die Welt bewundernd zu neigen hat. Aber das Rüstzeug des Herausgebers ist doch dem einen Künstler gegenüber beschränkter, durch seine Zeit und Persönlichkeit hauptsächlich bedingt und kaun unter nor¬ malen Verhältnissen ohne Schwierigkeiten erworben werden. Ein Unternehmen wie die „Denkmäler deutscher Tonkunst" kann nur durch das Zusammenwirken vieler gedeihen. Sind diese vorhanden, oder werden sie es sein, wenn das Werk in Fluß kommt, und sich immer größere Anforderungen an Arbeitskräfte erheben? Die Frage setzt die Beantwortung einer andern voraus: wie ist der heutige Stand der Musikwissenschaft? Daß ein Arbeitsfeld, wie das hier neu aufzuthuende, nicht von Künstlern, sondern von Gelehrten bestellt werden muß, das dürfte wohl niemand ernstlich abstreiten. Je mehr der Künstler ist, was er sein soll: Selbstschöpfer, desto befangner wird er den Schöpfungen andrer gegenüberstehen, desto schwerer wird er sich in die abweichenden Kunstanschan- ungen vergangner Perioden einleben. In frühern Zeiten finden wir zuweilen Kunst und Wissenschaft scheinbar in einer Person vereinigt. Aber damals war Musikwissenschaft fast gleichbedeutend mit Musiktheorie, und diese gehört mit ihrer einen Seite der praktischen Musik zu. Männer, die ans das Gebiet der Geschichte und Urkundenwisseuschaft übergriffen, waren selten. Aber wie sie sich auch bethätigten, die Erfolge als Gelehrte haben sie stets an ihrem Künstlertum gebüßt. Zarlino wäre nicht der große Theoretiker geworden! Mattheson nicht der einflußreiche Schriftsteller, wenn beide anch geniale Kom-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/32>, abgerufen am 26.06.2024.