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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Hebbels Briefwechsel

genauere Kenntnis der wechselnden Stimmungen des Dichters in verschiednen
entscheidenden Lebensabschnitten, sür die Vervollständigung von Hebbels An¬
schauungen und Urteilen, für ein gutes Stück Geschichte der neuesten deutschen
Litteratur, vor und hinter den Kulissen, können die beiden 460 und 614 Gro߬
oktavseiten umfassenden Bünde wohl unschätzbar genannt werden, und ihr Ver¬
dienst ist damit noch längst nicht erschöpft. Denn während die Tagebücher
Emil Kuh für seine große biographische Arbeit vollständig vorgelegen haben,
hat er die Briefe Hebbels, die Vamberg jetzt mit annähernder Vollstän¬
digkeit veröffentlicht, etwa nur zur Hälfte gekannt und nur für die beiden
ersten Drittel seines Werkes ausgiebiger benutzt.

Bei dem reichen Gedankengehalt und dem persönlichen Gewicht fast aller
Briefe Hebbels ist die wörtliche Mitteilung aller, über die der Herausgeber
verfügen konnte, und die mühevolle Zusammenbringung dieser geistvollen und
lebensprühenden Briefe im höchsten Maße dankenswert. Anders steht es mit
der Aufnahme der Antworten, der Briefe an Hebbel. Der Abdruck auch dieser
hängt mit den gegenwärtig alle historischen Wissenschaften beherrschenden Nei¬
gungen zusammen. Die Überschätzung des vollständigen Materials, die unsre
Bibliotheken mit taufenden von Bünden überlastet, in die nach dem Buch¬
binder, der sie bindet, nie wieder ein Mensch auch nur einen Blick thut, hat
den Mut gebrochen, wertloses vom wertvollen zu unterscheiden und das erste
völlig ungedruckt zu lassen. Ganz so schlimm, wie bei dem wortgetreuen Ab¬
druck der unwichtigsten, sich in endlosen Windungen ergehenden diplomatischen
Aktenstücke, steht es natürlich bei Hebbels Briefwechsel nicht, mehr als eine
Gruppe von Briefen, von denen Uhlands und Tiecks bis zu denen Dingel-
stedts, möchten wir nicht entbehren und eine kleine Zahl Leser werden viel¬
leicht auch die überzähligen Briefe so vieler jungen Freunde und Verehrer des
Dichters flüchtig durchblättern, da sie einmal mit abgedruckt sind. Aber die Voll¬
ständigkeit ist hier vollkommen überflüssig. Im zweiten Bande des Werkes steht
z- B. ein Dutzend Briefe Hebbels an mich abgedruckt, die sicher nicht fehlen durften,
und dabei ein andres Dutzend meiner vertraulichen und jugendlichen Mittei¬
lungen an den Dichter ans den Jahren 1858 bis 1863. Nun ist ja nichts
in diesen Briefen, dessen ich mich nach dreißig Jahren zu schämen hätte, und
da ich kein Snob bin, kann es mir auch gleichgiltig sein, wenn die Leute
wissen, wie unfertig und mannigfach ratlos ich vor dreißig Jahren war. Aber
mit drei oder vier zehuzeiligeu Notizen wäre leicht alles abzuthun gewesen,
was zum Verstüudnis der Briefe Hebbels an mich nötig war, alles andre ist
überflüssiger Papierverbranch. Und ich denke nicht unrichtig zu urteilen, daß
die Briefe von zwanzig und mehr Korrespondenten Hebbels ungefähr dieselbe
Bedeutung für das Publikum und die Litteratur haben werden als meine eignen.
Es herrschen eben so alexandrinische und byzantinische Zustünde in dem Be¬
reich unsrer Litteratur, daß man anfangen muß. die znfülligc wie die absicht-


Friedrich Hebbels Briefwechsel

genauere Kenntnis der wechselnden Stimmungen des Dichters in verschiednen
entscheidenden Lebensabschnitten, sür die Vervollständigung von Hebbels An¬
schauungen und Urteilen, für ein gutes Stück Geschichte der neuesten deutschen
Litteratur, vor und hinter den Kulissen, können die beiden 460 und 614 Gro߬
oktavseiten umfassenden Bünde wohl unschätzbar genannt werden, und ihr Ver¬
dienst ist damit noch längst nicht erschöpft. Denn während die Tagebücher
Emil Kuh für seine große biographische Arbeit vollständig vorgelegen haben,
hat er die Briefe Hebbels, die Vamberg jetzt mit annähernder Vollstän¬
digkeit veröffentlicht, etwa nur zur Hälfte gekannt und nur für die beiden
ersten Drittel seines Werkes ausgiebiger benutzt.

