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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Leopold von Geruch

Wenn Ludwig von Gerlach ünßerte, der Gegensatz der Prinzipien sei viel
stärker als der der Nationalitäten, so wird er damit auch die Meinung seines
Bruders Leopold getroffen haben, wie das Stahls Sätzen entspricht.

Nun ist es sehr merkwürdig, zu sehen, wie diese Weltauffassung, der
Gerlach mit solcher Überzeugung huldigt, eigentlich mit seinem ganzen innern
Wesen in Widerspruch steht und es niemals vollkommen überwältigen kann.
An sich war er nichts weniger als ein Doktrinär, sondern sehr befähigt und
geneigt, die Wirklichkeit scharf aufzufassen. Er beobachtete vortrefflich. Die
kurze Schilderung des kaum Dreiundzwmizigjährigen von den verschiednen
Strömungen, die sich im Frühjahr 1813 in Breslau kreuzten, ist von er¬
staunlicher Schärfe, seine Bemerkungen über russische Verhältnisse treffen deu
Nagel auf deu Kopf, und seine historischen Rückblicke sind, wem? nicht immer
unbefangen, doch immer geistvoll, wie z. V. die innere Entwicklung Preußens
von 1815 bis 1840 mit so kurzen Worten schwerlich besser charakterisirt
werden kann, als es Gerlach 1845 thut: "1815 bis 1820 Herrschaft des
Hardenbergschen Offiziautcnliberalismus ^der liberalen Bureaukratie), 1820
bis 1830 Stagnation, großes Ansehen und große Popularität des Königs,
1330 bis 1840 allmählicher Verfall und Auftauchen der liberalen Partei."
Aber allmählich scheint ihm seine Doktrin diese Fähigkeit und Neigung immer
mehr beschränkt zu haben. Das, was an der Bewegung von 1848/49 be¬
rechtigt war, hat er niemals auch mir zu verstehn versucht, mit Männern,
die sie vertraten, sich auseinanderzusetzen, hat er, Nadowitz ausgenommen,
niemals den Trieb verspürt; diesem gegenüber sagt er einmal 1850, er danke
Gott, daß er ihn "vor jeder Berührung mit der Revolution in dieser schweren
Zeit bewahrt" habe. Dagegen widerstrebte seine tapfre und thatkräftige Natur
im Innersten jener Thatenscheu, jenem "Quietismus," der aus der Stahlschen
Staatsauffassung an sich folgt. Es fällt ihm gar nicht ein, die Entwicklung
der Dinge ruhig abzuwarten, er ist namentlich in den Vewegungsjahreu un¬
ermüdlich gegen die "Revolution" thätig und wird schließlich, wie er meint,
ganz gegen seine Natur, zum anerkannten Parteihaupt. Freilich empfindet er
den Widerspruch fortwährend, und seine staatsmännische Wirksamkeit macht
ihm deshalb gar keine Frende. Überaus bezeichnend ist in dieser Beziehung
der Ausruf: "Welch trauriger Beruf ist der eines Staatsmannes; man gelangt
in das Amt und muß überall den Umständen und den Personen seine Grund¬
sätze zum Opfer bringen" (1845). Den nüchternen Satz Bismarcks, daß die
Politik die Kunst sei, in jedem Augenblick das Zweckmäßigste oder doch das
am wenigsten Schädliche zu thun, würde er gar nicht verstanden haben. Daher
sind Äußerungen des Überdrusses über seine politische Beschäftigung, die er
doch nicht lassen kann, nicht selten, und zuweilen macht er sich geradezu Vor¬
würfe, daß er sich noch für Politik interessire.

Nicht die Verwandtschaft des Charakters hat nnn das enge Verhältnis


Leopold von Geruch

Wenn Ludwig von Gerlach ünßerte, der Gegensatz der Prinzipien sei viel
stärker als der der Nationalitäten, so wird er damit auch die Meinung seines
Bruders Leopold getroffen haben, wie das Stahls Sätzen entspricht.

