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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Die Aussichten der Militärvorlage

scheidnen Lebenshaltung vorangehen sollte. Die Empfindung, daß Nahr- und
Lehrstand von dem Wehrstand in materiellen und sogar gesellschaftlichen Dingen
mehr, als ein vaterlandliebendes, zur Lösung hoher Kulturaufgaben be¬
rufenes Volk zugeben darf, überwuchert werden, ist in recht breiten und recht
gutgesinnten Schichten der Bevölkerung verbreitet. Endlich ist es selbstver¬
ständlich, daß eine Wahlpropagauda nach dem Muster des Militärwochenblatts
die Dinge schließlich ins hoffnungslose verbösern müßte. Die verunglimpfte
Landwehr, die in einem künftigen Wahlfeldzuge doch die Kerntruppen für die
Militärvorlage zu stellen haben würde, wartet immer noch auf eine wirkliche
Genugthuung. Alles das und andres mehr sind Ponderabilien und Im¬
ponderabilien, mit denen bei einem soldatenfreundlichen und auch der fetzigen
Vorlage im Grunde nicht abgeneigten Volke, wie dem deutschen, Wahlen gemacht
oder -- verdorben werden.

Daß die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Nation -- wohlverstanden,
diese als Ganzes betrachtet -- hinreichen würde, die Kosten der neuen Vorlage
zu tragen, darf heute als ausgemacht gelten, nachdem sie volkswirtschaftliche
Autoritäten aller Parteirichtungen bejaht haben. Nur ist bei all deu ver¬
gleichenden Betrachtungen mit der Belastung andrer Nationen und bei den
Steuerprozenten, die jetzt die Zeitungen füllen, das eine regelmäßig vergessen
worden, daß dabei alles auf die Art der Verteilung der Steuern ankommt.
Deshalb wollen Durchschnitte nach der Kopfzahl der Bevölkerungen an sich
recht wenig besagen. Bedenkt man, daß die Einkommeusteuerpflicht z. B. in
Sachsen schon bei 300 Mark, in Preußen bei 900 Mark, in England erst bei
3000 Mark Einkommen beginnt, daß ferner in Deutschland etwa drei Viertel aller
an sich steuerpflichtigen Personen weniger als 900 Mark Einkommen haben, so
ist klar, daß die Fähigkeit, die erhöhte" Lasten zu tragen, doch nur bei deu
wenigen hohen Einkommen, dort aber auch sicher vorhanden ist. Die Regierungen
müssen deshalb unbedingt den Entschluß finden, den geforderten Mehraufwand
ausschließlich auf diese kräftigern Schultern zu legen. Sind es doch dieselben
Klassen, denen die von der Armee geschaffne Sicherheit des Erwerbs absolut
und relativ auch am meisten zu gute kommt. Man sollte deshalb die ohnedies
hoffnungslose Bier- und Branntweinsteuer gar nicht erst wieder vorlegen.
Das Rechenexempel mit dein halben Pfennig auf den Liter erinnert doch sehr
an den alten Scholastenstreit über den Begriff des ü-oervus: wieviel Sand¬
körner dazu gehören, bevor von einem Haufen geredet werden könne. Die
kinderreichen untern Klassen sind ohne Zweifel auch bei uns von der indirekten
Besteuerung reichlich genug erfaßt, und einmal muß in Tausenden von Familie"
der Puukt kommen, wo auch ein Mehr von einem halben Pfennig täglich das
Maß überlaufen läßt. Die Brnnutweiusteuer lieber nicht anzurühren, dazu
sollte schon der nenentbrcmnte agrarische Streit mahnen. In so heikeln Steuer¬
fragen sind die bestehenden Zustände häufig schon deshalb die besten, weil sie


Die Aussichten der Militärvorlage

scheidnen Lebenshaltung vorangehen sollte. Die Empfindung, daß Nahr- und
Lehrstand von dem Wehrstand in materiellen und sogar gesellschaftlichen Dingen
mehr, als ein vaterlandliebendes, zur Lösung hoher Kulturaufgaben be¬
rufenes Volk zugeben darf, überwuchert werden, ist in recht breiten und recht
gutgesinnten Schichten der Bevölkerung verbreitet. Endlich ist es selbstver¬
ständlich, daß eine Wahlpropagauda nach dem Muster des Militärwochenblatts
die Dinge schließlich ins hoffnungslose verbösern müßte. Die verunglimpfte
Landwehr, die in einem künftigen Wahlfeldzuge doch die Kerntruppen für die
Militärvorlage zu stellen haben würde, wartet immer noch auf eine wirkliche
Genugthuung. Alles das und andres mehr sind Ponderabilien und Im¬
ponderabilien, mit denen bei einem soldatenfreundlichen und auch der fetzigen
Vorlage im Grunde nicht abgeneigten Volke, wie dem deutschen, Wahlen gemacht
oder — verdorben werden.

