Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.Denkmäler deutscher Tonkunst Mehrzahl unsrer Musiker als eine antiquarische Thorheit, die sie nichts an¬ Denkmäler deutscher Tonkunst Mehrzahl unsrer Musiker als eine antiquarische Thorheit, die sie nichts an¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0031" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214487"/> <fw type="header" place="top"> Denkmäler deutscher Tonkunst</fw><lb/> <p xml:id="ID_64" prev="#ID_63" next="#ID_65"> Mehrzahl unsrer Musiker als eine antiquarische Thorheit, die sie nichts an¬<lb/> gehe, und wurde von vorsichtiger urteilenden wenigstens mit zweifelnder Ver-<lb/> wundrung angesehen. Dennoch beginnt schon jetzt, kaum acht Jahre nach<lb/> dem Erscheinen des ersten Bandes, eine andre Meinung sich langsam geltend<lb/> zu machen. An das seltsam Fremdartige dieser Musik gewohnt sich unsre<lb/> Zeit am leichtesten, wo es, wie in den Motetten, in Formen hervortritt, die<lb/> auch der Gegenwart noch einigermaßen geläufig sind. Daß Schützers evan¬<lb/> gelische Historien, Psalmen, geistliche Konzerte und andres sofort bereitwillig<lb/> hingenommen oder gar mit Lust gesucht werden sollten, ist nicht zu erwarten;<lb/> wir haben den Zusammenhang mit den Formen verloren, in denen sie er¬<lb/> scheinen. Diesen wiederherzustellen ist nichts förderlicher, als wenn gezeigt wird,<lb/> wie ein ganzes Jahrhundert in solchen und ähnlichen Formen musikalisch<lb/> dachte, wie Schütz zwar unter den Zeitgenossen der größte war, aber doch<lb/> mit ihnen an demselben Strange zog. Dann sondert sich von selbst das<lb/> Typische vom Individuellen, jenes wird am leichtesten begriffen und auf der<lb/> so gewonnenen Grundlage allmählich auch dieses verständlich und endlich ver¬<lb/> traut. So setzt Schütz die Bekanntschaft mit Andreas Hammerschmidt, mit<lb/> Johann Hermann Schein und Samuel Scheidt voraus, von denen wenigstens<lb/> die beiden letzten der Stolz ihrer Zeit waren und nach einigen Geschlechtern<lb/> auch wieder unser Stolz sein können. Wenn es in der Kunstgeschichte Er¬<lb/> scheinungen giebt, denen eine überragende Größe einmütig zugestanden wird,<lb/> so folgt daraus nicht, daß minder große Künstler für die Nachwelt entbehrlich<lb/> wären. Mit gleichem Rechte könnte man um weniger höchsten Berge willen<lb/> auf die ganze übrige Alpenwelt verzichten. War Sebastian Bach der gewal¬<lb/> tigste Orgelkomponist der Welt, so lebten doch vor ihm Männer, deren Eigen¬<lb/> tümlichkeit und Bedeutung sein Übergewicht ertrüge, ohne unter ihm zusammen¬<lb/> zubrechen. Seit zwanzig Jahren erst weiß man wieder, wer Dietrich Buxtehude<lb/> war, und wer möchte diesen wahrhaft genialen Mann jetzt neben Bach ent¬<lb/> behren? Aber nicht nur er, sondern viele seiner nordwestdeutschen Lands¬<lb/> genossen, nicht minder die thüringischen und fränkischen Orgelmeister bis zurück<lb/> zu Scheidt und seiner 'lavnlatur-z, nova haben unvergängliches geschaffen; sie<lb/> sprechen uur gleichsam ein altertümliches Deutsch, an das man sich aber leicht<lb/> gewöhnt. Zur Zeit des dreißigjährigen Kriegs besaßen wir an Johann Jakob<lb/> Froberger einen nicht nur im Vaterlande, sondern auch in Italien. Frankreich<lb/> und England berühmten Klaviermeister, dessen beste Werke ihre erste Ver¬<lb/> öffentlichung noch erwarten. Die Klavierkompositionen Johann Kriegers und<lb/> Johann Kuhncms. unmittelbar an die Zeit Sebastian Bachs angrenzend, sind<lb/> von einer Anmut. Originalität und Gediegenheit, daß sie den Ansprüchen jeder<lb/> Zeit genügen. Bedeutende Orchesterkomponisten hat das weit ausgebreitete<lb/> Geschlecht Bachs hervorgebracht; seinen Sohn Emanuel fängt man schon jetzt<lb/> an zu den Klassikern zu rechnen, obwohl die Welt nur den kleinsten Teil</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0031]