Nun ist es sehr merkwürdig, zu sehen, wie diese Weltauffassung, der
Gerlach mit solcher Überzeugung huldigt, eigentlich mit seinem ganzen innern
Wesen in Widerspruch steht und es niemals vollkommen überwältigen kann.
An sich war er nichts weniger als ein Doktrinär, sondern sehr befähigt und
geneigt, die Wirklichkeit scharf aufzufassen. Er beobachtete vortrefflich. Die
kurze Schilderung des kaum Dreiundzwmizigjährigen von den verschiednen
Strömungen, die sich im Frühjahr 1813 in Breslau kreuzten, ist von er¬
staunlicher Schärfe, seine Bemerkungen über russische Verhältnisse treffen deu
Nagel auf deu Kopf, und seine historischen Rückblicke sind, wem? nicht immer
unbefangen, doch immer geistvoll, wie z. V. die innere Entwicklung Preußens
von 1815 bis 1840 mit so kurzen Worten schwerlich besser charakterisirt
werden kann, als es Gerlach 1845 thut: „1815 bis 1820 Herrschaft des
Hardenbergschen Offiziautcnliberalismus ^der liberalen Bureaukratie), 1820
bis 1830 Stagnation, großes Ansehen und große Popularität des Königs,
1330 bis 1840 allmählicher Verfall und Auftauchen der liberalen Partei."
Aber allmählich scheint ihm seine Doktrin diese Fähigkeit und Neigung immer
mehr beschränkt zu haben. Das, was an der Bewegung von 1848/49 be¬
rechtigt war, hat er niemals auch mir zu verstehn versucht, mit Männern,
die sie vertraten, sich auseinanderzusetzen, hat er, Nadowitz ausgenommen,
niemals den Trieb verspürt; diesem gegenüber sagt er einmal 1850, er danke
Gott, daß er ihn „vor jeder Berührung mit der Revolution in dieser schweren
Zeit bewahrt" habe. Dagegen widerstrebte seine tapfre und thatkräftige Natur
im Innersten jener Thatenscheu, jenem „Quietismus," der aus der Stahlschen
Staatsauffassung an sich folgt. Es fällt ihm gar nicht ein, die Entwicklung
der Dinge ruhig abzuwarten, er ist namentlich in den Vewegungsjahreu un¬
ermüdlich gegen die „Revolution" thätig und wird schließlich, wie er meint,
ganz gegen seine Natur, zum anerkannten Parteihaupt. Freilich empfindet er
den Widerspruch fortwährend, und seine staatsmännische Wirksamkeit macht
ihm deshalb gar keine Frende. Überaus bezeichnend ist in dieser Beziehung
der Ausruf: „Welch trauriger Beruf ist der eines Staatsmannes; man gelangt
in das Amt und muß überall den Umständen und den Personen seine Grund¬
sätze zum Opfer bringen" (1845). Den nüchternen Satz Bismarcks, daß die
Politik die Kunst sei, in jedem Augenblick das Zweckmäßigste oder doch das
am wenigsten Schädliche zu thun, würde er gar nicht verstanden haben. Daher
sind Äußerungen des Überdrusses über seine politische Beschäftigung, die er
doch nicht lassen kann, nicht selten, und zuweilen macht er sich geradezu Vor¬
würfe, daß er sich noch für Politik interessire.

Nicht die Verwandtschaft des Charakters hat nnn das enge Verhältnis


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[0582] Leopold von Geruch Wenn Ludwig von Gerlach ünßerte, der Gegensatz der Prinzipien sei viel stärker als der der Nationalitäten, so wird er damit auch die Meinung seines Bruders Leopold getroffen haben, wie das Stahls Sätzen entspricht. Nun ist es sehr merkwürdig, zu sehen, wie diese Weltauffassung, der Gerlach mit solcher Überzeugung huldigt, eigentlich mit seinem ganzen innern Wesen in Widerspruch steht und es niemals vollkommen überwältigen kann. An sich war er nichts weniger als ein Doktrinär, sondern sehr befähigt und geneigt, die Wirklichkeit scharf aufzufassen. Er beobachtete vortrefflich. Die kurze Schilderung des kaum Dreiundzwmizigjährigen von den verschiednen Strömungen, die sich im Frühjahr 1813 in Breslau kreuzten, ist von er¬ staunlicher Schärfe, seine Bemerkungen über russische Verhältnisse treffen deu Nagel auf deu Kopf, und seine historischen Rückblicke sind, wem? nicht immer unbefangen, doch immer geistvoll, wie z. V. die innere Entwicklung Preußens von 1815 bis 1840 mit so kurzen Worten schwerlich besser charakterisirt werden kann, als es Gerlach 1845 thut: „1815 bis 1820 Herrschaft des Hardenbergschen Offiziautcnliberalismus ^der liberalen Bureaukratie), 1820 bis 1830 Stagnation, großes Ansehen und große Popularität des Königs, 1330 bis 1840 allmählicher Verfall und Auftauchen der liberalen Partei." Aber allmählich scheint ihm seine Doktrin diese Fähigkeit und Neigung immer mehr beschränkt zu haben. Das, was an der Bewegung von 1848/49 be¬ rechtigt war, hat er niemals auch mir zu verstehn versucht, mit Männern, die sie vertraten, sich auseinanderzusetzen, hat er, Nadowitz ausgenommen, niemals den Trieb verspürt; diesem gegenüber sagt er einmal 1850, er danke Gott, daß er ihn „vor jeder Berührung mit der Revolution in dieser schweren Zeit bewahrt" habe. Dagegen widerstrebte seine tapfre und thatkräftige Natur im Innersten jener Thatenscheu, jenem „Quietismus," der aus der Stahlschen Staatsauffassung an sich folgt. Es fällt ihm gar nicht ein, die Entwicklung der Dinge ruhig abzuwarten, er ist namentlich in den Vewegungsjahreu un¬ ermüdlich gegen die „Revolution" thätig und wird schließlich, wie er meint, ganz gegen seine Natur, zum anerkannten Parteihaupt. Freilich empfindet er den Widerspruch fortwährend, und seine staatsmännische Wirksamkeit macht ihm deshalb gar keine Frende. Überaus bezeichnend ist in dieser Beziehung der Ausruf: „Welch trauriger Beruf ist der eines Staatsmannes; man gelangt in das Amt und muß überall den Umständen und den Personen seine Grund¬ sätze zum Opfer bringen" (1845). Den nüchternen Satz Bismarcks, daß die Politik die Kunst sei, in jedem Augenblick das Zweckmäßigste oder doch das am wenigsten Schädliche zu thun, würde er gar nicht verstanden haben. Daher sind Äußerungen des Überdrusses über seine politische Beschäftigung, die er doch nicht lassen kann, nicht selten, und zuweilen macht er sich geradezu Vor¬ würfe, daß er sich noch für Politik interessire. Nicht die Verwandtschaft des Charakters hat nnn das enge Verhältnis

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/582>, abgerufen am 26.06.2024.