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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage

der Überzeugung bekennen, daß sich die sozialdemokratischen Thorheiten nur
deshalb in Deutschland so massenhaft haben verbreiten können, weil der fort¬
gesetzte Schuldrill, der mir auf formale Kenntnisse geht, das Gehirn des
deutschen Jungen mehr rezeptiv zur Aneignung fremder Gedanken, als pro¬
duktiv zu eigner Denkthätigkeit entwickelt hat.

Damit brechen wir ab. Die Sozialdemokratie hat keine Antwort gegeben
auf die Frage nach ihrem Zukunftsstaat, richtiger nach der Gestalt, die sie
der Gesellschaft nach dem großen Krach geben will. Auch die Marsyas-
schindung, die die Gegner der Sozialdemokratie an ihren Irrlehren vollzogen
haben, hat uns keinen Aufschluß darüber gegeben. Der Schluß des Kampfes
war.ein großes Vacuum. Wir haben den Versuch gewagt, dieses Vacuum
auszufüllen durch die Gedanken, die sich uns bei dem Versuch, das soziale
Problem auf dem Boden der jetzigen Gesellschaftsordnung zu lösen, aufge¬
drängt haben. Wir haben hierbei die Überzeugung gewonnen, daß sich der
berechtigte Kern der sozialdemokratischen Forderung in dem Rahmen der
heutigen Gesellschaft sehr wohl erfüllen läßt, ohne daß wir den kleinsten Teil
von dem zu opfern brauchen, was allen Deutschen bisher heilig war. Nur
die Hand jammervoller Stümper konnte es wagen, an Thron, Altar, Vater¬
land, Familie, Ehe und Eigentum zu rütteln. Gewiß sind Bebel und Lieb¬
knecht glänzende und begabte Männer, aber ihre Begabung liegt in der Kritik.
An positivem, fruchtbarem Denken hindert sie das Erbteil aller Autodidakten:
Überschätzung ihres eignen Urteils, die sie nicht aus dem selbstgeschaffnen
"ziroulus ?it,i,ohn8 herauskommen läßt.

Man wird vielleicht alles, was wir positiv vorgebracht haben, als ober¬
flächlich, längst dagewesen, unausführbar oder radikal sozialistisch und gefähr¬
lich bezeichnen. Jeder möge nach seinem Belieben damit Verfahren! Wir
sind darauf gefaßt. Eins dürfte aber doch dem Leser verbleiben: das Be¬
wußtsein, daß die gegenwärtige rein politische Organisation der deutschen
Reichsvertretung kaum imstande sein wird, den Anforderungen gerecht zu
werden, die die Lösung der sozialen Frage an die Volksvertretung stellt. Diese
Thatsache ist niemals beredter und schlagender zum Ausdruck gebracht worden,
als in den klassischen Worten, mit denen der Reichstagspräsident die fünf¬
tägigen Kämpfe schloß: Wir gehn auf einen andern Gegenstand über.




Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage

der Überzeugung bekennen, daß sich die sozialdemokratischen Thorheiten nur
deshalb in Deutschland so massenhaft haben verbreiten können, weil der fort¬
gesetzte Schuldrill, der mir auf formale Kenntnisse geht, das Gehirn des
deutschen Jungen mehr rezeptiv zur Aneignung fremder Gedanken, als pro¬
duktiv zu eigner Denkthätigkeit entwickelt hat.

Damit brechen wir ab. Die Sozialdemokratie hat keine Antwort gegeben
auf die Frage nach ihrem Zukunftsstaat, richtiger nach der Gestalt, die sie
der Gesellschaft nach dem großen Krach geben will. Auch die Marsyas-
schindung, die die Gegner der Sozialdemokratie an ihren Irrlehren vollzogen
haben, hat uns keinen Aufschluß darüber gegeben. Der Schluß des Kampfes
war.ein großes Vacuum. Wir haben den Versuch gewagt, dieses Vacuum
auszufüllen durch die Gedanken, die sich uns bei dem Versuch, das soziale
Problem auf dem Boden der jetzigen Gesellschaftsordnung zu lösen, aufge¬
drängt haben. Wir haben hierbei die Überzeugung gewonnen, daß sich der
berechtigte Kern der sozialdemokratischen Forderung in dem Rahmen der
heutigen Gesellschaft sehr wohl erfüllen läßt, ohne daß wir den kleinsten Teil
von dem zu opfern brauchen, was allen Deutschen bisher heilig war. Nur
die Hand jammervoller Stümper konnte es wagen, an Thron, Altar, Vater¬
land, Familie, Ehe und Eigentum zu rütteln. Gewiß sind Bebel und Lieb¬
knecht glänzende und begabte Männer, aber ihre Begabung liegt in der Kritik.
An positivem, fruchtbarem Denken hindert sie das Erbteil aller Autodidakten:
Überschätzung ihres eignen Urteils, die sie nicht aus dem selbstgeschaffnen
«ziroulus ?it,i,ohn8 herauskommen läßt.

