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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Innere Kolonisation

der größern Bauerngüter (20 bis 10V Hektar)," so übersieht er, daß zwischen
Schlesien und den übrigen östlichen Provinzen ein ähnlicher Unterschied besteht
wie zwischen dem Westen und dem Osten der Monarchie. Bauerngüter von
gegen 100 Hektar oder 400 Morgen sind in den bessern Strichen der Pro¬
vinz aus dem einfachen Grunde selten, weil 400 Morgen schon als herrschaft¬
licher Besitz gelten. Schon auf Gütern von 250 Morgen Pflegt der Besitzer
nicht mehr selbst zu arbeiten. Ein Bauer von 200 Morgen, der als Bauer
lebt, wird reich; er tauscht nicht mit einem Rittergutsbesitzer im Regierungs¬
bezirk Frankfurt, der 1000 Morgen sein nennt, wovon 200 Morgen Fischteich
und 300 Morgen Kiefernheide sind, und wo, wie man dort zu scherzen Pflegt,
bei trocknem Wetter der Wind die Aussaat samt dein Boden entführt. Den
brandenburgischen, posischen oder gar ostpreußischen Gütern von 20 bis
100 Hektar werden in Schlesien etwa die von 10 bis 50 Hektar entsprechen.

Sering untersucht nnn weiter den Einfluß der Gesetzgebung auf die länd¬
liche Besitzverteilung und findet, daß die Parzellirungsfreiheit gerade den eigent¬
lichen Bauernstand geschädigt habe. Kleine Besitzungen sind allerdings in großer
Zahl entstanden, aber weit weniger ans Kosten des herrschaftlichen als des
bäuerlichen Besitzes. Die Grundsätze des freien Bodenverkehrs, schreibt er,
sind in Preußen "nicht zu einer ganz ehrlichen Probe gelangt. Der Gesetz¬
geber machte vor zwei Mächten Halt: vor der alteingewurzelten des Lehu-
und Fideikommißbesitzes und der neuen Nobilität der Kapitalisten -- den Gläu¬
bigern der Landwirte. Ein von dem trefflichen Scharnweber, einem der
Schöpfer der "Stein-Hardenbergischen" Agrargesetzgebung ausgearbeiteter Ent¬
wurf eines Parzellirnngsgesetzes, das "den Abbau und die Zerstücklung der
Landgüter" unter Befreiung der Parzellen vom Schuldnexus des Hauptgutes
gegen den Widerspruch der Gläubiger und Fideikommißanwärter ermöglichen
sollte, blieb, obwohl von den Landesrepräsentanten im Jahre 1812 einstimmig
angenommen, in den ministeriellen Verhandlungen stecken." Die Zahl der
Fideikommisse in den alten Provinzen der Monarchie beträgt 547; sie um¬
fassen 1975 "Besitzungen" jsoll dieses Wort Rittergüter oder Herrschaften be¬
zeichnen?^ mit einer Gesamtfläche von 1408860 Hektaren, d.i. 6,21 Prozent
des Kulturbodens. Bedenklicher als ihr Umfang an sich ist die in deu letzten
Jahrzehnten hervvrgetretne Neigung, sie zu vermehren. Aus dem vorigen
Jahrhundert waren 153 übernommen worden; neugestiftet wurden in den Jahren
1800 bis 1850: 72, 1851 bis 1870: 103, 1871 bis 1888: 219. "Das
Grundeigentum des Staats und der Krone, der Korporationen, Stiftungen,
der Lehn- und Fideikommißgüter zusammengenommen umfaßte 1866/67 von
allen ertragsfähigen Liegenschaften der Provinz Preußen 20,21 Prozent, Branden¬
burg 28,46, Pommern 32,24, Posen 11,53, Schlesien 21,81, Westfalen 16,63,
Rheinland 27,16 Prozent. Aber die Bedeutung der Fideikommisse und der
öffentlichen Ländereien aller Art für die Festlegung des Bodenbesitzes erscheint


