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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Preußisch-Berlin und die deutsche Provinz

Wie kam das Berlin von heute zustande? Die Askanier riefen deutsche
Ansiedler niedersächsischen Stammes, denen holländische Kolonisten folgten, nach
den wendischen Fischervrten Kölln-Rerum. Zähes, phlegmatisches Germanen¬
tum verbindet sich mit heißblütigem Slawentum, dem die verhaltne Tücke des
Unterdrückte" eigentümlich bleibt. Allmählich durchsetzten sich diese beiden
Elemente zu einem gewerbfleisugen Bürgertum, das zur Zeit der Quitzows
durchaus nicht so war, wie es uns Wildenbruch glaube" machen möchte,
sondern das man sich etwa nach der Art westfälisch-hannöverscher Menschen¬
natur mit einem Schuß Polnisch gemischt vorstellen muß. Die wüste Soldateska
des dreißigjährigen Krieges mit ihrem Nationalitätengewirr bringt durch ihre
Orgien in die Stadt, die die Einwohnerzahl etwa des heutigen Jüterbog hatte,
buntes Blut. Fünfzig Jahre später überschwemmen die vom Großen Kur¬
fürsten freundlich aufgeuommneu französischen Protestanten die märkische Haupt¬
stadt, von deren Einwohnerschaft sie bald den dritten Teil bilden. Neue
Ansiedler aus Süddeutschland und der Schweiz kommen nnter den drei ersten
preußischen Königen hinzu. Zugleich beginnen die ersten Einwanderungen der
Juden aus dem Osten. Etwa seit hundert Jahren verstärkt sich diese Ein¬
wanderung aus dem Osten durch polnisch-katholische Elemente. Innerhalb
der letzten dreißig Jahre, seit sich Deutschlands Augen mehr als bisher ans
Berlin richten, nimmt die Eimvauderuug aus allen preußischen Provinzen
freilich bleibe" die östlichen immer am stärksten vertreten) märchenhaften Um¬
fang an. Aus allen Teilen Deutschlands rekrutirt sich das Beamtenheer der
neugeschaffnem Reichsbehördeu. Händler, die in der Spreestadt ein Eldorado,
Arbeiter, die hier besser bezahlte Beschäftigung zu finden hoffen, strömen in
Scharen hin.

Je mehr sich diese Leute enttäuscht sehen, desto größer wird in der
ohnedies zur Kritik geneigten Berliner Bevölkerung, die sich in dreißig Jahren
verdreifacht hat, die Unzufriedenheit. Das neue Reich, die glorreiche Erfüllung
innigster deutscher Wünsche, ist der Reichshnuptstadt nicht zum Segen ge¬
diehen. Der Millinrdenrausch mit dem Gründerkatzenjnmmer war noch nicht
das schlimmste Übel. Die Krankheit ward überstanden, aber der Körper
des Patienten ist nicht groß genug, als daß ihm der weite Rock paßte, deu
ihm die neuen großartigen deutschen Verhältnisse zugemessen haben. Geistig
"ut körperlich beweglich, wie der Berliner ist, reckt und streckt er sich, um in
den Rock hineinzuwachsen, aber bis jetzt ist ihm das nicht gelungen. Daher
der komische Gegensatz zwischen dem Berlin, wie es sich vorkommt, und dem
Berlin, wie es wirklich ist. Daher die Kleinstädterei, die in sehr vielen
Berliner Verhältnissen, die freilich nur der Einheimische beobachten kann, zu
Tage tritt.

Das Gleichnis von dem zu weitem Rock paßt namentlich auch auf die
Berliner Presse, die weit unter dem Zcitungsniveau einer Reichshauptstadt


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Preußisch-Berlin und die deutsche Provinz

Wie kam das Berlin von heute zustande? Die Askanier riefen deutsche
Ansiedler niedersächsischen Stammes, denen holländische Kolonisten folgten, nach
den wendischen Fischervrten Kölln-Rerum. Zähes, phlegmatisches Germanen¬
tum verbindet sich mit heißblütigem Slawentum, dem die verhaltne Tücke des
Unterdrückte» eigentümlich bleibt. Allmählich durchsetzten sich diese beiden
Elemente zu einem gewerbfleisugen Bürgertum, das zur Zeit der Quitzows
durchaus nicht so war, wie es uns Wildenbruch glaube» machen möchte,
sondern das man sich etwa nach der Art westfälisch-hannöverscher Menschen¬
natur mit einem Schuß Polnisch gemischt vorstellen muß. Die wüste Soldateska
des dreißigjährigen Krieges mit ihrem Nationalitätengewirr bringt durch ihre
Orgien in die Stadt, die die Einwohnerzahl etwa des heutigen Jüterbog hatte,
buntes Blut. Fünfzig Jahre später überschwemmen die vom Großen Kur¬
fürsten freundlich aufgeuommneu französischen Protestanten die märkische Haupt¬
stadt, von deren Einwohnerschaft sie bald den dritten Teil bilden. Neue
Ansiedler aus Süddeutschland und der Schweiz kommen nnter den drei ersten
preußischen Königen hinzu. Zugleich beginnen die ersten Einwanderungen der
Juden aus dem Osten. Etwa seit hundert Jahren verstärkt sich diese Ein¬
wanderung aus dem Osten durch polnisch-katholische Elemente. Innerhalb
der letzten dreißig Jahre, seit sich Deutschlands Augen mehr als bisher ans
Berlin richten, nimmt die Eimvauderuug aus allen preußischen Provinzen
freilich bleibe» die östlichen immer am stärksten vertreten) märchenhaften Um¬
fang an. Aus allen Teilen Deutschlands rekrutirt sich das Beamtenheer der
neugeschaffnem Reichsbehördeu. Händler, die in der Spreestadt ein Eldorado,
Arbeiter, die hier besser bezahlte Beschäftigung zu finden hoffen, strömen in
Scharen hin.

