Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zwei erfolglose Dichter

poetische Lebenswärme auch bei dem Leser wecken, und so sehr er uns ans der
einen Seite mit günstigem Vorurteil für den großen Zug in seiner Erfindung,
für die Bedeutung seiner Handlung erfüllt, so unbefriedigt läßt er auf der
andern das Bedürfnis nach quellender Unmittelbarkeit der Charakteristik und
nach dem natürlichen Reiz warmer Lebensfülle im einzelnen. Trotzdem darf
Nissel die Teilnahme ernster Freunde der Dichtung für diese Dramen fordern,
ihre Vorzüge wie ihre Mängel sollten diese Freunde sich nicht bloß vom
Kritiker und vom Literarhistoriker berichten lassen, sondern sie selbst prüfen
und gegen einander abwägen. Möglich, daß eine Zeit kommt, die um der
Vorzüge willen die Mängel geringer anschlägt, möglich endlich, daß bei guter
Aufführung die Mängel zurück-, die Vorzüge leuchtend hervortreten. Die
Leistungen wie die Schicksale des Dichterlebeus, das in den dramatischen
Werken dieses Bandes gespiegelt ist, lassen Franz Nissel wohl im Sinne des
Tages als einen "erfolglosen" Dichter erscheinen. Aber Wert und Zukunft
unsrer Litteratur beruhen darauf, daß es jederzeit Dichter seines Gepräges,
seines Ernstes in Verfolgung künstlerischer Ziele gebe. Und da es besser ist,
anzuerkennen, wie einer mit seinem Pfund gewundert hat, als zu betonen, daß
ihm nur ein und nicht zehn Pfunde verliehe" worden sind, so wollen wir
schließlich dem Wiener Dichter noch eine Reihe jeuer bescheidnen Genugthuungen
wünschen, die für ihn und seinesgleichen Erfolge sind.

Ist Franz Nissel der dentschen Leserwelt unbekannt geblieben, weil diese
Leserwelt nur in den seltensten Fällen dramatische Dichtungen liest, und weil
der Dichter, immer nur die Bühne im Auge, es sogar selbst verabsäumt hat,
die Möglichkeit, gelesen zu werden (die darum noch lange keine Wahrschein¬
lichkeit ist), durch Herausgabe seiner Dramen vorzubereiten, so steht es bei
dem zweiten unsrer erfolglosen Dichter anders. Ludwig Eichrvdt, der Lyriker,
hat längst vor der Sammlung seiner Dichtungen, die zum Abschluß seines
Schaffens überhaupt wurde, und seit der Herausgabe seiner "Gedichte in allerlei
Hnmvren" das meiste, was ihm die Muse in guter Stunde gegönnt hatte,
in die Öffentlichkeit geschickt. Sein kleines Drama "Die Pfalzgrafen" und
manches andre ist schon vor Jahrzehnten erschienen, ohne über einen engen
Kreis hinaufzubringen. Die Erklärung dafür liegt nahe genug, und die Samm¬
lung der Dichtungen giebt sie mit ihrer Einteilung selbst. Von den zwei
stattlichen Bänden nennt sich der erste, der die ernstgemeinten Gedichte Eich-
rvdts bringt, "Lyra," der zweite, aber aus humoristischen, satirischen, iro¬
nischen und parodistischen Liedern, Balladen und Phantasiestücken zusammen¬
gesetzt, heißt "Kehraus" und stellt den lustigen Ludwig Eichrvdt, den jeder
kennt, der je ein Kommersbuch in den Händen gehabt, wieder vor Angen.
