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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Bilder aus dein Ivesten

überliegenden Gebäude. Wie man aus den Fenstern sah, schien drüben ein
großer Zudrang von Publikum zu herrschen, während es in dieser Doktoren-
kciserne hier augenblicklich etwas stiller zuging.

Aber, sagen Sie mir, verehrter Herr Kollege, wie können Sie bei diesem
entsetzlichen Lärm auf der Straße Herz und Lunge behorchen? fragte ich, als
ich neben einem eben frisch gebrauchten Kehlkopfspiegel auf dem Schreibtisch des
Kollegen ein Hörrohr stehen sah.

Daran gewöhnt man sich wie der Müller ans Mühlrad, antwortete
Dr. Brand, indem er mir eine Cigarre bot, sich mir gegenüber in seinen
drehbaren Armstuhl niederließ und sich anschickte, mir noch weitere Auskunft
zu geben, denn sein volles Herz drängte ihn augenscheinlich dazu, sich einmal
zu einem deutschen Kollegen, der eben aus der alten Heimat kam, über die
wunderlichen, neu entstandnen Verhältnisse hier auszusprechen, in die er sich,
nach ein paar schwierigen Jahren, glücklich hineingefunden hatte.

Ja, die alte Welt, sagte ich, kommt einem hier in mancher Beziehung
recht überlebt vor; dabei deutete ich auf das Gewirr von Schildern mit
Anpreisungen, die man durchs Fenster sah.

O, was Sie da sehen, erwiderte er, ist noch lange nicht das schlimmste
von geschäftlicher Ausbeuterei im ärztlichen Stande. DaS widerlichste ist die
geheime Mache, das Agentenwesen, das Faktoren- und Kolportageweseu,
das Treiben der von den Ärzten und ärztlichen Firmen ausgeschickten
Geschäftsreisenden auf dem flachen Lande, im Umkreise der großen Städte.
Sie macheu sich keinen Begriff, was ich unter diesem mir ganz fremden Treiben
anfangs auszustehen gehabt habe. Ich verwünschte den Kopf, der aus der
ärztlichen Kunst zuerst ein Gewerbe gemacht hat, und dachte oft bei mir: wenn
doch die Deutschen in der Heimat öfter ihre Blicke nach dem Westen lenken
wollten, um hier ihre eigne Zukunft zu sehen! Denn die neue Welt zeigt die
Karrikatur der alten, wenn sich die alte überhaupt noch weiterentwickelt.

Nun, daran zweifeln Sie doch nicht, Kollege?

Der reiche Amerikaner, erwiderte er, schickt seine Kinder nach Europa,
um sie einen Blick in die abgelebte, wenn auch noch immer schwach lebens¬
fähige Vergangenheit thun zu lassen, ehe sie sich in den Strudel dieses sinn-
betüubenden Erfolghaschens hineinstürzen, ans dem sie vielleicht nie wieder
recht zu sich kommen. So abgethan ist in den Augen der reichen Ameri¬
kaner die alte Welt. Ju meinen Angen freilich noch nicht ganz so; der neue
geistige Antrieb kommt doch immer von drüben, hier wird er nur durch die
Technik ausgebeutet. Aber wenn man des Geschäfts halber so untertauchen muß
in den Strudel der ausbeuterischen Gesellschaft, dann schwindelt es einem oft, und
man fürchtet, das bischen Halt an dem herübergebrachten alten Idealismus zu
verlieren. Wenn Sie hören werden, wie es mir hier zuerst gegangen ist,
werden Sie das, was Ihnen jetzt vielleicht übertrieben scheint, begreiflich finden.


Grenzboten II 1893 N)
Bilder aus dein Ivesten

überliegenden Gebäude. Wie man aus den Fenstern sah, schien drüben ein
großer Zudrang von Publikum zu herrschen, während es in dieser Doktoren-
kciserne hier augenblicklich etwas stiller zuging.

Aber, sagen Sie mir, verehrter Herr Kollege, wie können Sie bei diesem
entsetzlichen Lärm auf der Straße Herz und Lunge behorchen? fragte ich, als
ich neben einem eben frisch gebrauchten Kehlkopfspiegel auf dem Schreibtisch des
Kollegen ein Hörrohr stehen sah.

Daran gewöhnt man sich wie der Müller ans Mühlrad, antwortete
Dr. Brand, indem er mir eine Cigarre bot, sich mir gegenüber in seinen
drehbaren Armstuhl niederließ und sich anschickte, mir noch weitere Auskunft
zu geben, denn sein volles Herz drängte ihn augenscheinlich dazu, sich einmal
zu einem deutschen Kollegen, der eben aus der alten Heimat kam, über die
wunderlichen, neu entstandnen Verhältnisse hier auszusprechen, in die er sich,
nach ein paar schwierigen Jahren, glücklich hineingefunden hatte.

Ja, die alte Welt, sagte ich, kommt einem hier in mancher Beziehung
recht überlebt vor; dabei deutete ich auf das Gewirr von Schildern mit
Anpreisungen, die man durchs Fenster sah.

