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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Hebbels Briefwechsel

die dramatischen Dichtungen des großen Ditmarsen nach wie vor nur ver¬
einzelt auf unsern Bühnen erscheinen, daß sich die Theaterpraxis darauf ein¬
gerichtet hat, ans der ganzen Reihe dieser Schöpfungen nur etwa "Judith,"
"Maria Magdalena" und die "Nibelungen" als bühnenfähig gelten zu lassen,
daß heute wie vor dreißig Jahren Anthologien zusammengestellt werden, die
von Hebbels unvergänglichsten Gedichten keine Notiz nehmen, und daß es immer
noch tausende von gebildeten Nachkommen jener österreichischen Excellenz giebt,
die unsern Dichter auf einem Balle zu seinen Erzählungen des rheinländischen
Hausfreundes beglückwünschte. Aber mit alledem geschieht nur, was von der
Besonderheit seines dunkeln Genius und dem herben Grund der Hebbelschcn
Lebensanschauung unzertrennlich ist; Hebbels Poesie wird nur unter Kämpfen,
nur allmählich den Teilnehmerkreis, den sie zunächst zu gewinnen vermag, er¬
füllen, noch langsamer diesen Kreis erweitern. Immerhin ist eine zweite Aus¬
gabe der sämtlichen Werke des Dichters nötig geworden, und die durch die
unablässigen und aufopfernden Bemühungen Felix Bambergs ermöglichte
und vollendete Herausgabe der Tagebücher (Berlin, 1885 bis 1887) und des
Briefwechsels^) Friedrich Hebbels hat die Gestalt, die Eigentümlichkeit und
die menschlichen Schicksale des Dichters einer kleinen Gemeinde von Litteratur¬
freunden noch in ganz andrer Weise nahegebracht, als seiner Zeit die von Emil
Kuh verfaßte Biographie.

Wenn einzelne Leser und Beurteiler zu dem Ausspruch gekommen sind,
daß durch die Veröffentlichung der Tagebücher und des Briefwechsels das
Leben, die Persönlichkeit und Entwicklung Hebbels nicht nur in ein andres
und deutlicheres Licht gerückt worden seien, als im Küsschen Lebensbild, daß
Tagebücher und Briefe nicht nur eine Reihe neuer Thatsachen und Urteils-
grundlagen ergäben, sondern geradezu eine neue Darstellung dieses bedeutsamen
Dichterlebens mit grundverschieduer Würdigung der äußern Vorgänge wie der
geistigen Erlebnisse herausforderte", so muß man dagegen Einspruch erheben.
Wer vorurteilslos die Biographie Kuss (die auch Bamberg als ein "monu¬
mentales Werk" anerkennt) mit den inhaltvollen Veröffentlichungen vergleicht,
die seit dem Erscheinen jenes Buches erfolgt find, der wird zwar den Reich¬
tum neuer Einzelheiten nicht für unwichtig erachten, den die Tagebücher und
noch mehr der Briefwechsel erschlossen haben, wird noch stärker als vorher
empfinden, daß Kuss Lebensbild allzulange bei dem Unheil von Hebbels
Jugendschicksalen verweilt, allzu ausführlich den materiellen Jammer seiner
Lehr- und Wanderjahre geschildert und die letzten glücklichern Jahre des
Dichters allzu knapp behandelt hat, aber deshalb die Vedeutuug der Bio¬
graphie nicht unterschätzen. Für die Berichtigung von Einzelheiten, für eine



"1 Friedrich Hebbels Briefwechsel mit Freunden und berühmten Zeit¬
genossen. Mit einem Vorwort herausgegeben von Felix Bamberg. Zwei Bände. Berlin,
G. Grotesche Berlagsbuchhnndlttng, 1890 bis 1893.
Friedrich Hebbels Briefwechsel

die dramatischen Dichtungen des großen Ditmarsen nach wie vor nur ver¬
einzelt auf unsern Bühnen erscheinen, daß sich die Theaterpraxis darauf ein¬
gerichtet hat, ans der ganzen Reihe dieser Schöpfungen nur etwa „Judith,"
„Maria Magdalena" und die „Nibelungen" als bühnenfähig gelten zu lassen,
daß heute wie vor dreißig Jahren Anthologien zusammengestellt werden, die
von Hebbels unvergänglichsten Gedichten keine Notiz nehmen, und daß es immer
noch tausende von gebildeten Nachkommen jener österreichischen Excellenz giebt,
die unsern Dichter auf einem Balle zu seinen Erzählungen des rheinländischen
Hausfreundes beglückwünschte. Aber mit alledem geschieht nur, was von der
Besonderheit seines dunkeln Genius und dem herben Grund der Hebbelschcn
Lebensanschauung unzertrennlich ist; Hebbels Poesie wird nur unter Kämpfen,
nur allmählich den Teilnehmerkreis, den sie zunächst zu gewinnen vermag, er¬
füllen, noch langsamer diesen Kreis erweitern. Immerhin ist eine zweite Aus¬
gabe der sämtlichen Werke des Dichters nötig geworden, und die durch die
unablässigen und aufopfernden Bemühungen Felix Bambergs ermöglichte
und vollendete Herausgabe der Tagebücher (Berlin, 1885 bis 1887) und des
Briefwechsels^) Friedrich Hebbels hat die Gestalt, die Eigentümlichkeit und
die menschlichen Schicksale des Dichters einer kleinen Gemeinde von Litteratur¬
freunden noch in ganz andrer Weise nahegebracht, als seiner Zeit die von Emil
Kuh verfaßte Biographie.