Die "Deutschen Strophen," das "Buch Viedermaicr," die "Lyrischen Karri-
knturen" und "Säufer und Satiren" sind volkstümlich geworden, ihre
hübschesten Stellen und Wendungen haften in dem Gedächtnis von Tausenden,


Zwei erfolglose Dichter

poetische Lebenswärme auch bei dem Leser wecken, und so sehr er uns ans der
einen Seite mit günstigem Vorurteil für den großen Zug in seiner Erfindung,
für die Bedeutung seiner Handlung erfüllt, so unbefriedigt läßt er auf der
andern das Bedürfnis nach quellender Unmittelbarkeit der Charakteristik und
nach dem natürlichen Reiz warmer Lebensfülle im einzelnen. Trotzdem darf
Nissel die Teilnahme ernster Freunde der Dichtung für diese Dramen fordern,
ihre Vorzüge wie ihre Mängel sollten diese Freunde sich nicht bloß vom
Kritiker und vom Literarhistoriker berichten lassen, sondern sie selbst prüfen
und gegen einander abwägen. Möglich, daß eine Zeit kommt, die um der
Vorzüge willen die Mängel geringer anschlägt, möglich endlich, daß bei guter
Aufführung die Mängel zurück-, die Vorzüge leuchtend hervortreten. Die
Leistungen wie die Schicksale des Dichterlebeus, das in den dramatischen
Werken dieses Bandes gespiegelt ist, lassen Franz Nissel wohl im Sinne des
Tages als einen „erfolglosen" Dichter erscheinen. Aber Wert und Zukunft
unsrer Litteratur beruhen darauf, daß es jederzeit Dichter seines Gepräges,
seines Ernstes in Verfolgung künstlerischer Ziele gebe. Und da es besser ist,
anzuerkennen, wie einer mit seinem Pfund gewundert hat, als zu betonen, daß
ihm nur ein und nicht zehn Pfunde verliehe» worden sind, so wollen wir
schließlich dem Wiener Dichter noch eine Reihe jeuer bescheidnen Genugthuungen
wünschen, die für ihn und seinesgleichen Erfolge sind.

Ist Franz Nissel der dentschen Leserwelt unbekannt geblieben, weil diese
Leserwelt nur in den seltensten Fällen dramatische Dichtungen liest, und weil
der Dichter, immer nur die Bühne im Auge, es sogar selbst verabsäumt hat,
die Möglichkeit, gelesen zu werden (die darum noch lange keine Wahrschein¬
lichkeit ist), durch Herausgabe seiner Dramen vorzubereiten, so steht es bei
dem zweiten unsrer erfolglosen Dichter anders. Ludwig Eichrvdt, der Lyriker,
hat längst vor der Sammlung seiner Dichtungen, die zum Abschluß seines
Schaffens überhaupt wurde, und seit der Herausgabe seiner „Gedichte in allerlei
Hnmvren" das meiste, was ihm die Muse in guter Stunde gegönnt hatte,
in die Öffentlichkeit geschickt. Sein kleines Drama „Die Pfalzgrafen" und
manches andre ist schon vor Jahrzehnten erschienen, ohne über einen engen
Kreis hinaufzubringen. Die Erklärung dafür liegt nahe genug, und die Samm¬
lung der Dichtungen giebt sie mit ihrer Einteilung selbst. Von den zwei
stattlichen Bänden nennt sich der erste, der die ernstgemeinten Gedichte Eich-
rvdts bringt, „Lyra," der zweite, aber aus humoristischen, satirischen, iro¬
nischen und parodistischen Liedern, Balladen und Phantasiestücken zusammen¬
gesetzt, heißt „Kehraus" und stellt den lustigen Ludwig Eichrvdt, den jeder
kennt, der je ein Kommersbuch in den Händen gehabt, wieder vor Angen.
