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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage

alte Plunder von Liberal, Fortschritt, Konservativ, Reaktionär seine Rolle
weiter. Der Abgeordnete soll gesetzlich das ganze Volk vertreten. Dies ist
nichts als eine sinnlose und unmögliche Einbildung. Denn selbst der begabteste
Parlamentarier ist nicht imstande, sich das Gesamtinteresse des Volkes aus
dem Wirrwarr der Tageskämpfe heraus zu destilliren und zu vertreten, auch
wenn er den besten Willen dazu mitbrachte. Und wenn er es vermöchte,
würde er doch stets der Versuchung unterliegen, seine persönlichen Über¬
zeugungen, Neigungen und Interessen mit dem Gesamtinteresse des Volkes zu
verwechseln und dieses dagegen zurückzusetzen. Gewählt wird der Abgeordnete
auf Grund von Stichwörtern wie liberal und konservativ, die längst ihre Be¬
deutung verloren haben, mithin aus die eigentliche Abstimmung mehr und mehr
eittflußlos geworden sind. Daß sich aber der Wahlkampf fortgesetzt um
theoretische Forderungen dreht, die jedes praktischen Inhalts entbehren, und
bei deuen sich schließlich jeder alles denken kann, hat notwendig zur Folge,
daß sich an der Wahl vorzugsweise die Klassen der Bevölkerung beteilige",
die außerhalb der praktisch wirtschaftlichen Kreise des Volkes stehen, und deren
Denken und Thun sich wesentlich auf abstrakte Dinge richtet. Die weitere
notwendige Folge ist, daß sich unsre Volksvertretungen vorzugsweise aus
Juristen, Professoren, Beamten u. s. w. zusammensetzen. Wo unter ihnen aus¬
nahmsweise eine Interessenvertretung vorkommt, ist sie in verschiednen Frak¬
tionen zersplittert, die sich feindlich gegenüberstehen, und deren parlamentarische
Hauptaufgabe darin besteht, sich gegenseitig zu bekämpfen und sich Mandate
abzuringen. Hierdurch wird für die im Parlament vereinzelt vorhandnen
Interessengruppen die letzte Möglichkeit genommen, sich zusammenzuschließen
und zu einer wirksamen Vertretung ihrer Interessen zu gelangen. Thatsächlich
vertreten unsre Abgeordneten nur sich selbst, die Fraktionsführer entwickeln sich
zu kleinen Dynasten, sie halten die Reden, kommandiren die Abstimmungen,
geben die Parole aus. An sie richten sich die Wünsche aller derer, die an
das Parlament ein Ansuchen zu stellen haben. Der Handel und Schacher
geschieht nach dem bekannten Grundsatz vo ut clef, der einzelne Abgeordnete
tutt uur in die Erscheinung, wenn er spezielle Wünsche hat, Seknndürbahu,
Garnison u. s. w., für die sich der Frnttiouschef nicht festlegen will, und das
Ende vom Ganzen ist -- Panamaschwindel su gros. Es ist nur ein günstiges
Zeichen von der moralischen und wirtschaftlichen Gesundheit unsers Volkes,
daß der deutsche Parlamentarismus von dieser letzten Folge des Prinzips
bisher frei geblieben ist.

Man hat häufig gesagt: Der Konstitutionalismus hat sich überlebt. Das
^se richtig, insofern man darunter lediglich seine jetzige einseitig politische Ge¬
staltung versteht. Ganz falsch wäre es, daraus zu folgern, daß sich die Volks¬
vertretung überhaupt überlebt habe, und daß die Zukunft für absehbare Zeit
wieder dem absoluten Staatsgedanken gehöre. Die richtige Folgerung aus,'


Grenzboten II 1393 20
Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage

alte Plunder von Liberal, Fortschritt, Konservativ, Reaktionär seine Rolle
weiter. Der Abgeordnete soll gesetzlich das ganze Volk vertreten. Dies ist
nichts als eine sinnlose und unmögliche Einbildung. Denn selbst der begabteste
Parlamentarier ist nicht imstande, sich das Gesamtinteresse des Volkes aus
dem Wirrwarr der Tageskämpfe heraus zu destilliren und zu vertreten, auch
wenn er den besten Willen dazu mitbrachte. Und wenn er es vermöchte,
würde er doch stets der Versuchung unterliegen, seine persönlichen Über¬
zeugungen, Neigungen und Interessen mit dem Gesamtinteresse des Volkes zu
verwechseln und dieses dagegen zurückzusetzen. Gewählt wird der Abgeordnete
auf Grund von Stichwörtern wie liberal und konservativ, die längst ihre Be¬
deutung verloren haben, mithin aus die eigentliche Abstimmung mehr und mehr
eittflußlos geworden sind. Daß sich aber der Wahlkampf fortgesetzt um
theoretische Forderungen dreht, die jedes praktischen Inhalts entbehren, und
bei deuen sich schließlich jeder alles denken kann, hat notwendig zur Folge,
daß sich an der Wahl vorzugsweise die Klassen der Bevölkerung beteilige»,
die außerhalb der praktisch wirtschaftlichen Kreise des Volkes stehen, und deren
Denken und Thun sich wesentlich auf abstrakte Dinge richtet. Die weitere
notwendige Folge ist, daß sich unsre Volksvertretungen vorzugsweise aus
Juristen, Professoren, Beamten u. s. w. zusammensetzen. Wo unter ihnen aus¬
nahmsweise eine Interessenvertretung vorkommt, ist sie in verschiednen Frak¬
tionen zersplittert, die sich feindlich gegenüberstehen, und deren parlamentarische
Hauptaufgabe darin besteht, sich gegenseitig zu bekämpfen und sich Mandate
abzuringen. Hierdurch wird für die im Parlament vereinzelt vorhandnen
Interessengruppen die letzte Möglichkeit genommen, sich zusammenzuschließen
und zu einer wirksamen Vertretung ihrer Interessen zu gelangen. Thatsächlich
vertreten unsre Abgeordneten nur sich selbst, die Fraktionsführer entwickeln sich
zu kleinen Dynasten, sie halten die Reden, kommandiren die Abstimmungen,
geben die Parole aus. An sie richten sich die Wünsche aller derer, die an
das Parlament ein Ansuchen zu stellen haben. Der Handel und Schacher
geschieht nach dem bekannten Grundsatz vo ut clef, der einzelne Abgeordnete
tutt uur in die Erscheinung, wenn er spezielle Wünsche hat, Seknndürbahu,
Garnison u. s. w., für die sich der Frnttiouschef nicht festlegen will, und das
Ende vom Ganzen ist — Panamaschwindel su gros. Es ist nur ein günstiges
Zeichen von der moralischen und wirtschaftlichen Gesundheit unsers Volkes,
daß der deutsche Parlamentarismus von dieser letzten Folge des Prinzips
bisher frei geblieben ist.

