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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Leopold von Gerlach

der kurhessische Verfassungsstreit. Da sich der Rumpfbuudestag in Frankfurt
(seit dein 2. September), deu Preußen nicht anerkannte, des Kurfürsten gegen
seine Unterthanen annahm und ihm Hilfe zusagte, so mußte auch Gerlach zu¬
geben, daß ein Bündnis Preußens mit den "hessischen Rebellen" unvermeid¬
lich sei, weil Preußen dieses wichtige Zwischenland mit seinen Etappenstraße"
nicht in die Hände seiner Gegner fallen lassen konnte. Aber dieser Gedanke war
ihm höchst widerwärtig, er sah jetzt seine Stellung wirklich für unhaltbar an und
nahm Urlaub, um seinen Rücktritt vorzubereiten. Während dessen erfuhr er auf
seinem Gute Rohrbeck, daß Radowitz am 24. September zum Minister des Aus¬
wärtigen ernannt sei, das Schlimmste, was in seinen Augeugeschehen konnte,

Und doch war der Sieg seiner eignen Sache näher, als er selbst glaubte.
Der König dachte gar nicht daran, sich von Gerlach zu trennen, und diesem
kam die mächtigste Hilfe von Nußland her. An sich war ihm die Einmischung
des Zaren nicht unbedingt willkommen; er äußert gelegentlich seine Freude
darüber, daß Petersburg so außer aller Welt liege und Rußland daher ge¬
wöhnlich zu spät komme; aber in diesem Falle und in dieser Form hatte er
gegen die russische "Vermittlung" nichts einzuwenden. Schon am 28. August
hatte er von dem preußischen Gesandten in Petersburg, General von Rochow,
die Aufforderung erhalten, für eine Zusammenkunft des Königs mit dem Zaren
in Warschau zu wirren. Damals schrieb der König zunächst an die Kaiserin,
seine Schwester Charlotte, die Verfassung (der Union) vom 26. Mai sei that¬
sächlich schon aufgegeben, und Ende September versicherte er dem Zaren
brieflich, Preußen werde demnächst amtlich erklären, die Uuionsverfassuug sei
unhaltbar, Deutschland müsse ans einem freien Kongreß der deutschen Staaten
neu geordnet werdeu, und Preußen behalte sich auf Grund von Paragraph 11
der Bundesakte vor, mit den Fürsten, die sich durch deu weitern Bund noch
nicht genug gesichert glaubten, einen engern Bund zu schließen. Nach Warschau
wollte er selbst nicht gehen, er schickte vielmehr deu Grafen Brandenburg, der
am 15. Oktober dahin abreiste. Wie Gerlach versichert, erschwerte das Mi߬
trauen des Zaren gegen Radowitz die Verhandlungen sehr. Jedenfalls kam
Brandenburg am 31. Oktober mit dem festen Entschlüsse zurück, den Frieden
uuter allen Umständen zu wahren, da die noch nicht verglichneu Punkte (ob
Preußen seine schattenhafte Union förmlich aufheben solle oder nicht, und ob
in Kurhessen und Holstein der von ihm nicht anerkannte Rumpfbuudestag die
Reaktion durchführen solle oder Preußen mit Österreich allein) des Krieges
gegen zwei Großmächte und halb Deutschland nicht wert sei. In gleichem
Sinne schlug Gerlach am 1. November dem Grafen vor, in Hessen die Etappen¬
straßen zu behaupten, Fulda und Hanau den angekündigten bairischen Exe-
kutivustruppeu einzuräumen, das Verfahren gegen Holstein bis zur Einigung
über die deutsche Verfassung zu verschieben und Baden mit Rastcitt "diplomatisch
zu verkaufen," am Bundestage einen Wechsel des Präsidiums zwischen Preußen


Leopold von Gerlach

der kurhessische Verfassungsstreit. Da sich der Rumpfbuudestag in Frankfurt
(seit dein 2. September), deu Preußen nicht anerkannte, des Kurfürsten gegen
seine Unterthanen annahm und ihm Hilfe zusagte, so mußte auch Gerlach zu¬
geben, daß ein Bündnis Preußens mit den „hessischen Rebellen" unvermeid¬
lich sei, weil Preußen dieses wichtige Zwischenland mit seinen Etappenstraße»
nicht in die Hände seiner Gegner fallen lassen konnte. Aber dieser Gedanke war
ihm höchst widerwärtig, er sah jetzt seine Stellung wirklich für unhaltbar an und
nahm Urlaub, um seinen Rücktritt vorzubereiten. Während dessen erfuhr er auf
seinem Gute Rohrbeck, daß Radowitz am 24. September zum Minister des Aus¬
wärtigen ernannt sei, das Schlimmste, was in seinen Augeugeschehen konnte,

