Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Jesiutenfragc

1200 Leute abhört, von denen die meisten nur einmal, manche zwei- oder vier¬
mal und nur wenige öfter kommen, so ist das schon bedeutend. Die tausend
Jesuiten würden also 1200000 Menschen, einen jeden jährlich zehn, manche
davon vierzig Minuten und nur wenige noch längere Zeit im Beichtstuhl, und
etwa ebenso viele -- es werden dieselben Personen sein -- sechzig Stunden im
Jahre durch die Predigt bearbeiten. Die "schlechte" Presse aber bearbeitet
mindestens zwanzig Millionen Menschen täglich. Und was den Einfluß durch
Umgang betrifft, was vermögen da tausend Personen gegen die vielen Millionen,
die in verschiednen entgegengesetzten Sinnen wirken?

Endlich: mögen wir Jesuiten im Lande haben oder uicht, das katholische
Volk wird auf alle Fälle mit der Jesuitenmoral "vergiftet," denn die nach-
tridentinische katholische Kirche hat keine andre, kennt keine andre, und die
Pfarrer und Kapläne lehren keine andre. Thomas von Aquin, den wir selbst
nur wenig kennen, von dem aber die Altkatholiken und die Gelehrte" der
liberalen Zeitungen behaupte", daß die Jesuitenmvral in ihm wurzle, ist vom
jetzigen Papste allen katholischen Theologen als Richtschnur anempfohlen worden,
Alfons von Liguori, der die Jesuitenmoral sozusagen kodifizirt hat, ist vom
vorigen Papste feierlich zum voewr lüoolesiaö erhoben worden, und des Je¬
suiten Gury Handbuch beherrscht den Unterricht in der Moral, wie er in den
Priesterseminarien als Anweisung für die Gewissensleitung erteilt wird. Will
man das ändern, so muß man den Kulturkampf von vorn beginnen und den
Katholiken irgend eine andre Religion aufzwingen.

Die Jesuitenmoral zu prüfen, ist hier nicht der Ort. Wer sich darüber
unterrichten will, der lese Gurys Moral durch und außerdem etwa das Werk:
Geschichte der Moralstrcitigkeiten in der römisch-katholischen Kirche seit dem
sechzehnten Jahrhundert, mit Beiträgen zur Geschichte und Charakteristik des
Jesuitenordens. Auf Grund ungedruckter Aktenstücke bearbeitet und heraus¬
gegeben von Ignaz von Döllinger und Heinrich Neusch. (Nördlingen, C. H.
Beck, 1889.) Aber eine Gewissensfrage aus jedem der beiden Bücher Wollen
wir doch unsern Lesern zur Entscheidung über den Grad der Verwerflichkeit
der jesuitischen Auffassung vorlegen. Und zwar die erste ganz besonders den
deutschen Korpsstndcuten, die mehr als andre über die laxe Beurteilung eines
ihnen vertrauten Falles entrüstet sein werden. In dein Abschnitt über den
Rausch sagt Gury, die sbrietas xörtöotN sei ohne Zweifel eine Todsünde; da¬
gegen sei ein unvollständiger Rausch xrobMIius nur eine läßliche Sünde. Er
fragt nun, an welchen Merkmalen man die sbristas xerlsots, erkenne. Ant¬
wort: daran, daß der Berauschte nicht mehr zwischen Recht und Unrecht unter¬
scheiden kann, daß er sich ganz ungewöhnlich geberdet (agers xrorsus insvliw)
und sich später dessen, was er im Rausche gesagt und gethan hat, nicht mehr
erinnert. Dagegen seien noch nicht als zuverlässige Merkmale einer sbrisws
perlvot-i anzusehen: biigizitatio liriA'rav, titulmtw pgckmi,, visus vojvotorum


