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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Der naturwissenschaftliche Unterricht ans unsern höhern Schulen

Wissenschaft sehr langweilig werden dürfte, sintemal sie nichts mehr zu "er¬
klären" hat.

Was zum Teufel soll denn aber nun werden? wird der Leser ungeduldig
ausrufen. Nun, das ist nicht so schwer zu sagen. Zunächst fort mit der
theoretischen Wissenschaft! Damit dürfte ein gut Stück wissenschaftlichen
Dünkels, ein gut Stück unklaren Denkens und unklaren Schwärmens (für
Bebelsche und Bellamysche Utopien zum Beispiel) aus den Köpfen unsrer
Jugend weggefegt werden. Statt dessen leite man sie erstens an, die Augen
offen zu halten und die Erscheinungen um sie her zu beobachten. Wer wissen
will, wies damit bestellt ist, der frage einmal einen jungen Weltweisen, der
ihm über das geheimste Wesen der Materie Auskunft geben kann, ob
der Mond im Osten oder im Westen aufgeht. Es ist zehn gegen eins zu
wetten, daß der junge Weltweise Maul und Nase aufsperren wird. Das ist
much kein Wunder, denn das bischen Himmelskunde, das früher auf dem Real¬
gymnasium getrieben wurde, haben die hochweisen Herren vom Kultusmini¬
sterium längst aus dem Unterricht verbannt; Himmelskunde müßte ja auf
Grund der Anschauung gelehrt werden. Zweitens leite man die Schüler
mehr zu praktischer Thätigkeit an. Der Handfertigkeitsnnterricht, den man in
den untern und mittlern Klassen einzuführen bestrebt ist, konnte sich in prak¬
tischer Thätigkeit auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Technik sehr erfolg¬
reich fortsetzen. Wer von unsern jungen Gelehrten ist wohl imstande, die
nllereinfachste Wanduhr zu reinigen, das heißt so, daß sie nachher anch wieder
geht? Doch dus sind am Ende Einzelheiten der Unterrichtspraxis, die die
Fachleute angehen. Wie gelehrt wird, das mögen diese ausmachen; was
gelehrt wird, das ist eine Frage, an der jeder Gebildete Anteil zu nehmen
berechtigt ist. Gegenwärtig liegt der Schwerpunkt des naturwissenschaftlichen
Unterrichts in der Molekulartheorie, denn in den Oberklassen beschränkt sich
der Unterricht auf Physik und Chemie. Was ich als Ergebnis dieser Aus-
führungen fordre, ist dies: der Schwerpunkt des naturwissenschaftlichen Unter¬
richts muß in die auf anschauliche Beobachtung gegründete Naturwissenschaft,
in die Biologie verlegt werden. Chemie und Physik sind auf den anschau¬
lichen Teil, auf das praktische Experiment und die empirische Technik zu be¬
schränken, Zoologie und Botanik auch auf deu Oberklassen weiter zu lehren.
Die Zoologie darf dann natürlich nicht mit dem Affen abschließen, auch uicht
"ut einem dünnen Destillat aus Anatomie und Physiologie, sondern sie muß
die Anthropologie, in die Völkerkunde auslaufen.

Es ist nicht meine Absicht, hier einen vollständigen Unterrichtsplan auf¬
zustellen. Es genügt mir, wenn ich das richtige Prinzip dieses Unterrichts
gefunden und das bisher befolgte als ein ungesundes Prinzip gekennzeichnet
habe. Ist es denn uicht geradezu lächerlich, wie man heutzutage den Unter¬
richtsstoff verteilt? Auf den Unterklassen stopft man den Schülern den Kopf


Grenzboten 11 1893 27
Der naturwissenschaftliche Unterricht ans unsern höhern Schulen

Wissenschaft sehr langweilig werden dürfte, sintemal sie nichts mehr zu „er¬
klären" hat.

Was zum Teufel soll denn aber nun werden? wird der Leser ungeduldig
ausrufen. Nun, das ist nicht so schwer zu sagen. Zunächst fort mit der
theoretischen Wissenschaft! Damit dürfte ein gut Stück wissenschaftlichen
Dünkels, ein gut Stück unklaren Denkens und unklaren Schwärmens (für
Bebelsche und Bellamysche Utopien zum Beispiel) aus den Köpfen unsrer
Jugend weggefegt werden. Statt dessen leite man sie erstens an, die Augen
offen zu halten und die Erscheinungen um sie her zu beobachten. Wer wissen
will, wies damit bestellt ist, der frage einmal einen jungen Weltweisen, der
ihm über das geheimste Wesen der Materie Auskunft geben kann, ob
der Mond im Osten oder im Westen aufgeht. Es ist zehn gegen eins zu
wetten, daß der junge Weltweise Maul und Nase aufsperren wird. Das ist
much kein Wunder, denn das bischen Himmelskunde, das früher auf dem Real¬
gymnasium getrieben wurde, haben die hochweisen Herren vom Kultusmini¬
sterium längst aus dem Unterricht verbannt; Himmelskunde müßte ja auf
Grund der Anschauung gelehrt werden. Zweitens leite man die Schüler
mehr zu praktischer Thätigkeit an. Der Handfertigkeitsnnterricht, den man in
den untern und mittlern Klassen einzuführen bestrebt ist, konnte sich in prak¬
tischer Thätigkeit auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Technik sehr erfolg¬
reich fortsetzen. Wer von unsern jungen Gelehrten ist wohl imstande, die
nllereinfachste Wanduhr zu reinigen, das heißt so, daß sie nachher anch wieder
geht? Doch dus sind am Ende Einzelheiten der Unterrichtspraxis, die die
Fachleute angehen. Wie gelehrt wird, das mögen diese ausmachen; was
gelehrt wird, das ist eine Frage, an der jeder Gebildete Anteil zu nehmen
berechtigt ist. Gegenwärtig liegt der Schwerpunkt des naturwissenschaftlichen
Unterrichts in der Molekulartheorie, denn in den Oberklassen beschränkt sich
der Unterricht auf Physik und Chemie. Was ich als Ergebnis dieser Aus-
führungen fordre, ist dies: der Schwerpunkt des naturwissenschaftlichen Unter¬
richts muß in die auf anschauliche Beobachtung gegründete Naturwissenschaft,
in die Biologie verlegt werden. Chemie und Physik sind auf den anschau¬
lichen Teil, auf das praktische Experiment und die empirische Technik zu be¬
schränken, Zoologie und Botanik auch auf deu Oberklassen weiter zu lehren.
Die Zoologie darf dann natürlich nicht mit dem Affen abschließen, auch uicht
"ut einem dünnen Destillat aus Anatomie und Physiologie, sondern sie muß
die Anthropologie, in die Völkerkunde auslaufen.