Innere Kolonisation

der größern Bauerngüter (20 bis 10V Hektar)," so übersieht er, daß zwischen
Schlesien und den übrigen östlichen Provinzen ein ähnlicher Unterschied besteht
wie zwischen dem Westen und dem Osten der Monarchie. Bauerngüter von
gegen 100 Hektar oder 400 Morgen sind in den bessern Strichen der Pro¬
vinz aus dem einfachen Grunde selten, weil 400 Morgen schon als herrschaft¬
licher Besitz gelten. Schon auf Gütern von 250 Morgen Pflegt der Besitzer
nicht mehr selbst zu arbeiten. Ein Bauer von 200 Morgen, der als Bauer
lebt, wird reich; er tauscht nicht mit einem Rittergutsbesitzer im Regierungs¬
bezirk Frankfurt, der 1000 Morgen sein nennt, wovon 200 Morgen Fischteich
und 300 Morgen Kiefernheide sind, und wo, wie man dort zu scherzen Pflegt,
bei trocknem Wetter der Wind die Aussaat samt dein Boden entführt. Den
brandenburgischen, posischen oder gar ostpreußischen Gütern von 20 bis
100 Hektar werden in Schlesien etwa die von 10 bis 50 Hektar entsprechen.

Sering untersucht nnn weiter den Einfluß der Gesetzgebung auf die länd¬
liche Besitzverteilung und findet, daß die Parzellirungsfreiheit gerade den eigent¬
lichen Bauernstand geschädigt habe. Kleine Besitzungen sind allerdings in großer
Zahl entstanden, aber weit weniger ans Kosten des herrschaftlichen als des
bäuerlichen Besitzes. Die Grundsätze des freien Bodenverkehrs, schreibt er,
sind in Preußen „nicht zu einer ganz ehrlichen Probe gelangt. Der Gesetz¬
geber machte vor zwei Mächten Halt: vor der alteingewurzelten des Lehu-
und Fideikommißbesitzes und der neuen Nobilität der Kapitalisten — den Gläu¬
bigern der Landwirte. Ein von dem trefflichen Scharnweber, einem der
Schöpfer der »Stein-Hardenbergischen« Agrargesetzgebung ausgearbeiteter Ent¬
wurf eines Parzellirnngsgesetzes, das »den Abbau und die Zerstücklung der
Landgüter« unter Befreiung der Parzellen vom Schuldnexus des Hauptgutes
gegen den Widerspruch der Gläubiger und Fideikommißanwärter ermöglichen
sollte, blieb, obwohl von den Landesrepräsentanten im Jahre 1812 einstimmig
angenommen, in den ministeriellen Verhandlungen stecken." Die Zahl der
Fideikommisse in den alten Provinzen der Monarchie beträgt 547; sie um¬
fassen 1975 „Besitzungen" jsoll dieses Wort Rittergüter oder Herrschaften be¬
zeichnen?^ mit einer Gesamtfläche von 1408860 Hektaren, d.i. 6,21 Prozent
des Kulturbodens. Bedenklicher als ihr Umfang an sich ist die in deu letzten
Jahrzehnten hervvrgetretne Neigung, sie zu vermehren. Aus dem vorigen
Jahrhundert waren 153 übernommen worden; neugestiftet wurden in den Jahren
1800 bis 1850: 72, 1851 bis 1870: 103, 1871 bis 1888: 219. „Das
Grundeigentum des Staats und der Krone, der Korporationen, Stiftungen,
der Lehn- und Fideikommißgüter zusammengenommen umfaßte 1866/67 von
allen ertragsfähigen Liegenschaften der Provinz Preußen 20,21 Prozent, Branden¬
burg 28,46, Pommern 32,24, Posen 11,53, Schlesien 21,81, Westfalen 16,63,
Rheinland 27,16 Prozent. Aber die Bedeutung der Fideikommisse und der
öffentlichen Ländereien aller Art für die Festlegung des Bodenbesitzes erscheint