Und doch war der Sieg seiner eignen Sache näher, als er selbst glaubte.
Der König dachte gar nicht daran, sich von Gerlach zu trennen, und diesem
kam die mächtigste Hilfe von Nußland her. An sich war ihm die Einmischung
des Zaren nicht unbedingt willkommen; er äußert gelegentlich seine Freude
darüber, daß Petersburg so außer aller Welt liege und Rußland daher ge¬
wöhnlich zu spät komme; aber in diesem Falle und in dieser Form hatte er
gegen die russische „Vermittlung" nichts einzuwenden. Schon am 28. August
hatte er von dem preußischen Gesandten in Petersburg, General von Rochow,
die Aufforderung erhalten, für eine Zusammenkunft des Königs mit dem Zaren
in Warschau zu wirren. Damals schrieb der König zunächst an die Kaiserin,
seine Schwester Charlotte, die Verfassung (der Union) vom 26. Mai sei that¬
sächlich schon aufgegeben, und Ende September versicherte er dem Zaren
brieflich, Preußen werde demnächst amtlich erklären, die Uuionsverfassuug sei
unhaltbar, Deutschland müsse ans einem freien Kongreß der deutschen Staaten
neu geordnet werdeu, und Preußen behalte sich auf Grund von Paragraph 11
der Bundesakte vor, mit den Fürsten, die sich durch deu weitern Bund noch
nicht genug gesichert glaubten, einen engern Bund zu schließen. Nach Warschau
wollte er selbst nicht gehen, er schickte vielmehr deu Grafen Brandenburg, der
am 15. Oktober dahin abreiste. Wie Gerlach versichert, erschwerte das Mi߬
trauen des Zaren gegen Radowitz die Verhandlungen sehr. Jedenfalls kam
Brandenburg am 31. Oktober mit dem festen Entschlüsse zurück, den Frieden
uuter allen Umständen zu wahren, da die noch nicht verglichneu Punkte (ob
Preußen seine schattenhafte Union förmlich aufheben solle oder nicht, und ob
in Kurhessen und Holstein der von ihm nicht anerkannte Rumpfbuudestag die
Reaktion durchführen solle oder Preußen mit Österreich allein) des Krieges
gegen zwei Großmächte und halb Deutschland nicht wert sei. In gleichem
Sinne schlug Gerlach am 1. November dem Grafen vor, in Hessen die Etappen¬
straßen zu behaupten, Fulda und Hanau den angekündigten bairischen Exe-
kutivustruppeu einzuräumen, das Verfahren gegen Holstein bis zur Einigung
über die deutsche Verfassung zu verschieben und Baden mit Rastcitt „diplomatisch
zu verkaufen," am Bundestage einen Wechsel des Präsidiums zwischen Preußen


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[0641] Leopold von Gerlach der kurhessische Verfassungsstreit. Da sich der Rumpfbuudestag in Frankfurt (seit dein 2. September), deu Preußen nicht anerkannte, des Kurfürsten gegen seine Unterthanen annahm und ihm Hilfe zusagte, so mußte auch Gerlach zu¬ geben, daß ein Bündnis Preußens mit den „hessischen Rebellen" unvermeid¬ lich sei, weil Preußen dieses wichtige Zwischenland mit seinen Etappenstraße» nicht in die Hände seiner Gegner fallen lassen konnte. Aber dieser Gedanke war ihm höchst widerwärtig, er sah jetzt seine Stellung wirklich für unhaltbar an und nahm Urlaub, um seinen Rücktritt vorzubereiten. Während dessen erfuhr er auf seinem Gute Rohrbeck, daß Radowitz am 24. September zum Minister des Aus¬ wärtigen ernannt sei, das Schlimmste, was in seinen Augeugeschehen konnte, Und doch war der Sieg seiner eignen Sache näher, als er selbst glaubte. Der König dachte gar nicht daran, sich von Gerlach zu trennen, und diesem kam die mächtigste Hilfe von Nußland her. An sich war ihm die Einmischung des Zaren nicht unbedingt willkommen; er äußert gelegentlich seine Freude darüber, daß Petersburg so außer aller Welt liege und Rußland daher ge¬ wöhnlich zu spät komme; aber in diesem Falle und in dieser Form hatte er gegen die russische „Vermittlung" nichts einzuwenden. Schon am 28. August hatte er von dem preußischen Gesandten in Petersburg, General von Rochow, die Aufforderung erhalten, für eine Zusammenkunft des Königs mit dem Zaren in Warschau zu wirren. Damals schrieb der König zunächst an die Kaiserin, seine Schwester Charlotte, die Verfassung (der Union) vom 26. Mai sei that¬ sächlich schon aufgegeben, und Ende September versicherte er dem Zaren brieflich, Preußen werde demnächst amtlich erklären, die Uuionsverfassuug sei unhaltbar, Deutschland müsse ans einem freien Kongreß der deutschen Staaten neu geordnet werdeu, und Preußen behalte sich auf Grund von Paragraph 11 der Bundesakte vor, mit den Fürsten, die sich durch deu weitern Bund noch nicht genug gesichert glaubten, einen engern Bund zu schließen. Nach Warschau wollte er selbst nicht gehen, er schickte vielmehr deu Grafen Brandenburg, der am 15. Oktober dahin abreiste. Wie Gerlach versichert, erschwerte das Mi߬ trauen des Zaren gegen Radowitz die Verhandlungen sehr. Jedenfalls kam Brandenburg am 31. Oktober mit dem festen Entschlüsse zurück, den Frieden uuter allen Umständen zu wahren, da die noch nicht verglichneu Punkte (ob Preußen seine schattenhafte Union förmlich aufheben solle oder nicht, und ob in Kurhessen und Holstein der von ihm nicht anerkannte Rumpfbuudestag die Reaktion durchführen solle oder Preußen mit Österreich allein) des Krieges gegen zwei Großmächte und halb Deutschland nicht wert sei. In gleichem Sinne schlug Gerlach am 1. November dem Grafen vor, in Hessen die Etappen¬ straßen zu behaupten, Fulda und Hanau den angekündigten bairischen Exe- kutivustruppeu einzuräumen, das Verfahren gegen Holstein bis zur Einigung über die deutsche Verfassung zu verschieben und Baden mit Rastcitt „diplomatisch zu verkaufen," am Bundestage einen Wechsel des Präsidiums zwischen Preußen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/641>, abgerufen am 26.06.2024.