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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Der naturwissenschaftliche Unterricht auf unsern höhern Schulen

mit fremden Sprachformen voll, die ihnen böhmische Dörfer sind; oder glaubt
man etwa, daß ein Sextaner je begreift, wie das eine Wort ktirmvi die drei
Worte "ich habe geliebt" richtig wiedergeben kann? Auswendig lernt ers,
aber begreifen? Wie kann ers überhaupt begreifen, so lange er nichts von
historischer Grammatik weiß? In den Mittelklassen läßt man dann die Schüler
Pflanzen zerlegen und Tiere beschreiben und giebt ihnen in der Untersekunda
nebenbei eine Ahnung von der modernen Entwicklungslehre. Der "Effekt" ist
der, daß sie in der Botanik auf ihren Pulten ein greuliches Gemüse zurichten
und sich hinter dem Rücken des Lehrers die Pflanzenstengel um die Ohren
schlagen. Als Folge ihrer zoologischen Studien aber verblüffen sie ihren Papa
mit der fabelhaften Behauptung, daß er geradeswegs vom Affen abstamme,
und nennen das "Darwinsche Theorie." Auf den obern Klaffen endlich, wo
mikroskopische Arbeiten, wo die Fragen nach der Entwicklung organischen Lebens,
nach der Entwicklung des Menschengeschlechts die Schüler ganz gewaltig in-
teressiren würden, setzt man ihnen das unverdauliche Gericht von der Mole¬
kulartheorie vor. Und in dem hochnotpeinlichen Verhör, Abiturientenexamen
genannt, das die schöne Geistesdreffur abschließt, überzeugt sich dann der Schul¬
rat, daß von alledem ein befriedigendes Quantum hängen geblieben ist, und
die Schulverwaltung kann sich mit dem erhebenden Bewußtsein aufs Ohr legen,
die ihr zur Bildung anvertraute Jugend mit einen: kvndensirten Extrakt von
allem, was heute wissenswert ist, ausgerüstet zu haben. Die also ausgerüsteten
aber werfen ihrerseits, von allem Wissensqualm entladen, den ganzen Ballast
so rasch als möglich wieder ab und verlegen sich, ohne sich um das ideale
Ziel, das ihnen der Direktor in seiner Entlassungsrede vorgehalten hat,
sonderlich zu kümmern, die einen auf rationelles Geldverdienen im Kaufmanns-
stande, die andern auf rationelles Geldverthnn auf der Universität. Das klingt
bitter, nicht wahr? Nun, wer die ganze Geistesknechtschaft in den Examen-
drillaustalten, genannt höhere Schule und Universität, nicht durchgemacht hat,
der mag milder urteilen.

So lange nicht auf den höhern Schulen der Schwerpunkt des natur¬
wissenschaftlichen Unterrichts in die Biologie verlegt wird -- Biologie im
weitesten Sinne gefaßt, als Lehre vom organischen Leben --, fo lange ist die
Forderung einer "neusprachlich-naturwissenschaftlichen Grundlage" für unsre
Schulbildung blauer Dunst. Wie kann man so verschiedne Dinge wie Sprach¬
wissenschaft und Naturwissenschaft zu einer Grundlage vereinigen wollen, wenn
nicht durch die Gleichheit ihrer wissenschaftlichen Methode! Die Biologie aber
hat mit der Vergleichendell Sprachwissenschaft die Methode gemeinsam, die
Methode, die die ganze moderne Wissenschaft beherrscht, und die am reinsten
zum Ausdruck kommt in der sogenannten Darwinschen Theorie und in der
historischen Grammatik. Es ist die Methode, alle Dinge dieser Welt zu
betrachten als Früchte organischen Werdens und Wachsens. Das sollte die


Der naturwissenschaftliche Unterricht auf unsern höhern Schulen

mit fremden Sprachformen voll, die ihnen böhmische Dörfer sind; oder glaubt
man etwa, daß ein Sextaner je begreift, wie das eine Wort ktirmvi die drei
Worte „ich habe geliebt" richtig wiedergeben kann? Auswendig lernt ers,
aber begreifen? Wie kann ers überhaupt begreifen, so lange er nichts von
historischer Grammatik weiß? In den Mittelklassen läßt man dann die Schüler
Pflanzen zerlegen und Tiere beschreiben und giebt ihnen in der Untersekunda
nebenbei eine Ahnung von der modernen Entwicklungslehre. Der „Effekt" ist
der, daß sie in der Botanik auf ihren Pulten ein greuliches Gemüse zurichten
und sich hinter dem Rücken des Lehrers die Pflanzenstengel um die Ohren
schlagen. Als Folge ihrer zoologischen Studien aber verblüffen sie ihren Papa
mit der fabelhaften Behauptung, daß er geradeswegs vom Affen abstamme,
und nennen das „Darwinsche Theorie." Auf den obern Klaffen endlich, wo
mikroskopische Arbeiten, wo die Fragen nach der Entwicklung organischen Lebens,
nach der Entwicklung des Menschengeschlechts die Schüler ganz gewaltig in-
teressiren würden, setzt man ihnen das unverdauliche Gericht von der Mole¬
kulartheorie vor. Und in dem hochnotpeinlichen Verhör, Abiturientenexamen
genannt, das die schöne Geistesdreffur abschließt, überzeugt sich dann der Schul¬
rat, daß von alledem ein befriedigendes Quantum hängen geblieben ist, und
die Schulverwaltung kann sich mit dem erhebenden Bewußtsein aufs Ohr legen,
die ihr zur Bildung anvertraute Jugend mit einen: kvndensirten Extrakt von
allem, was heute wissenswert ist, ausgerüstet zu haben. Die also ausgerüsteten
aber werfen ihrerseits, von allem Wissensqualm entladen, den ganzen Ballast
so rasch als möglich wieder ab und verlegen sich, ohne sich um das ideale
Ziel, das ihnen der Direktor in seiner Entlassungsrede vorgehalten hat,
sonderlich zu kümmern, die einen auf rationelles Geldverdienen im Kaufmanns-
stande, die andern auf rationelles Geldverthnn auf der Universität. Das klingt
bitter, nicht wahr? Nun, wer die ganze Geistesknechtschaft in den Examen-
drillaustalten, genannt höhere Schule und Universität, nicht durchgemacht hat,
der mag milder urteilen.