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[0257] Innere Kolonisation der größern Bauerngüter (20 bis 10V Hektar)," so übersieht er, daß zwischen Schlesien und den übrigen östlichen Provinzen ein ähnlicher Unterschied besteht wie zwischen dem Westen und dem Osten der Monarchie. Bauerngüter von gegen 100 Hektar oder 400 Morgen sind in den bessern Strichen der Pro¬ vinz aus dem einfachen Grunde selten, weil 400 Morgen schon als herrschaft¬ licher Besitz gelten. Schon auf Gütern von 250 Morgen Pflegt der Besitzer nicht mehr selbst zu arbeiten. Ein Bauer von 200 Morgen, der als Bauer lebt, wird reich; er tauscht nicht mit einem Rittergutsbesitzer im Regierungs¬ bezirk Frankfurt, der 1000 Morgen sein nennt, wovon 200 Morgen Fischteich und 300 Morgen Kiefernheide sind, und wo, wie man dort zu scherzen Pflegt, bei trocknem Wetter der Wind die Aussaat samt dein Boden entführt. Den brandenburgischen, posischen oder gar ostpreußischen Gütern von 20 bis 100 Hektar werden in Schlesien etwa die von 10 bis 50 Hektar entsprechen. Sering untersucht nnn weiter den Einfluß der Gesetzgebung auf die länd¬ liche Besitzverteilung und findet, daß die Parzellirungsfreiheit gerade den eigent¬ lichen Bauernstand geschädigt habe. Kleine Besitzungen sind allerdings in großer Zahl entstanden, aber weit weniger ans Kosten des herrschaftlichen als des bäuerlichen Besitzes. Die Grundsätze des freien Bodenverkehrs, schreibt er, sind in Preußen „nicht zu einer ganz ehrlichen Probe gelangt. Der Gesetz¬ geber machte vor zwei Mächten Halt: vor der alteingewurzelten des Lehu- und Fideikommißbesitzes und der neuen Nobilität der Kapitalisten — den Gläu¬ bigern der Landwirte. Ein von dem trefflichen Scharnweber, einem der Schöpfer der »Stein-Hardenbergischen« Agrargesetzgebung ausgearbeiteter Ent¬ wurf eines Parzellirnngsgesetzes, das »den Abbau und die Zerstücklung der Landgüter« unter Befreiung der Parzellen vom Schuldnexus des Hauptgutes gegen den Widerspruch der Gläubiger und Fideikommißanwärter ermöglichen sollte, blieb, obwohl von den Landesrepräsentanten im Jahre 1812 einstimmig angenommen, in den ministeriellen Verhandlungen stecken." Die Zahl der Fideikommisse in den alten Provinzen der Monarchie beträgt 547; sie um¬ fassen 1975 „Besitzungen" jsoll dieses Wort Rittergüter oder Herrschaften be¬ zeichnen?^ mit einer Gesamtfläche von 1408860 Hektaren, d.i. 6,21 Prozent des Kulturbodens. Bedenklicher als ihr Umfang an sich ist die in deu letzten Jahrzehnten hervvrgetretne Neigung, sie zu vermehren. Aus dem vorigen Jahrhundert waren 153 übernommen worden; neugestiftet wurden in den Jahren 1800 bis 1850: 72, 1851 bis 1870: 103, 1871 bis 1888: 219. „Das Grundeigentum des Staats und der Krone, der Korporationen, Stiftungen, der Lehn- und Fideikommißgüter zusammengenommen umfaßte 1866/67 von allen ertragsfähigen Liegenschaften der Provinz Preußen 20,21 Prozent, Branden¬ burg 28,46, Pommern 32,24, Posen 11,53, Schlesien 21,81, Westfalen 16,63, Rheinland 27,16 Prozent. Aber die Bedeutung der Fideikommisse und der öffentlichen Ländereien aller Art für die Festlegung des Bodenbesitzes erscheint

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/257>, abgerufen am 23.07.2024.