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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Leopold Kümmerlich

in eine Droschke und brachten ihn mit feinern Talisman, dem Oorxus ^juris,
nach Hause.

Die Szene mit dein unglücklichen armen Schulkameraden wollte mir nicht
aus dem Kopfe. Als ich zu Bett gegangen war, lag ich lange Zeit mit offnen
Augen da, und als ich endlich eingeschlafen war, quälte mich ein beängstigender
Traum. Mir träumte, Leopold stünde vor Gericht. Der alte Kreisgerichts¬
direktor führte den Borsitz, und neben ihm saß der Assessor Müller, unter
den Geschwornen der Kupferschmied Schulz. Verteidiger war der alte Kammer¬
gerichtsrat, der ihm in der Prüfung immer so ermutigend zugenickt hatte.
Zuletzt kam der alte Kümmerlich mit einem großen Aktenstoß unterm Arm
und setzte sich an den grünen Tisch. Er sah Leopold starr an, zog die weißen,
buschigen Augenbrauen zusammen und biß sich fortwährend auf seinen kurzen
Schnurrbart.

Neben dem nlteu Kanzlisten stand die Witwe aus der Gipsstraße. Sie
zeigte auf Leopold und sagte zu dem Alten: Der ists gewesen!

Der alte Kanzlist erwiderte leise und vor sich hinstarrend: Dann muß er
sterben, Wenns nicht anders im Oorxus ^>url8 steht.

Geben Sie dem Angeklagten das Lorvus juris! sagte der Kreisgerichts¬
direktor. Vielleicht findet er jetzt das geeignete Hochzeitslied! Da trat ein
Unteroffizier vom zweiten Garderegiment auf Leopold zu, nahm aus einem
Kohlenkorb ein Bündel und gab es ihm. Als aber Leopold das Bündel auf¬
wickelte, war darin statt des Lorxus furis ein schlafendes Kind, und hinter
mir hörte ich Niekes kreischende Stimme: Der is an allem schuld! der is an
allem schuld!

Der Vorsitzende klingelte und sagte: Der Herr Verteidiger hat das Wort.
Darauf erhob sich der alte, freundliche Knmmergerichtsrat und sagte: Meine
Herren, es liegen schwere Jndieien gegen den Angeklagten vor, aber ich halte
ehr für einen ehrlichen Menschen. Wenn er gefehlt hat, so ist ihm doch nur
geringe Schuld beizumessen. Er ist, wie so viele andre, das Opfer einer falsch
angebrachten Erziehung. Er ist als Knabe und als Jüngling mit dem Honig
der klassischen Gelehrsamkeit gefüttert worden, während er nach seiner natür¬
lichen Anlage Erbsen und Sauerkraut hätte bekommen sollen.

Bei diesen Worten stand der Kupferschmied Schulz auf, schlug auf den
Tisch und rief mit seiner rollenden Baßstimme: Verpfuscht ist er! verpfuscht,
Herr Präsident!

Der Präsident klingelte, und der alte Kammergerichtsrat fuhr fort: Es
war in Leopold Kümmerlich kein Edelmetall. Trotzdem haben ihn die klassischen
Goldschmiede nach allen Regeln der Kunst bearbeitet, ihn jahrelang gehämmert,
geschweißt, gepreßt. Aber'es hat nichts genützt. Sie haben das gewöhnliche
Roheisen, das in ihm steckte und das zu einfachem Handwerkszeug ganz gut
gewesen wäre, brüchig und völlig wertlos gemacht.


Leopold Kümmerlich

in eine Droschke und brachten ihn mit feinern Talisman, dem Oorxus ^juris,
nach Hause.

Die Szene mit dein unglücklichen armen Schulkameraden wollte mir nicht
aus dem Kopfe. Als ich zu Bett gegangen war, lag ich lange Zeit mit offnen
Augen da, und als ich endlich eingeschlafen war, quälte mich ein beängstigender
Traum. Mir träumte, Leopold stünde vor Gericht. Der alte Kreisgerichts¬
direktor führte den Borsitz, und neben ihm saß der Assessor Müller, unter
den Geschwornen der Kupferschmied Schulz. Verteidiger war der alte Kammer¬
gerichtsrat, der ihm in der Prüfung immer so ermutigend zugenickt hatte.
Zuletzt kam der alte Kümmerlich mit einem großen Aktenstoß unterm Arm
und setzte sich an den grünen Tisch. Er sah Leopold starr an, zog die weißen,
buschigen Augenbrauen zusammen und biß sich fortwährend auf seinen kurzen
Schnurrbart.

Neben dem nlteu Kanzlisten stand die Witwe aus der Gipsstraße. Sie
zeigte auf Leopold und sagte zu dem Alten: Der ists gewesen!

Der alte Kanzlist erwiderte leise und vor sich hinstarrend: Dann muß er
sterben, Wenns nicht anders im Oorxus ^>url8 steht.

Geben Sie dem Angeklagten das Lorvus juris! sagte der Kreisgerichts¬
direktor. Vielleicht findet er jetzt das geeignete Hochzeitslied! Da trat ein
Unteroffizier vom zweiten Garderegiment auf Leopold zu, nahm aus einem
Kohlenkorb ein Bündel und gab es ihm. Als aber Leopold das Bündel auf¬
wickelte, war darin statt des Lorxus furis ein schlafendes Kind, und hinter
mir hörte ich Niekes kreischende Stimme: Der is an allem schuld! der is an
allem schuld!

Der Vorsitzende klingelte und sagte: Der Herr Verteidiger hat das Wort.
Darauf erhob sich der alte, freundliche Knmmergerichtsrat und sagte: Meine
Herren, es liegen schwere Jndieien gegen den Angeklagten vor, aber ich halte
ehr für einen ehrlichen Menschen. Wenn er gefehlt hat, so ist ihm doch nur
geringe Schuld beizumessen. Er ist, wie so viele andre, das Opfer einer falsch
angebrachten Erziehung. Er ist als Knabe und als Jüngling mit dem Honig
der klassischen Gelehrsamkeit gefüttert worden, während er nach seiner natür¬
lichen Anlage Erbsen und Sauerkraut hätte bekommen sollen.

Bei diesen Worten stand der Kupferschmied Schulz auf, schlug auf den
Tisch und rief mit seiner rollenden Baßstimme: Verpfuscht ist er! verpfuscht,
Herr Präsident!

Der Präsident klingelte, und der alte Kammergerichtsrat fuhr fort: Es
war in Leopold Kümmerlich kein Edelmetall. Trotzdem haben ihn die klassischen
Goldschmiede nach allen Regeln der Kunst bearbeitet, ihn jahrelang gehämmert,
geschweißt, gepreßt. Aber'es hat nichts genützt. Sie haben das gewöhnliche
Roheisen, das in ihm steckte und das zu einfachem Handwerkszeug ganz gut
gewesen wäre, brüchig und völlig wertlos gemacht.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/196>, abgerufen am 22.07.2024.