Man hat häufig gesagt: Der Konstitutionalismus hat sich überlebt. Das
^se richtig, insofern man darunter lediglich seine jetzige einseitig politische Ge¬
staltung versteht. Ganz falsch wäre es, daraus zu folgern, daß sich die Volks¬
vertretung überhaupt überlebt habe, und daß die Zukunft für absehbare Zeit
wieder dem absoluten Staatsgedanken gehöre. Die richtige Folgerung aus,'


Grenzboten II 1393 20
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[0163] Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage alte Plunder von Liberal, Fortschritt, Konservativ, Reaktionär seine Rolle weiter. Der Abgeordnete soll gesetzlich das ganze Volk vertreten. Dies ist nichts als eine sinnlose und unmögliche Einbildung. Denn selbst der begabteste Parlamentarier ist nicht imstande, sich das Gesamtinteresse des Volkes aus dem Wirrwarr der Tageskämpfe heraus zu destilliren und zu vertreten, auch wenn er den besten Willen dazu mitbrachte. Und wenn er es vermöchte, würde er doch stets der Versuchung unterliegen, seine persönlichen Über¬ zeugungen, Neigungen und Interessen mit dem Gesamtinteresse des Volkes zu verwechseln und dieses dagegen zurückzusetzen. Gewählt wird der Abgeordnete auf Grund von Stichwörtern wie liberal und konservativ, die längst ihre Be¬ deutung verloren haben, mithin aus die eigentliche Abstimmung mehr und mehr eittflußlos geworden sind. Daß sich aber der Wahlkampf fortgesetzt um theoretische Forderungen dreht, die jedes praktischen Inhalts entbehren, und bei deuen sich schließlich jeder alles denken kann, hat notwendig zur Folge, daß sich an der Wahl vorzugsweise die Klassen der Bevölkerung beteilige», die außerhalb der praktisch wirtschaftlichen Kreise des Volkes stehen, und deren Denken und Thun sich wesentlich auf abstrakte Dinge richtet. Die weitere notwendige Folge ist, daß sich unsre Volksvertretungen vorzugsweise aus Juristen, Professoren, Beamten u. s. w. zusammensetzen. Wo unter ihnen aus¬ nahmsweise eine Interessenvertretung vorkommt, ist sie in verschiednen Frak¬ tionen zersplittert, die sich feindlich gegenüberstehen, und deren parlamentarische Hauptaufgabe darin besteht, sich gegenseitig zu bekämpfen und sich Mandate abzuringen. Hierdurch wird für die im Parlament vereinzelt vorhandnen Interessengruppen die letzte Möglichkeit genommen, sich zusammenzuschließen und zu einer wirksamen Vertretung ihrer Interessen zu gelangen. Thatsächlich vertreten unsre Abgeordneten nur sich selbst, die Fraktionsführer entwickeln sich zu kleinen Dynasten, sie halten die Reden, kommandiren die Abstimmungen, geben die Parole aus. An sie richten sich die Wünsche aller derer, die an das Parlament ein Ansuchen zu stellen haben. Der Handel und Schacher geschieht nach dem bekannten Grundsatz vo ut clef, der einzelne Abgeordnete tutt uur in die Erscheinung, wenn er spezielle Wünsche hat, Seknndürbahu, Garnison u. s. w., für die sich der Frnttiouschef nicht festlegen will, und das Ende vom Ganzen ist — Panamaschwindel su gros. Es ist nur ein günstiges Zeichen von der moralischen und wirtschaftlichen Gesundheit unsers Volkes, daß der deutsche Parlamentarismus von dieser letzten Folge des Prinzips bisher frei geblieben ist. Man hat häufig gesagt: Der Konstitutionalismus hat sich überlebt. Das ^se richtig, insofern man darunter lediglich seine jetzige einseitig politische Ge¬ staltung versteht. Ganz falsch wäre es, daraus zu folgern, daß sich die Volks¬ vertretung überhaupt überlebt habe, und daß die Zukunft für absehbare Zeit wieder dem absoluten Staatsgedanken gehöre. Die richtige Folgerung aus,' Grenzboten II 1393 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/163>, abgerufen am 24.07.2024.