Es ist nicht meine Absicht, hier einen vollständigen Unterrichtsplan auf¬
zustellen. Es genügt mir, wenn ich das richtige Prinzip dieses Unterrichts
gefunden und das bisher befolgte als ein ungesundes Prinzip gekennzeichnet
habe. Ist es denn uicht geradezu lächerlich, wie man heutzutage den Unter¬
richtsstoff verteilt? Auf den Unterklassen stopft man den Schülern den Kopf


Grenzboten 11 1893 27
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[0218] Der naturwissenschaftliche Unterricht ans unsern höhern Schulen Wissenschaft sehr langweilig werden dürfte, sintemal sie nichts mehr zu „er¬ klären" hat. Was zum Teufel soll denn aber nun werden? wird der Leser ungeduldig ausrufen. Nun, das ist nicht so schwer zu sagen. Zunächst fort mit der theoretischen Wissenschaft! Damit dürfte ein gut Stück wissenschaftlichen Dünkels, ein gut Stück unklaren Denkens und unklaren Schwärmens (für Bebelsche und Bellamysche Utopien zum Beispiel) aus den Köpfen unsrer Jugend weggefegt werden. Statt dessen leite man sie erstens an, die Augen offen zu halten und die Erscheinungen um sie her zu beobachten. Wer wissen will, wies damit bestellt ist, der frage einmal einen jungen Weltweisen, der ihm über das geheimste Wesen der Materie Auskunft geben kann, ob der Mond im Osten oder im Westen aufgeht. Es ist zehn gegen eins zu wetten, daß der junge Weltweise Maul und Nase aufsperren wird. Das ist much kein Wunder, denn das bischen Himmelskunde, das früher auf dem Real¬ gymnasium getrieben wurde, haben die hochweisen Herren vom Kultusmini¬ sterium längst aus dem Unterricht verbannt; Himmelskunde müßte ja auf Grund der Anschauung gelehrt werden. Zweitens leite man die Schüler mehr zu praktischer Thätigkeit an. Der Handfertigkeitsnnterricht, den man in den untern und mittlern Klassen einzuführen bestrebt ist, konnte sich in prak¬ tischer Thätigkeit auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Technik sehr erfolg¬ reich fortsetzen. Wer von unsern jungen Gelehrten ist wohl imstande, die nllereinfachste Wanduhr zu reinigen, das heißt so, daß sie nachher anch wieder geht? Doch dus sind am Ende Einzelheiten der Unterrichtspraxis, die die Fachleute angehen. Wie gelehrt wird, das mögen diese ausmachen; was gelehrt wird, das ist eine Frage, an der jeder Gebildete Anteil zu nehmen berechtigt ist. Gegenwärtig liegt der Schwerpunkt des naturwissenschaftlichen Unterrichts in der Molekulartheorie, denn in den Oberklassen beschränkt sich der Unterricht auf Physik und Chemie. Was ich als Ergebnis dieser Aus- führungen fordre, ist dies: der Schwerpunkt des naturwissenschaftlichen Unter¬ richts muß in die auf anschauliche Beobachtung gegründete Naturwissenschaft, in die Biologie verlegt werden. Chemie und Physik sind auf den anschau¬ lichen Teil, auf das praktische Experiment und die empirische Technik zu be¬ schränken, Zoologie und Botanik auch auf deu Oberklassen weiter zu lehren. Die Zoologie darf dann natürlich nicht mit dem Affen abschließen, auch uicht "ut einem dünnen Destillat aus Anatomie und Physiologie, sondern sie muß die Anthropologie, in die Völkerkunde auslaufen. Es ist nicht meine Absicht, hier einen vollständigen Unterrichtsplan auf¬ zustellen. Es genügt mir, wenn ich das richtige Prinzip dieses Unterrichts gefunden und das bisher befolgte als ein ungesundes Prinzip gekennzeichnet habe. Ist es denn uicht geradezu lächerlich, wie man heutzutage den Unter¬ richtsstoff verteilt? Auf den Unterklassen stopft man den Schülern den Kopf Grenzboten 11 1893 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/218>, abgerufen am 23.07.2024.