Bei dem reichen Gedankengehalt und dem persönlichen Gewicht fast aller
Briefe Hebbels ist die wörtliche Mitteilung aller, über die der Herausgeber
verfügen konnte, und die mühevolle Zusammenbringung dieser geistvollen und
lebensprühenden Briefe im höchsten Maße dankenswert. Anders steht es mit
der Aufnahme der Antworten, der Briefe an Hebbel. Der Abdruck auch dieser
hängt mit den gegenwärtig alle historischen Wissenschaften beherrschenden Nei¬
gungen zusammen. Die Überschätzung des vollständigen Materials, die unsre
Bibliotheken mit taufenden von Bünden überlastet, in die nach dem Buch¬
binder, der sie bindet, nie wieder ein Mensch auch nur einen Blick thut, hat
den Mut gebrochen, wertloses vom wertvollen zu unterscheiden und das erste
völlig ungedruckt zu lassen. Ganz so schlimm, wie bei dem wortgetreuen Ab¬
druck der unwichtigsten, sich in endlosen Windungen ergehenden diplomatischen
Aktenstücke, steht es natürlich bei Hebbels Briefwechsel nicht, mehr als eine
Gruppe von Briefen, von denen Uhlands und Tiecks bis zu denen Dingel-
stedts, möchten wir nicht entbehren und eine kleine Zahl Leser werden viel¬
leicht auch die überzähligen Briefe so vieler jungen Freunde und Verehrer des
Dichters flüchtig durchblättern, da sie einmal mit abgedruckt sind. Aber die Voll¬
ständigkeit ist hier vollkommen überflüssig. Im zweiten Bande des Werkes steht
z- B. ein Dutzend Briefe Hebbels an mich abgedruckt, die sicher nicht fehlen durften,
und dabei ein andres Dutzend meiner vertraulichen und jugendlichen Mittei¬
lungen an den Dichter ans den Jahren 1858 bis 1863. Nun ist ja nichts
in diesen Briefen, dessen ich mich nach dreißig Jahren zu schämen hätte, und
da ich kein Snob bin, kann es mir auch gleichgiltig sein, wenn die Leute
wissen, wie unfertig und mannigfach ratlos ich vor dreißig Jahren war. Aber
mit drei oder vier zehuzeiligeu Notizen wäre leicht alles abzuthun gewesen,
was zum Verstüudnis der Briefe Hebbels an mich nötig war, alles andre ist
überflüssiger Papierverbranch. Und ich denke nicht unrichtig zu urteilen, daß
die Briefe von zwanzig und mehr Korrespondenten Hebbels ungefähr dieselbe
Bedeutung für das Publikum und die Litteratur haben werden als meine eignen.
Es herrschen eben so alexandrinische und byzantinische Zustünde in dem Be¬
reich unsrer Litteratur, daß man anfangen muß. die znfülligc wie die absicht-


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[0222] Friedrich Hebbels Briefwechsel genauere Kenntnis der wechselnden Stimmungen des Dichters in verschiednen entscheidenden Lebensabschnitten, sür die Vervollständigung von Hebbels An¬ schauungen und Urteilen, für ein gutes Stück Geschichte der neuesten deutschen Litteratur, vor und hinter den Kulissen, können die beiden 460 und 614 Gro߬ oktavseiten umfassenden Bünde wohl unschätzbar genannt werden, und ihr Ver¬ dienst ist damit noch längst nicht erschöpft. Denn während die Tagebücher Emil Kuh für seine große biographische Arbeit vollständig vorgelegen haben, hat er die Briefe Hebbels, die Vamberg jetzt mit annähernder Vollstän¬ digkeit veröffentlicht, etwa nur zur Hälfte gekannt und nur für die beiden ersten Drittel seines Werkes ausgiebiger benutzt. Bei dem reichen Gedankengehalt und dem persönlichen Gewicht fast aller Briefe Hebbels ist die wörtliche Mitteilung aller, über die der Herausgeber verfügen konnte, und die mühevolle Zusammenbringung dieser geistvollen und lebensprühenden Briefe im höchsten Maße dankenswert. Anders steht es mit der Aufnahme der Antworten, der Briefe an Hebbel. Der Abdruck auch dieser hängt mit den gegenwärtig alle historischen Wissenschaften beherrschenden Nei¬ gungen zusammen. Die Überschätzung des vollständigen Materials, die unsre Bibliotheken mit taufenden von Bünden überlastet, in die nach dem Buch¬ binder, der sie bindet, nie wieder ein Mensch auch nur einen Blick thut, hat den Mut gebrochen, wertloses vom wertvollen zu unterscheiden und das erste völlig ungedruckt zu lassen. Ganz so schlimm, wie bei dem wortgetreuen Ab¬ druck der unwichtigsten, sich in endlosen Windungen ergehenden diplomatischen Aktenstücke, steht es natürlich bei Hebbels Briefwechsel nicht, mehr als eine Gruppe von Briefen, von denen Uhlands und Tiecks bis zu denen Dingel- stedts, möchten wir nicht entbehren und eine kleine Zahl Leser werden viel¬ leicht auch die überzähligen Briefe so vieler jungen Freunde und Verehrer des Dichters flüchtig durchblättern, da sie einmal mit abgedruckt sind. Aber die Voll¬ ständigkeit ist hier vollkommen überflüssig. Im zweiten Bande des Werkes steht z- B. ein Dutzend Briefe Hebbels an mich abgedruckt, die sicher nicht fehlen durften, und dabei ein andres Dutzend meiner vertraulichen und jugendlichen Mittei¬ lungen an den Dichter ans den Jahren 1858 bis 1863. Nun ist ja nichts in diesen Briefen, dessen ich mich nach dreißig Jahren zu schämen hätte, und da ich kein Snob bin, kann es mir auch gleichgiltig sein, wenn die Leute wissen, wie unfertig und mannigfach ratlos ich vor dreißig Jahren war. Aber mit drei oder vier zehuzeiligeu Notizen wäre leicht alles abzuthun gewesen, was zum Verstüudnis der Briefe Hebbels an mich nötig war, alles andre ist überflüssiger Papierverbranch. Und ich denke nicht unrichtig zu urteilen, daß die Briefe von zwanzig und mehr Korrespondenten Hebbels ungefähr dieselbe Bedeutung für das Publikum und die Litteratur haben werden als meine eignen. Es herrschen eben so alexandrinische und byzantinische Zustünde in dem Be¬ reich unsrer Litteratur, daß man anfangen muß. die znfülligc wie die absicht-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/222>, abgerufen am 23.07.2024.