Denkmäler deutscher Tonkunst
Mehrzahl unsrer Musiker als eine antiquarische Thorheit, die sie nichts an¬
gehe, und wurde von vorsichtiger urteilenden wenigstens mit zweifelnder Ver-
wundrung angesehen. Dennoch beginnt schon jetzt, kaum acht Jahre nach
dem Erscheinen des ersten Bandes, eine andre Meinung sich langsam geltend
zu machen. An das seltsam Fremdartige dieser Musik gewohnt sich unsre
Zeit am leichtesten, wo es, wie in den Motetten, in Formen hervortritt, die
auch der Gegenwart noch einigermaßen geläufig sind. Daß Schützers evan¬
gelische Historien, Psalmen, geistliche Konzerte und andres sofort bereitwillig
hingenommen oder gar mit Lust gesucht werden sollten, ist nicht zu erwarten;
wir haben den Zusammenhang mit den Formen verloren, in denen sie er¬
scheinen. Diesen wiederherzustellen ist nichts förderlicher, als wenn gezeigt wird,
wie ein ganzes Jahrhundert in solchen und ähnlichen Formen musikalisch
dachte, wie Schütz zwar unter den Zeitgenossen der größte war, aber doch
mit ihnen an demselben Strange zog. Dann sondert sich von selbst das
Typische vom Individuellen, jenes wird am leichtesten begriffen und auf der
so gewonnenen Grundlage allmählich auch dieses verständlich und endlich ver¬
traut. So setzt Schütz die Bekanntschaft mit Andreas Hammerschmidt, mit
Johann Hermann Schein und Samuel Scheidt voraus, von denen wenigstens
die beiden letzten der Stolz ihrer Zeit waren und nach einigen Geschlechtern
auch wieder unser Stolz sein können. Wenn es in der Kunstgeschichte Er¬
scheinungen giebt, denen eine überragende Größe einmütig zugestanden wird,
so folgt daraus nicht, daß minder große Künstler für die Nachwelt entbehrlich
wären. Mit gleichem Rechte könnte man um weniger höchsten Berge willen
auf die ganze übrige Alpenwelt verzichten. War Sebastian Bach der gewal¬
tigste Orgelkomponist der Welt, so lebten doch vor ihm Männer, deren Eigen¬
tümlichkeit und Bedeutung sein Übergewicht ertrüge, ohne unter ihm zusammen¬
zubrechen. Seit zwanzig Jahren erst weiß man wieder, wer Dietrich Buxtehude
war, und wer möchte diesen wahrhaft genialen Mann jetzt neben Bach ent¬
behren? Aber nicht nur er, sondern viele seiner nordwestdeutschen Lands¬
genossen, nicht minder die thüringischen und fränkischen Orgelmeister bis zurück
zu Scheidt und seiner 'lavnlatur-z, nova haben unvergängliches geschaffen; sie
sprechen uur gleichsam ein altertümliches Deutsch, an das man sich aber leicht
gewöhnt. Zur Zeit des dreißigjährigen Kriegs besaßen wir an Johann Jakob
Froberger einen nicht nur im Vaterlande, sondern auch in Italien. Frankreich
und England berühmten Klaviermeister, dessen beste Werke ihre erste Ver¬
öffentlichung noch erwarten. Die Klavierkompositionen Johann Kriegers und
Johann Kuhncms. unmittelbar an die Zeit Sebastian Bachs angrenzend, sind
von einer Anmut. Originalität und Gediegenheit, daß sie den Ansprüchen jeder
Zeit genügen. Bedeutende Orchesterkomponisten hat das weit ausgebreitete
Geschlecht Bachs hervorgebracht; seinen Sohn Emanuel fängt man schon jetzt
an zu den Klassikern zu rechnen, obwohl die Welt nur den kleinsten Teil
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