Daß die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Nation — wohlverstanden,
diese als Ganzes betrachtet — hinreichen würde, die Kosten der neuen Vorlage
zu tragen, darf heute als ausgemacht gelten, nachdem sie volkswirtschaftliche
Autoritäten aller Parteirichtungen bejaht haben. Nur ist bei all deu ver¬
gleichenden Betrachtungen mit der Belastung andrer Nationen und bei den
Steuerprozenten, die jetzt die Zeitungen füllen, das eine regelmäßig vergessen
worden, daß dabei alles auf die Art der Verteilung der Steuern ankommt.
Deshalb wollen Durchschnitte nach der Kopfzahl der Bevölkerungen an sich
recht wenig besagen. Bedenkt man, daß die Einkommeusteuerpflicht z. B. in
Sachsen schon bei 300 Mark, in Preußen bei 900 Mark, in England erst bei
3000 Mark Einkommen beginnt, daß ferner in Deutschland etwa drei Viertel aller
an sich steuerpflichtigen Personen weniger als 900 Mark Einkommen haben, so
ist klar, daß die Fähigkeit, die erhöhte» Lasten zu tragen, doch nur bei deu
wenigen hohen Einkommen, dort aber auch sicher vorhanden ist. Die Regierungen
müssen deshalb unbedingt den Entschluß finden, den geforderten Mehraufwand
ausschließlich auf diese kräftigern Schultern zu legen. Sind es doch dieselben
Klassen, denen die von der Armee geschaffne Sicherheit des Erwerbs absolut
und relativ auch am meisten zu gute kommt. Man sollte deshalb die ohnedies
hoffnungslose Bier- und Branntweinsteuer gar nicht erst wieder vorlegen.
Das Rechenexempel mit dein halben Pfennig auf den Liter erinnert doch sehr
an den alten Scholastenstreit über den Begriff des ü-oervus: wieviel Sand¬
körner dazu gehören, bevor von einem Haufen geredet werden könne. Die
kinderreichen untern Klassen sind ohne Zweifel auch bei uns von der indirekten
Besteuerung reichlich genug erfaßt, und einmal muß in Tausenden von Familie»
der Puukt kommen, wo auch ein Mehr von einem halben Pfennig täglich das
Maß überlaufen läßt. Die Brnnutweiusteuer lieber nicht anzurühren, dazu
sollte schon der nenentbrcmnte agrarische Streit mahnen. In so heikeln Steuer¬
fragen sind die bestehenden Zustände häufig schon deshalb die besten, weil sie


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[0567] Die Aussichten der Militärvorlage scheidnen Lebenshaltung vorangehen sollte. Die Empfindung, daß Nahr- und Lehrstand von dem Wehrstand in materiellen und sogar gesellschaftlichen Dingen mehr, als ein vaterlandliebendes, zur Lösung hoher Kulturaufgaben be¬ rufenes Volk zugeben darf, überwuchert werden, ist in recht breiten und recht gutgesinnten Schichten der Bevölkerung verbreitet. Endlich ist es selbstver¬ ständlich, daß eine Wahlpropagauda nach dem Muster des Militärwochenblatts die Dinge schließlich ins hoffnungslose verbösern müßte. Die verunglimpfte Landwehr, die in einem künftigen Wahlfeldzuge doch die Kerntruppen für die Militärvorlage zu stellen haben würde, wartet immer noch auf eine wirkliche Genugthuung. Alles das und andres mehr sind Ponderabilien und Im¬ ponderabilien, mit denen bei einem soldatenfreundlichen und auch der fetzigen Vorlage im Grunde nicht abgeneigten Volke, wie dem deutschen, Wahlen gemacht oder — verdorben werden. Daß die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Nation — wohlverstanden, diese als Ganzes betrachtet — hinreichen würde, die Kosten der neuen Vorlage zu tragen, darf heute als ausgemacht gelten, nachdem sie volkswirtschaftliche Autoritäten aller Parteirichtungen bejaht haben. Nur ist bei all deu ver¬ gleichenden Betrachtungen mit der Belastung andrer Nationen und bei den Steuerprozenten, die jetzt die Zeitungen füllen, das eine regelmäßig vergessen worden, daß dabei alles auf die Art der Verteilung der Steuern ankommt. Deshalb wollen Durchschnitte nach der Kopfzahl der Bevölkerungen an sich recht wenig besagen. Bedenkt man, daß die Einkommeusteuerpflicht z. B. in Sachsen schon bei 300 Mark, in Preußen bei 900 Mark, in England erst bei 3000 Mark Einkommen beginnt, daß ferner in Deutschland etwa drei Viertel aller an sich steuerpflichtigen Personen weniger als 900 Mark Einkommen haben, so ist klar, daß die Fähigkeit, die erhöhte» Lasten zu tragen, doch nur bei deu wenigen hohen Einkommen, dort aber auch sicher vorhanden ist. Die Regierungen müssen deshalb unbedingt den Entschluß finden, den geforderten Mehraufwand ausschließlich auf diese kräftigern Schultern zu legen. Sind es doch dieselben Klassen, denen die von der Armee geschaffne Sicherheit des Erwerbs absolut und relativ auch am meisten zu gute kommt. Man sollte deshalb die ohnedies hoffnungslose Bier- und Branntweinsteuer gar nicht erst wieder vorlegen. Das Rechenexempel mit dein halben Pfennig auf den Liter erinnert doch sehr an den alten Scholastenstreit über den Begriff des ü-oervus: wieviel Sand¬ körner dazu gehören, bevor von einem Haufen geredet werden könne. Die kinderreichen untern Klassen sind ohne Zweifel auch bei uns von der indirekten Besteuerung reichlich genug erfaßt, und einmal muß in Tausenden von Familie» der Puukt kommen, wo auch ein Mehr von einem halben Pfennig täglich das Maß überlaufen läßt. Die Brnnutweiusteuer lieber nicht anzurühren, dazu sollte schon der nenentbrcmnte agrarische Streit mahnen. In so heikeln Steuer¬ fragen sind die bestehenden Zustände häufig schon deshalb die besten, weil sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/567>, abgerufen am 26.06.2024.