Zur Jesiutenfragc

1200 Leute abhört, von denen die meisten nur einmal, manche zwei- oder vier¬
mal und nur wenige öfter kommen, so ist das schon bedeutend. Die tausend
Jesuiten würden also 1200000 Menschen, einen jeden jährlich zehn, manche
davon vierzig Minuten und nur wenige noch längere Zeit im Beichtstuhl, und
etwa ebenso viele — es werden dieselben Personen sein — sechzig Stunden im
Jahre durch die Predigt bearbeiten. Die „schlechte" Presse aber bearbeitet
mindestens zwanzig Millionen Menschen täglich. Und was den Einfluß durch
Umgang betrifft, was vermögen da tausend Personen gegen die vielen Millionen,
die in verschiednen entgegengesetzten Sinnen wirken?

Endlich: mögen wir Jesuiten im Lande haben oder uicht, das katholische
Volk wird auf alle Fälle mit der Jesuitenmoral „vergiftet," denn die nach-
tridentinische katholische Kirche hat keine andre, kennt keine andre, und die
Pfarrer und Kapläne lehren keine andre. Thomas von Aquin, den wir selbst
nur wenig kennen, von dem aber die Altkatholiken und die Gelehrte» der
liberalen Zeitungen behaupte», daß die Jesuitenmvral in ihm wurzle, ist vom
jetzigen Papste allen katholischen Theologen als Richtschnur anempfohlen worden,
Alfons von Liguori, der die Jesuitenmoral sozusagen kodifizirt hat, ist vom
vorigen Papste feierlich zum voewr lüoolesiaö erhoben worden, und des Je¬
suiten Gury Handbuch beherrscht den Unterricht in der Moral, wie er in den
Priesterseminarien als Anweisung für die Gewissensleitung erteilt wird. Will
man das ändern, so muß man den Kulturkampf von vorn beginnen und den
Katholiken irgend eine andre Religion aufzwingen.

Die Jesuitenmoral zu prüfen, ist hier nicht der Ort. Wer sich darüber
unterrichten will, der lese Gurys Moral durch und außerdem etwa das Werk:
Geschichte der Moralstrcitigkeiten in der römisch-katholischen Kirche seit dem
sechzehnten Jahrhundert, mit Beiträgen zur Geschichte und Charakteristik des
Jesuitenordens. Auf Grund ungedruckter Aktenstücke bearbeitet und heraus¬
gegeben von Ignaz von Döllinger und Heinrich Neusch. (Nördlingen, C. H.
Beck, 1889.) Aber eine Gewissensfrage aus jedem der beiden Bücher Wollen
wir doch unsern Lesern zur Entscheidung über den Grad der Verwerflichkeit
der jesuitischen Auffassung vorlegen. Und zwar die erste ganz besonders den
deutschen Korpsstndcuten, die mehr als andre über die laxe Beurteilung eines
ihnen vertrauten Falles entrüstet sein werden. In dein Abschnitt über den
Rausch sagt Gury, die sbrietas xörtöotN sei ohne Zweifel eine Todsünde; da¬
gegen sei ein unvollständiger Rausch xrobMIius nur eine läßliche Sünde. Er
fragt nun, an welchen Merkmalen man die sbristas xerlsots, erkenne. Ant¬
wort: daran, daß der Berauschte nicht mehr zwischen Recht und Unrecht unter¬
scheiden kann, daß er sich ganz ungewöhnlich geberdet (agers xrorsus insvliw)
und sich später dessen, was er im Rausche gesagt und gethan hat, nicht mehr
erinnert. Dagegen seien noch nicht als zuverlässige Merkmale einer sbrisws
perlvot-i anzusehen: biigizitatio liriA'rav, titulmtw pgckmi,, visus vojvotorum