Wenn einzelne Leser und Beurteiler zu dem Ausspruch gekommen sind,
daß durch die Veröffentlichung der Tagebücher und des Briefwechsels das
Leben, die Persönlichkeit und Entwicklung Hebbels nicht nur in ein andres
und deutlicheres Licht gerückt worden seien, als im Küsschen Lebensbild, daß
Tagebücher und Briefe nicht nur eine Reihe neuer Thatsachen und Urteils-
grundlagen ergäben, sondern geradezu eine neue Darstellung dieses bedeutsamen
Dichterlebens mit grundverschieduer Würdigung der äußern Vorgänge wie der
geistigen Erlebnisse herausforderte«, so muß man dagegen Einspruch erheben.
Wer vorurteilslos die Biographie Kuss (die auch Bamberg als ein „monu¬
mentales Werk" anerkennt) mit den inhaltvollen Veröffentlichungen vergleicht,
die seit dem Erscheinen jenes Buches erfolgt find, der wird zwar den Reich¬
tum neuer Einzelheiten nicht für unwichtig erachten, den die Tagebücher und
noch mehr der Briefwechsel erschlossen haben, wird noch stärker als vorher
empfinden, daß Kuss Lebensbild allzulange bei dem Unheil von Hebbels
Jugendschicksalen verweilt, allzu ausführlich den materiellen Jammer seiner
Lehr- und Wanderjahre geschildert und die letzten glücklichern Jahre des
Dichters allzu knapp behandelt hat, aber deshalb die Vedeutuug der Bio¬
graphie nicht unterschätzen. Für die Berichtigung von Einzelheiten, für eine



"1 Friedrich Hebbels Briefwechsel mit Freunden und berühmten Zeit¬
genossen. Mit einem Vorwort herausgegeben von Felix Bamberg. Zwei Bände. Berlin,
G. Grotesche Berlagsbuchhnndlttng, 1890 bis 1893.
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[0221] Friedrich Hebbels Briefwechsel die dramatischen Dichtungen des großen Ditmarsen nach wie vor nur ver¬ einzelt auf unsern Bühnen erscheinen, daß sich die Theaterpraxis darauf ein¬ gerichtet hat, ans der ganzen Reihe dieser Schöpfungen nur etwa „Judith," „Maria Magdalena" und die „Nibelungen" als bühnenfähig gelten zu lassen, daß heute wie vor dreißig Jahren Anthologien zusammengestellt werden, die von Hebbels unvergänglichsten Gedichten keine Notiz nehmen, und daß es immer noch tausende von gebildeten Nachkommen jener österreichischen Excellenz giebt, die unsern Dichter auf einem Balle zu seinen Erzählungen des rheinländischen Hausfreundes beglückwünschte. Aber mit alledem geschieht nur, was von der Besonderheit seines dunkeln Genius und dem herben Grund der Hebbelschcn Lebensanschauung unzertrennlich ist; Hebbels Poesie wird nur unter Kämpfen, nur allmählich den Teilnehmerkreis, den sie zunächst zu gewinnen vermag, er¬ füllen, noch langsamer diesen Kreis erweitern. Immerhin ist eine zweite Aus¬ gabe der sämtlichen Werke des Dichters nötig geworden, und die durch die unablässigen und aufopfernden Bemühungen Felix Bambergs ermöglichte und vollendete Herausgabe der Tagebücher (Berlin, 1885 bis 1887) und des Briefwechsels^) Friedrich Hebbels hat die Gestalt, die Eigentümlichkeit und die menschlichen Schicksale des Dichters einer kleinen Gemeinde von Litteratur¬ freunden noch in ganz andrer Weise nahegebracht, als seiner Zeit die von Emil Kuh verfaßte Biographie. Wenn einzelne Leser und Beurteiler zu dem Ausspruch gekommen sind, daß durch die Veröffentlichung der Tagebücher und des Briefwechsels das Leben, die Persönlichkeit und Entwicklung Hebbels nicht nur in ein andres und deutlicheres Licht gerückt worden seien, als im Küsschen Lebensbild, daß Tagebücher und Briefe nicht nur eine Reihe neuer Thatsachen und Urteils- grundlagen ergäben, sondern geradezu eine neue Darstellung dieses bedeutsamen Dichterlebens mit grundverschieduer Würdigung der äußern Vorgänge wie der geistigen Erlebnisse herausforderte«, so muß man dagegen Einspruch erheben. Wer vorurteilslos die Biographie Kuss (die auch Bamberg als ein „monu¬ mentales Werk" anerkennt) mit den inhaltvollen Veröffentlichungen vergleicht, die seit dem Erscheinen jenes Buches erfolgt find, der wird zwar den Reich¬ tum neuer Einzelheiten nicht für unwichtig erachten, den die Tagebücher und noch mehr der Briefwechsel erschlossen haben, wird noch stärker als vorher empfinden, daß Kuss Lebensbild allzulange bei dem Unheil von Hebbels Jugendschicksalen verweilt, allzu ausführlich den materiellen Jammer seiner Lehr- und Wanderjahre geschildert und die letzten glücklichern Jahre des Dichters allzu knapp behandelt hat, aber deshalb die Vedeutuug der Bio¬ graphie nicht unterschätzen. Für die Berichtigung von Einzelheiten, für eine "1 Friedrich Hebbels Briefwechsel mit Freunden und berühmten Zeit¬ genossen. Mit einem Vorwort herausgegeben von Felix Bamberg. Zwei Bände. Berlin, G. Grotesche Berlagsbuchhnndlttng, 1890 bis 1893.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/221>, abgerufen am 23.07.2024.