Man wird vielleicht alles, was wir positiv vorgebracht haben, als ober¬
flächlich, längst dagewesen, unausführbar oder radikal sozialistisch und gefähr¬
lich bezeichnen. Jeder möge nach seinem Belieben damit Verfahren! Wir
sind darauf gefaßt. Eins dürfte aber doch dem Leser verbleiben: das Be¬
wußtsein, daß die gegenwärtige rein politische Organisation der deutschen
Reichsvertretung kaum imstande sein wird, den Anforderungen gerecht zu
werden, die die Lösung der sozialen Frage an die Volksvertretung stellt. Diese
Thatsache ist niemals beredter und schlagender zum Ausdruck gebracht worden,
als in den klassischen Worten, mit denen der Reichstagspräsident die fünf¬
tägigen Kämpfe schloß: Wir gehn auf einen andern Gegenstand über.




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[0172] Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage der Überzeugung bekennen, daß sich die sozialdemokratischen Thorheiten nur deshalb in Deutschland so massenhaft haben verbreiten können, weil der fort¬ gesetzte Schuldrill, der mir auf formale Kenntnisse geht, das Gehirn des deutschen Jungen mehr rezeptiv zur Aneignung fremder Gedanken, als pro¬ duktiv zu eigner Denkthätigkeit entwickelt hat. Damit brechen wir ab. Die Sozialdemokratie hat keine Antwort gegeben auf die Frage nach ihrem Zukunftsstaat, richtiger nach der Gestalt, die sie der Gesellschaft nach dem großen Krach geben will. Auch die Marsyas- schindung, die die Gegner der Sozialdemokratie an ihren Irrlehren vollzogen haben, hat uns keinen Aufschluß darüber gegeben. Der Schluß des Kampfes war.ein großes Vacuum. Wir haben den Versuch gewagt, dieses Vacuum auszufüllen durch die Gedanken, die sich uns bei dem Versuch, das soziale Problem auf dem Boden der jetzigen Gesellschaftsordnung zu lösen, aufge¬ drängt haben. Wir haben hierbei die Überzeugung gewonnen, daß sich der berechtigte Kern der sozialdemokratischen Forderung in dem Rahmen der heutigen Gesellschaft sehr wohl erfüllen läßt, ohne daß wir den kleinsten Teil von dem zu opfern brauchen, was allen Deutschen bisher heilig war. Nur die Hand jammervoller Stümper konnte es wagen, an Thron, Altar, Vater¬ land, Familie, Ehe und Eigentum zu rütteln. Gewiß sind Bebel und Lieb¬ knecht glänzende und begabte Männer, aber ihre Begabung liegt in der Kritik. An positivem, fruchtbarem Denken hindert sie das Erbteil aller Autodidakten: Überschätzung ihres eignen Urteils, die sie nicht aus dem selbstgeschaffnen «ziroulus ?it,i,ohn8 herauskommen läßt. Man wird vielleicht alles, was wir positiv vorgebracht haben, als ober¬ flächlich, längst dagewesen, unausführbar oder radikal sozialistisch und gefähr¬ lich bezeichnen. Jeder möge nach seinem Belieben damit Verfahren! Wir sind darauf gefaßt. Eins dürfte aber doch dem Leser verbleiben: das Be¬ wußtsein, daß die gegenwärtige rein politische Organisation der deutschen Reichsvertretung kaum imstande sein wird, den Anforderungen gerecht zu werden, die die Lösung der sozialen Frage an die Volksvertretung stellt. Diese Thatsache ist niemals beredter und schlagender zum Ausdruck gebracht worden, als in den klassischen Worten, mit denen der Reichstagspräsident die fünf¬ tägigen Kämpfe schloß: Wir gehn auf einen andern Gegenstand über.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/172>, abgerufen am 01.07.2024.