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0207" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214662"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Jesiutenfragc</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_851" prev="#ID_850"> 1200 Leute abhört, von denen die meisten nur einmal, manche zwei- oder vier¬<lb/>
mal und nur wenige öfter kommen, so ist das schon bedeutend. Die tausend<lb/>
Jesuiten würden also 1200000 Menschen, einen jeden jährlich zehn, manche<lb/>
davon vierzig Minuten und nur wenige noch längere Zeit im Beichtstuhl, und<lb/>
etwa ebenso viele &#x2014; es werden dieselben Personen sein &#x2014; sechzig Stunden im<lb/>
Jahre durch die Predigt bearbeiten. Die &#x201E;schlechte" Presse aber bearbeitet<lb/>
mindestens zwanzig Millionen Menschen täglich. Und was den Einfluß durch<lb/>
Umgang betrifft, was vermögen da tausend Personen gegen die vielen Millionen,<lb/>
die in verschiednen entgegengesetzten Sinnen wirken?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_852"> Endlich: mögen wir Jesuiten im Lande haben oder uicht, das katholische<lb/>
Volk wird auf alle Fälle mit der Jesuitenmoral &#x201E;vergiftet," denn die nach-<lb/>
tridentinische katholische Kirche hat keine andre, kennt keine andre, und die<lb/>
Pfarrer und Kapläne lehren keine andre. Thomas von Aquin, den wir selbst<lb/>
nur wenig kennen, von dem aber die Altkatholiken und die Gelehrte» der<lb/>
liberalen Zeitungen behaupte», daß die Jesuitenmvral in ihm wurzle, ist vom<lb/>
jetzigen Papste allen katholischen Theologen als Richtschnur anempfohlen worden,<lb/>
Alfons von Liguori, der die Jesuitenmoral sozusagen kodifizirt hat, ist vom<lb/>
vorigen Papste feierlich zum voewr lüoolesiaö erhoben worden, und des Je¬<lb/>
suiten Gury Handbuch beherrscht den Unterricht in der Moral, wie er in den<lb/>
Priesterseminarien als Anweisung für die Gewissensleitung erteilt wird. Will<lb/>
man das ändern, so muß man den Kulturkampf von vorn beginnen und den<lb/>
Katholiken irgend eine andre Religion aufzwingen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_853" next="#ID_854"> Die Jesuitenmoral zu prüfen, ist hier nicht der Ort. Wer sich darüber<lb/>
unterrichten will, der lese Gurys Moral durch und außerdem etwa das Werk:<lb/>
Geschichte der Moralstrcitigkeiten in der römisch-katholischen Kirche seit dem<lb/>
sechzehnten Jahrhundert, mit Beiträgen zur Geschichte und Charakteristik des<lb/>
Jesuitenordens. Auf Grund ungedruckter Aktenstücke bearbeitet und heraus¬<lb/>
gegeben von Ignaz von Döllinger und Heinrich Neusch. (Nördlingen, C. H.<lb/>
Beck, 1889.) Aber eine Gewissensfrage aus jedem der beiden Bücher Wollen<lb/>
wir doch unsern Lesern zur Entscheidung über den Grad der Verwerflichkeit<lb/>
der jesuitischen Auffassung vorlegen. Und zwar die erste ganz besonders den<lb/>
deutschen Korpsstndcuten, die mehr als andre über die laxe Beurteilung eines<lb/>
ihnen vertrauten Falles entrüstet sein werden. In dein Abschnitt über den<lb/>
Rausch sagt Gury, die sbrietas xörtöotN sei ohne Zweifel eine Todsünde; da¬<lb/>
gegen sei ein unvollständiger Rausch xrobMIius nur eine läßliche Sünde. Er<lb/>
fragt nun, an welchen Merkmalen man die sbristas xerlsots, erkenne. Ant¬<lb/>
wort: daran, daß der Berauschte nicht mehr zwischen Recht und Unrecht unter¬<lb/>
scheiden kann, daß er sich ganz ungewöhnlich geberdet (agers xrorsus insvliw)<lb/>
und sich später dessen, was er im Rausche gesagt und gethan hat, nicht mehr<lb/>