Die „Deutschen Strophen," das „Buch Viedermaicr," die „Lyrischen Karri-
knturen" und „Säufer und Satiren" sind volkstümlich geworden, ihre
hübschesten Stellen und Wendungen haften in dem Gedächtnis von Tausenden,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0594" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214386"/>
          <fw type="header" place="top"> Zwei erfolglose Dichter</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2113" prev="#ID_2112"> poetische Lebenswärme auch bei dem Leser wecken, und so sehr er uns ans der<lb/>
einen Seite mit günstigem Vorurteil für den großen Zug in seiner Erfindung,<lb/>
für die Bedeutung seiner Handlung erfüllt, so unbefriedigt läßt er auf der<lb/>
andern das Bedürfnis nach quellender Unmittelbarkeit der Charakteristik und<lb/>
nach dem natürlichen Reiz warmer Lebensfülle im einzelnen. Trotzdem darf<lb/>
Nissel die Teilnahme ernster Freunde der Dichtung für diese Dramen fordern,<lb/>
ihre Vorzüge wie ihre Mängel sollten diese Freunde sich nicht bloß vom<lb/>
Kritiker und vom Literarhistoriker berichten lassen, sondern sie selbst prüfen<lb/>
und gegen einander abwägen. Möglich, daß eine Zeit kommt, die um der<lb/>
Vorzüge willen die Mängel geringer anschlägt, möglich endlich, daß bei guter<lb/>
Aufführung die Mängel zurück-, die Vorzüge leuchtend hervortreten. Die<lb/>
Leistungen wie die Schicksale des Dichterlebeus, das in den dramatischen<lb/>
Werken dieses Bandes gespiegelt ist, lassen Franz Nissel wohl im Sinne des<lb/>
Tages als einen &#x201E;erfolglosen" Dichter erscheinen. Aber Wert und Zukunft<lb/>
unsrer Litteratur beruhen darauf, daß es jederzeit Dichter seines Gepräges,<lb/>
seines Ernstes in Verfolgung künstlerischer Ziele gebe. Und da es besser ist,<lb/>
anzuerkennen, wie einer mit seinem Pfund gewundert hat, als zu betonen, daß<lb/>
ihm nur ein und nicht zehn Pfunde verliehe» worden sind, so wollen wir<lb/>
schließlich dem Wiener Dichter noch eine Reihe jeuer bescheidnen Genugthuungen<lb/>
wünschen, die für ihn und seinesgleichen Erfolge sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2114" next="#ID_2115"> Ist Franz Nissel der dentschen Leserwelt unbekannt geblieben, weil diese<lb/>
Leserwelt nur in den seltensten Fällen dramatische Dichtungen liest, und weil<lb/>
der Dichter, immer nur die Bühne im Auge, es sogar selbst verabsäumt hat,<lb/>
die Möglichkeit, gelesen zu werden (die darum noch lange keine Wahrschein¬<lb/>
lichkeit ist), durch Herausgabe seiner Dramen vorzubereiten, so steht es bei<lb/>
dem zweiten unsrer erfolglosen Dichter anders. Ludwig Eichrvdt, der Lyriker,<lb/>
hat längst vor der Sammlung seiner Dichtungen, die zum Abschluß seines<lb/>
Schaffens überhaupt wurde, und seit der Herausgabe seiner &#x201E;Gedichte in allerlei<lb/>
Hnmvren" das meiste, was ihm die Muse in guter Stunde gegönnt hatte,<lb/>
in die Öffentlichkeit geschickt. Sein kleines Drama &#x201E;Die Pfalzgrafen" und<lb/>
manches andre ist schon vor Jahrzehnten erschienen, ohne über einen engen<lb/>
Kreis hinaufzubringen. Die Erklärung dafür liegt nahe genug, und die Samm¬<lb/>
lung der Dichtungen giebt sie mit ihrer Einteilung selbst. Von den zwei<lb/>
stattlichen Bänden nennt sich der erste, der die ernstgemeinten Gedichte Eich-<lb/>
rvdts bringt, &#x201E;Lyra," der zweite, aber aus humoristischen, satirischen, iro¬<lb/>
nischen und parodistischen Liedern, Balladen und Phantasiestücken zusammen¬<lb/>
gesetzt, heißt &#x201E;Kehraus" und stellt den lustigen Ludwig Eichrvdt, den jeder<lb/>