Je mehr sich diese Leute enttäuscht sehen, desto größer wird in der
ohnedies zur Kritik geneigten Berliner Bevölkerung, die sich in dreißig Jahren
verdreifacht hat, die Unzufriedenheit. Das neue Reich, die glorreiche Erfüllung
innigster deutscher Wünsche, ist der Reichshnuptstadt nicht zum Segen ge¬
diehen. Der Millinrdenrausch mit dem Gründerkatzenjnmmer war noch nicht
das schlimmste Übel. Die Krankheit ward überstanden, aber der Körper
des Patienten ist nicht groß genug, als daß ihm der weite Rock paßte, deu
ihm die neuen großartigen deutschen Verhältnisse zugemessen haben. Geistig
"ut körperlich beweglich, wie der Berliner ist, reckt und streckt er sich, um in
den Rock hineinzuwachsen, aber bis jetzt ist ihm das nicht gelungen. Daher
der komische Gegensatz zwischen dem Berlin, wie es sich vorkommt, und dem
Berlin, wie es wirklich ist. Daher die Kleinstädterei, die in sehr vielen
Berliner Verhältnissen, die freilich nur der Einheimische beobachten kann, zu
Tage tritt.

Das Gleichnis von dem zu weitem Rock paßt namentlich auch auf die
Berliner Presse, die weit unter dem Zcitungsniveau einer Reichshauptstadt


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[0131] Preußisch-Berlin und die deutsche Provinz Wie kam das Berlin von heute zustande? Die Askanier riefen deutsche Ansiedler niedersächsischen Stammes, denen holländische Kolonisten folgten, nach den wendischen Fischervrten Kölln-Rerum. Zähes, phlegmatisches Germanen¬ tum verbindet sich mit heißblütigem Slawentum, dem die verhaltne Tücke des Unterdrückte» eigentümlich bleibt. Allmählich durchsetzten sich diese beiden Elemente zu einem gewerbfleisugen Bürgertum, das zur Zeit der Quitzows durchaus nicht so war, wie es uns Wildenbruch glaube» machen möchte, sondern das man sich etwa nach der Art westfälisch-hannöverscher Menschen¬ natur mit einem Schuß Polnisch gemischt vorstellen muß. Die wüste Soldateska des dreißigjährigen Krieges mit ihrem Nationalitätengewirr bringt durch ihre Orgien in die Stadt, die die Einwohnerzahl etwa des heutigen Jüterbog hatte, buntes Blut. Fünfzig Jahre später überschwemmen die vom Großen Kur¬ fürsten freundlich aufgeuommneu französischen Protestanten die märkische Haupt¬ stadt, von deren Einwohnerschaft sie bald den dritten Teil bilden. Neue Ansiedler aus Süddeutschland und der Schweiz kommen nnter den drei ersten preußischen Königen hinzu. Zugleich beginnen die ersten Einwanderungen der Juden aus dem Osten. Etwa seit hundert Jahren verstärkt sich diese Ein¬ wanderung aus dem Osten durch polnisch-katholische Elemente. Innerhalb der letzten dreißig Jahre, seit sich Deutschlands Augen mehr als bisher ans Berlin richten, nimmt die Eimvauderuug aus allen preußischen Provinzen freilich bleibe» die östlichen immer am stärksten vertreten) märchenhaften Um¬ fang an. Aus allen Teilen Deutschlands rekrutirt sich das Beamtenheer der neugeschaffnem Reichsbehördeu. Händler, die in der Spreestadt ein Eldorado, Arbeiter, die hier besser bezahlte Beschäftigung zu finden hoffen, strömen in Scharen hin. Je mehr sich diese Leute enttäuscht sehen, desto größer wird in der ohnedies zur Kritik geneigten Berliner Bevölkerung, die sich in dreißig Jahren verdreifacht hat, die Unzufriedenheit. Das neue Reich, die glorreiche Erfüllung innigster deutscher Wünsche, ist der Reichshnuptstadt nicht zum Segen ge¬ diehen. Der Millinrdenrausch mit dem Gründerkatzenjnmmer war noch nicht das schlimmste Übel. Die Krankheit ward überstanden, aber der Körper des Patienten ist nicht groß genug, als daß ihm der weite Rock paßte, deu ihm die neuen großartigen deutschen Verhältnisse zugemessen haben. Geistig "ut körperlich beweglich, wie der Berliner ist, reckt und streckt er sich, um in den Rock hineinzuwachsen, aber bis jetzt ist ihm das nicht gelungen. Daher der komische Gegensatz zwischen dem Berlin, wie es sich vorkommt, und dem Berlin, wie es wirklich ist. Daher die Kleinstädterei, die in sehr vielen Berliner Verhältnissen, die freilich nur der Einheimische beobachten kann, zu Tage tritt. Das Gleichnis von dem zu weitem Rock paßt namentlich auch auf die Berliner Presse, die weit unter dem Zcitungsniveau einer Reichshauptstadt Ättuzvvte» u I8W

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/131>, abgerufen am 23.07.2024.