erinnert. Dagegen seien noch nicht als zuverlässige Merkmale einer sbrisws<lb/>
perlvot-i anzusehen: biigizitatio liriA'rav, titulmtw pgckmi,, visus vojvotorum</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0207] Zur Jesiutenfragc 1200 Leute abhört, von denen die meisten nur einmal, manche zwei- oder vier¬ mal und nur wenige öfter kommen, so ist das schon bedeutend. Die tausend Jesuiten würden also 1200000 Menschen, einen jeden jährlich zehn, manche davon vierzig Minuten und nur wenige noch längere Zeit im Beichtstuhl, und etwa ebenso viele — es werden dieselben Personen sein — sechzig Stunden im Jahre durch die Predigt bearbeiten. Die „schlechte" Presse aber bearbeitet mindestens zwanzig Millionen Menschen täglich. Und was den Einfluß durch Umgang betrifft, was vermögen da tausend Personen gegen die vielen Millionen, die in verschiednen entgegengesetzten Sinnen wirken? Endlich: mögen wir Jesuiten im Lande haben oder uicht, das katholische Volk wird auf alle Fälle mit der Jesuitenmoral „vergiftet," denn die nach- tridentinische katholische Kirche hat keine andre, kennt keine andre, und die Pfarrer und Kapläne lehren keine andre. Thomas von Aquin, den wir selbst nur wenig kennen, von dem aber die Altkatholiken und die Gelehrte» der liberalen Zeitungen behaupte», daß die Jesuitenmvral in ihm wurzle, ist vom jetzigen Papste allen katholischen Theologen als Richtschnur anempfohlen worden, Alfons von Liguori, der die Jesuitenmoral sozusagen kodifizirt hat, ist vom vorigen Papste feierlich zum voewr lüoolesiaö erhoben worden, und des Je¬ suiten Gury Handbuch beherrscht den Unterricht in der Moral, wie er in den Priesterseminarien als Anweisung für die Gewissensleitung erteilt wird. Will man das ändern, so muß man den Kulturkampf von vorn beginnen und den Katholiken irgend eine andre Religion aufzwingen. Die Jesuitenmoral zu prüfen, ist hier nicht der Ort. Wer sich darüber unterrichten will, der lese Gurys Moral durch und außerdem etwa das Werk: Geschichte der Moralstrcitigkeiten in der römisch-katholischen Kirche seit dem sechzehnten Jahrhundert, mit Beiträgen zur Geschichte und Charakteristik des Jesuitenordens. Auf Grund ungedruckter Aktenstücke bearbeitet und heraus¬ gegeben von Ignaz von Döllinger und Heinrich Neusch. (Nördlingen, C. H. Beck, 1889.) Aber eine Gewissensfrage aus jedem der beiden Bücher Wollen wir doch unsern Lesern zur Entscheidung über den Grad der Verwerflichkeit der jesuitischen Auffassung vorlegen. Und zwar die erste ganz besonders den deutschen Korpsstndcuten, die mehr als andre über die laxe Beurteilung eines ihnen vertrauten Falles entrüstet sein werden. In dein Abschnitt über den Rausch sagt Gury, die sbrietas xörtöotN sei ohne Zweifel eine Todsünde; da¬ gegen sei ein unvollständiger Rausch xrobMIius nur eine läßliche Sünde. Er fragt nun, an welchen Merkmalen man die sbristas xerlsots, erkenne. Ant¬ wort: daran, daß der Berauschte nicht mehr zwischen Recht und Unrecht unter¬ scheiden kann, daß er sich ganz ungewöhnlich geberdet (agers xrorsus insvliw) und sich später dessen, was er im Rausche gesagt und gethan hat, nicht mehr erinnert. Dagegen seien noch nicht als zuverlässige Merkmale einer sbrisws perlvot-i anzusehen: biigizitatio liriA'rav, titulmtw pgckmi,, visus vojvotorum

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/207
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/207>, abgerufen am 25.08.2024.