So lange nicht auf den höhern Schulen der Schwerpunkt des natur¬
wissenschaftlichen Unterrichts in die Biologie verlegt wird — Biologie im
weitesten Sinne gefaßt, als Lehre vom organischen Leben —, fo lange ist die
Forderung einer „neusprachlich-naturwissenschaftlichen Grundlage" für unsre
Schulbildung blauer Dunst. Wie kann man so verschiedne Dinge wie Sprach¬
wissenschaft und Naturwissenschaft zu einer Grundlage vereinigen wollen, wenn
nicht durch die Gleichheit ihrer wissenschaftlichen Methode! Die Biologie aber
hat mit der Vergleichendell Sprachwissenschaft die Methode gemeinsam, die
Methode, die die ganze moderne Wissenschaft beherrscht, und die am reinsten
zum Ausdruck kommt in der sogenannten Darwinschen Theorie und in der
historischen Grammatik. Es ist die Methode, alle Dinge dieser Welt zu
betrachten als Früchte organischen Werdens und Wachsens. Das sollte die


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[0219] Der naturwissenschaftliche Unterricht auf unsern höhern Schulen mit fremden Sprachformen voll, die ihnen böhmische Dörfer sind; oder glaubt man etwa, daß ein Sextaner je begreift, wie das eine Wort ktirmvi die drei Worte „ich habe geliebt" richtig wiedergeben kann? Auswendig lernt ers, aber begreifen? Wie kann ers überhaupt begreifen, so lange er nichts von historischer Grammatik weiß? In den Mittelklassen läßt man dann die Schüler Pflanzen zerlegen und Tiere beschreiben und giebt ihnen in der Untersekunda nebenbei eine Ahnung von der modernen Entwicklungslehre. Der „Effekt" ist der, daß sie in der Botanik auf ihren Pulten ein greuliches Gemüse zurichten und sich hinter dem Rücken des Lehrers die Pflanzenstengel um die Ohren schlagen. Als Folge ihrer zoologischen Studien aber verblüffen sie ihren Papa mit der fabelhaften Behauptung, daß er geradeswegs vom Affen abstamme, und nennen das „Darwinsche Theorie." Auf den obern Klaffen endlich, wo mikroskopische Arbeiten, wo die Fragen nach der Entwicklung organischen Lebens, nach der Entwicklung des Menschengeschlechts die Schüler ganz gewaltig in- teressiren würden, setzt man ihnen das unverdauliche Gericht von der Mole¬ kulartheorie vor. Und in dem hochnotpeinlichen Verhör, Abiturientenexamen genannt, das die schöne Geistesdreffur abschließt, überzeugt sich dann der Schul¬ rat, daß von alledem ein befriedigendes Quantum hängen geblieben ist, und die Schulverwaltung kann sich mit dem erhebenden Bewußtsein aufs Ohr legen, die ihr zur Bildung anvertraute Jugend mit einen: kvndensirten Extrakt von allem, was heute wissenswert ist, ausgerüstet zu haben. Die also ausgerüsteten aber werfen ihrerseits, von allem Wissensqualm entladen, den ganzen Ballast so rasch als möglich wieder ab und verlegen sich, ohne sich um das ideale Ziel, das ihnen der Direktor in seiner Entlassungsrede vorgehalten hat, sonderlich zu kümmern, die einen auf rationelles Geldverdienen im Kaufmanns- stande, die andern auf rationelles Geldverthnn auf der Universität. Das klingt bitter, nicht wahr? Nun, wer die ganze Geistesknechtschaft in den Examen- drillaustalten, genannt höhere Schule und Universität, nicht durchgemacht hat, der mag milder urteilen. So lange nicht auf den höhern Schulen der Schwerpunkt des natur¬ wissenschaftlichen Unterrichts in die Biologie verlegt wird — Biologie im weitesten Sinne gefaßt, als Lehre vom organischen Leben —, fo lange ist die Forderung einer „neusprachlich-naturwissenschaftlichen Grundlage" für unsre Schulbildung blauer Dunst. Wie kann man so verschiedne Dinge wie Sprach¬ wissenschaft und Naturwissenschaft zu einer Grundlage vereinigen wollen, wenn nicht durch die Gleichheit ihrer wissenschaftlichen Methode! Die Biologie aber hat mit der Vergleichendell Sprachwissenschaft die Methode gemeinsam, die Methode, die die ganze moderne Wissenschaft beherrscht, und die am reinsten zum Ausdruck kommt in der sogenannten Darwinschen Theorie und in der historischen Grammatik. Es ist die Methode, alle Dinge dieser Welt zu betrachten als Früchte organischen Werdens und Wachsens. Das sollte die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/219>, abgerufen am 23.07.2024.