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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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hat, während er sich in Leipzig urbehaglich fühlte. Vor hundert Jahren muß
Berlin auch schon auf eine starke Opposition bei den Geisteshelde" gestoßen
sein. Sagt doch der größte unter ihnen, dessen marmornes Abbild uns die
Spaziergänger des Tiergartens hoheitsvoll herabblickt:


Was jchiert mich der Berliner Bann,
Geschmäcklerpfaffemvescn!

Und wie die Männer, die die Litteratur machen, so scheinen auch die Leute
zu denken, die die Litteratur lesen. Es ist eine bemerkenswerte Beobachtung,
daß die Schicksale des Buches nicht wie die des Theaterstückes durch Berlin
bestimmt werden. Auch die ungünstigste Besprechung, oder was noch schlimmer
ist, das gehässigste Totschweigen eines Buches bei der Berliner Kritik kann
dem Erfolg eines Buches nichts schaden. Es giebt vortreffliche, in ganz Dentsch-
land gelesene Bücher, die von der Berliner Kritik unbeachtet gelassen oder ab¬
gelehnt worden sind, weil der Autor nicht zur Clique gehörte, Bücher, die
jedes Jahr neue Auflagen erleben, und die doch nicht in dem Borrat der Ber¬
liner Buchhandlungen zu finden sind.

Aus alledem dürfte zu ersehe" sein, daß Berlin entweder überhaupt nicht
das Zeug dazu hat, geistig zu führen, oder daß es dazu noch nicht reif genug
ist. Wollten wir das zweite gelten lassen, so wäre die Hoffnung auf eine
geistig führende Reichshauptstadt nicht aufzugeben. Deun die Elemente, aus
denen sich eine Gcisteshauptstadt bildet, befinden sich alle in der großen Spree¬
stadt. Berlin ist die modernste, die einflußreichste aller deutschen Kolonien.
Aus allen Gauen des lieben deutschen Vaterlandes sind tüchtige .Kräfte, helle
Köpfe und warme Herzen dort vereinigt. Vereinigt? Ach nein, nur versam¬
melt, vereinigt sind sie eben nicht. Wenn sich alle die Elemente zu einem
festen Bunde zusammenschließen wollten, der wirkliches Deutschtum in Berlin
verträte, dann konnten sie über das altgeistige, das geistig alte Berlin, das
sich jetzt die Führung anmaßt, siegen. Wenn der seichte Aufkläruugspöbel
g. in Nicolai nicht mehr schreien wird, wenn die litterarischen Ölgötzen Heine und
Börne nicht mehr werden angebetet werden, wenn vor den Altären der Fraktivns-
heiligen nicht mehr der Weihrauch brennen wird, der wie Eigenlob duftet,
wen" das Schmarotzen der Geister im Tiergnrtenviertel aufhören wird, dann
wird Preußisch-Berlin aufhören nud die Brücke von der "Provinz" nach
Deutsch-Berlin vollendet werden, deren Ban jetzt sehr langsam fortschreitet.
Den Pontifex wollen wir hochachten, aber er soll kein Litteraturpapst werden.

Aber selbst wenn dieses neue Geistesberlin zu stände käme -- wäre es
denn ein Glück, wenn Berlin die geistige deutsche Hauptstadt würde, die es
sich einbildet, längst zu sein? .Könnte nicht, wie dereinst im Mittelalter der
höchste Inbegriff des Deutschtums, der Kaiser, keine feste Residenz hatte, sondern
von Pfalz zu Pfalz zog, das, was mächtig und groß im deutschen Leben er¬
scheint, ähnlich von Gnu zu Gau ziehen? Wenn wir eine Nationalbühne, eine


hat, während er sich in Leipzig urbehaglich fühlte. Vor hundert Jahren muß
Berlin auch schon auf eine starke Opposition bei den Geisteshelde» gestoßen
sein. Sagt doch der größte unter ihnen, dessen marmornes Abbild uns die
Spaziergänger des Tiergartens hoheitsvoll herabblickt:


Was jchiert mich der Berliner Bann,
Geschmäcklerpfaffemvescn!

Und wie die Männer, die die Litteratur machen, so scheinen auch die Leute
zu denken, die die Litteratur lesen. Es ist eine bemerkenswerte Beobachtung,
daß die Schicksale des Buches nicht wie die des Theaterstückes durch Berlin
bestimmt werden. Auch die ungünstigste Besprechung, oder was noch schlimmer
ist, das gehässigste Totschweigen eines Buches bei der Berliner Kritik kann
dem Erfolg eines Buches nichts schaden. Es giebt vortreffliche, in ganz Dentsch-
land gelesene Bücher, die von der Berliner Kritik unbeachtet gelassen oder ab¬
gelehnt worden sind, weil der Autor nicht zur Clique gehörte, Bücher, die
jedes Jahr neue Auflagen erleben, und die doch nicht in dem Borrat der Ber¬
liner Buchhandlungen zu finden sind.

Aus alledem dürfte zu ersehe» sein, daß Berlin entweder überhaupt nicht
das Zeug dazu hat, geistig zu führen, oder daß es dazu noch nicht reif genug
ist. Wollten wir das zweite gelten lassen, so wäre die Hoffnung auf eine
geistig führende Reichshauptstadt nicht aufzugeben. Deun die Elemente, aus
denen sich eine Gcisteshauptstadt bildet, befinden sich alle in der großen Spree¬
stadt. Berlin ist die modernste, die einflußreichste aller deutschen Kolonien.
Aus allen Gauen des lieben deutschen Vaterlandes sind tüchtige .Kräfte, helle
Köpfe und warme Herzen dort vereinigt. Vereinigt? Ach nein, nur versam¬
melt, vereinigt sind sie eben nicht. Wenn sich alle die Elemente zu einem
festen Bunde zusammenschließen wollten, der wirkliches Deutschtum in Berlin
verträte, dann konnten sie über das altgeistige, das geistig alte Berlin, das
sich jetzt die Führung anmaßt, siegen. Wenn der seichte Aufkläruugspöbel
g. in Nicolai nicht mehr schreien wird, wenn die litterarischen Ölgötzen Heine und
Börne nicht mehr werden angebetet werden, wenn vor den Altären der Fraktivns-
heiligen nicht mehr der Weihrauch brennen wird, der wie Eigenlob duftet,
wen» das Schmarotzen der Geister im Tiergnrtenviertel aufhören wird, dann
wird Preußisch-Berlin aufhören nud die Brücke von der „Provinz" nach
Deutsch-Berlin vollendet werden, deren Ban jetzt sehr langsam fortschreitet.
Den Pontifex wollen wir hochachten, aber er soll kein Litteraturpapst werden.

Aber selbst wenn dieses neue Geistesberlin zu stände käme — wäre es
denn ein Glück, wenn Berlin die geistige deutsche Hauptstadt würde, die es
sich einbildet, längst zu sein? .Könnte nicht, wie dereinst im Mittelalter der
höchste Inbegriff des Deutschtums, der Kaiser, keine feste Residenz hatte, sondern
von Pfalz zu Pfalz zog, das, was mächtig und groß im deutschen Leben er¬
scheint, ähnlich von Gnu zu Gau ziehen? Wenn wir eine Nationalbühne, eine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/134>, abgerufen am 23.07.2024.