kennt, der je ein Kommersbuch in den Händen gehabt, wieder vor Angen.<lb/>
Die &#x201E;Deutschen Strophen," das &#x201E;Buch Viedermaicr," die &#x201E;Lyrischen Karri-<lb/>
knturen" und &#x201E;Säufer und Satiren" sind volkstümlich geworden, ihre<lb/>
hübschesten Stellen und Wendungen haften in dem Gedächtnis von Tausenden,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0594] Zwei erfolglose Dichter poetische Lebenswärme auch bei dem Leser wecken, und so sehr er uns ans der einen Seite mit günstigem Vorurteil für den großen Zug in seiner Erfindung, für die Bedeutung seiner Handlung erfüllt, so unbefriedigt läßt er auf der andern das Bedürfnis nach quellender Unmittelbarkeit der Charakteristik und nach dem natürlichen Reiz warmer Lebensfülle im einzelnen. Trotzdem darf Nissel die Teilnahme ernster Freunde der Dichtung für diese Dramen fordern, ihre Vorzüge wie ihre Mängel sollten diese Freunde sich nicht bloß vom Kritiker und vom Literarhistoriker berichten lassen, sondern sie selbst prüfen und gegen einander abwägen. Möglich, daß eine Zeit kommt, die um der Vorzüge willen die Mängel geringer anschlägt, möglich endlich, daß bei guter Aufführung die Mängel zurück-, die Vorzüge leuchtend hervortreten. Die Leistungen wie die Schicksale des Dichterlebeus, das in den dramatischen Werken dieses Bandes gespiegelt ist, lassen Franz Nissel wohl im Sinne des Tages als einen „erfolglosen" Dichter erscheinen. Aber Wert und Zukunft unsrer Litteratur beruhen darauf, daß es jederzeit Dichter seines Gepräges, seines Ernstes in Verfolgung künstlerischer Ziele gebe. Und da es besser ist, anzuerkennen, wie einer mit seinem Pfund gewundert hat, als zu betonen, daß ihm nur ein und nicht zehn Pfunde verliehe» worden sind, so wollen wir schließlich dem Wiener Dichter noch eine Reihe jeuer bescheidnen Genugthuungen wünschen, die für ihn und seinesgleichen Erfolge sind. Ist Franz Nissel der dentschen Leserwelt unbekannt geblieben, weil diese Leserwelt nur in den seltensten Fällen dramatische Dichtungen liest, und weil der Dichter, immer nur die Bühne im Auge, es sogar selbst verabsäumt hat, die Möglichkeit, gelesen zu werden (die darum noch lange keine Wahrschein¬ lichkeit ist), durch Herausgabe seiner Dramen vorzubereiten, so steht es bei dem zweiten unsrer erfolglosen Dichter anders. Ludwig Eichrvdt, der Lyriker, hat längst vor der Sammlung seiner Dichtungen, die zum Abschluß seines Schaffens überhaupt wurde, und seit der Herausgabe seiner „Gedichte in allerlei Hnmvren" das meiste, was ihm die Muse in guter Stunde gegönnt hatte, in die Öffentlichkeit geschickt. Sein kleines Drama „Die Pfalzgrafen" und manches andre ist schon vor Jahrzehnten erschienen, ohne über einen engen Kreis hinaufzubringen. Die Erklärung dafür liegt nahe genug, und die Samm¬ lung der Dichtungen giebt sie mit ihrer Einteilung selbst. Von den zwei stattlichen Bänden nennt sich der erste, der die ernstgemeinten Gedichte Eich- rvdts bringt, „Lyra," der zweite, aber aus humoristischen, satirischen, iro¬ nischen und parodistischen Liedern, Balladen und Phantasiestücken zusammen¬ gesetzt, heißt „Kehraus" und stellt den lustigen Ludwig Eichrvdt, den jeder kennt, der je ein Kommersbuch in den Händen gehabt, wieder vor Angen. Die „Deutschen Strophen," das „Buch Viedermaicr," die „Lyrischen Karri- knturen" und „Säufer und Satiren" sind volkstümlich geworden, ihre hübschesten Stellen und Wendungen haften in dem Gedächtnis von Tausenden,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/594
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/594>, abgerufen am 26.06.2024.