O, was Sie da sehen, erwiderte er, ist noch lange nicht das schlimmste
von geschäftlicher Ausbeuterei im ärztlichen Stande. DaS widerlichste ist die
geheime Mache, das Agentenwesen, das Faktoren- und Kolportageweseu,
das Treiben der von den Ärzten und ärztlichen Firmen ausgeschickten
Geschäftsreisenden auf dem flachen Lande, im Umkreise der großen Städte.
Sie macheu sich keinen Begriff, was ich unter diesem mir ganz fremden Treiben
anfangs auszustehen gehabt habe. Ich verwünschte den Kopf, der aus der
ärztlichen Kunst zuerst ein Gewerbe gemacht hat, und dachte oft bei mir: wenn
doch die Deutschen in der Heimat öfter ihre Blicke nach dem Westen lenken
wollten, um hier ihre eigne Zukunft zu sehen! Denn die neue Welt zeigt die
Karrikatur der alten, wenn sich die alte überhaupt noch weiterentwickelt.

Nun, daran zweifeln Sie doch nicht, Kollege?

Der reiche Amerikaner, erwiderte er, schickt seine Kinder nach Europa,
um sie einen Blick in die abgelebte, wenn auch noch immer schwach lebens¬
fähige Vergangenheit thun zu lassen, ehe sie sich in den Strudel dieses sinn-
betüubenden Erfolghaschens hineinstürzen, ans dem sie vielleicht nie wieder
recht zu sich kommen. So abgethan ist in den Augen der reichen Ameri¬
kaner die alte Welt. Ju meinen Angen freilich noch nicht ganz so; der neue
geistige Antrieb kommt doch immer von drüben, hier wird er nur durch die
Technik ausgebeutet. Aber wenn man des Geschäfts halber so untertauchen muß
in den Strudel der ausbeuterischen Gesellschaft, dann schwindelt es einem oft, und
man fürchtet, das bischen Halt an dem herübergebrachten alten Idealismus zu
verlieren. Wenn Sie hören werden, wie es mir hier zuerst gegangen ist,
werden Sie das, was Ihnen jetzt vielleicht übertrieben scheint, begreiflich finden.


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[0314] Bilder aus dein Ivesten überliegenden Gebäude. Wie man aus den Fenstern sah, schien drüben ein großer Zudrang von Publikum zu herrschen, während es in dieser Doktoren- kciserne hier augenblicklich etwas stiller zuging. Aber, sagen Sie mir, verehrter Herr Kollege, wie können Sie bei diesem entsetzlichen Lärm auf der Straße Herz und Lunge behorchen? fragte ich, als ich neben einem eben frisch gebrauchten Kehlkopfspiegel auf dem Schreibtisch des Kollegen ein Hörrohr stehen sah. Daran gewöhnt man sich wie der Müller ans Mühlrad, antwortete Dr. Brand, indem er mir eine Cigarre bot, sich mir gegenüber in seinen drehbaren Armstuhl niederließ und sich anschickte, mir noch weitere Auskunft zu geben, denn sein volles Herz drängte ihn augenscheinlich dazu, sich einmal zu einem deutschen Kollegen, der eben aus der alten Heimat kam, über die wunderlichen, neu entstandnen Verhältnisse hier auszusprechen, in die er sich, nach ein paar schwierigen Jahren, glücklich hineingefunden hatte. Ja, die alte Welt, sagte ich, kommt einem hier in mancher Beziehung recht überlebt vor; dabei deutete ich auf das Gewirr von Schildern mit Anpreisungen, die man durchs Fenster sah. O, was Sie da sehen, erwiderte er, ist noch lange nicht das schlimmste von geschäftlicher Ausbeuterei im ärztlichen Stande. DaS widerlichste ist die geheime Mache, das Agentenwesen, das Faktoren- und Kolportageweseu, das Treiben der von den Ärzten und ärztlichen Firmen ausgeschickten Geschäftsreisenden auf dem flachen Lande, im Umkreise der großen Städte. Sie macheu sich keinen Begriff, was ich unter diesem mir ganz fremden Treiben anfangs auszustehen gehabt habe. Ich verwünschte den Kopf, der aus der ärztlichen Kunst zuerst ein Gewerbe gemacht hat, und dachte oft bei mir: wenn doch die Deutschen in der Heimat öfter ihre Blicke nach dem Westen lenken wollten, um hier ihre eigne Zukunft zu sehen! Denn die neue Welt zeigt die Karrikatur der alten, wenn sich die alte überhaupt noch weiterentwickelt. Nun, daran zweifeln Sie doch nicht, Kollege? Der reiche Amerikaner, erwiderte er, schickt seine Kinder nach Europa, um sie einen Blick in die abgelebte, wenn auch noch immer schwach lebens¬ fähige Vergangenheit thun zu lassen, ehe sie sich in den Strudel dieses sinn- betüubenden Erfolghaschens hineinstürzen, ans dem sie vielleicht nie wieder recht zu sich kommen. So abgethan ist in den Augen der reichen Ameri¬ kaner die alte Welt. Ju meinen Angen freilich noch nicht ganz so; der neue geistige Antrieb kommt doch immer von drüben, hier wird er nur durch die Technik ausgebeutet. Aber wenn man des Geschäfts halber so untertauchen muß in den Strudel der ausbeuterischen Gesellschaft, dann schwindelt es einem oft, und man fürchtet, das bischen Halt an dem herübergebrachten alten Idealismus zu verlieren. Wenn Sie hören werden, wie es mir hier zuerst gegangen ist, werden Sie das, was Ihnen jetzt vielleicht übertrieben scheint, begreiflich finden. Grenzboten II 1893 N)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/314>, abgerufen am 03.07.2024.