Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Streif- und Federzüge ans vergangnen Tagen

die Häutung mancher ihrer Getreuen im März. Arthur Müller, Herausgeber
der Schriften Gaudys, August Braß, in sehr viel späterer Zeit Gründer der
von Genf nach Berlin verpflanzten Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, und
andre bisher ziemlich harmlose "Litteraten" traten als Herausgeber der ver¬
wegensten Straßeulitteratur, der "Ewigen Lampe," des "Krakehlers" u. s. w. auf.

Im Oktober wurde in Berlin ein demokratischer Kongreß abgehalten, auf
dem man alle "Entschiednen" kennen lernen konnte. Es war eine schwüle
Atmosphäre. Windischgrätz stand vor Wien, und am Horizont von Berlin
tauchte Papa Wrangel auf. Wie hätte eine Versammlung nicht aufgeregt
sein sollen, die von Rechts wegen die Republik hätte proklamiren müssen!
Denn aus allen Teilen Deutschlands erschienen Boten mit der Versicherung,
daß die Bevölkerung nicht länger damit gewartet wissen wolle. Jeder neue
Redner nannte größere Ziffern als sein Vorgänger. Marschirte hinter Ludwig
Bamberger ganz Rheinhessen, so sprach Gottfried Kinkel im Namen Rhein-
Preußens bis an die belgische und holländische Grenze; leistete Berlepsch, der
später brauchbare Reisehandbücher geliefert hat, den Schwur für den Thüringer¬
wald, so übertrumpfte ihn sofort ein Wiener, indem er der deutschen Re¬
publik Osterreich vom Adriatischen Meere bis zum Böhmerwalde einverleibte.
Die Begeisterung machte sich so stürmisch Luft, daß der erste Präsident der
Versammlung, der alte, mit deu Gefängnissen der meisten Länder Europas
vertraute "Demagoge" Georg Fein, trotz der Drohung, man werde sagen,
daß es auf dem demokratischen Kongreß zugehe wie in der Paulskirche, die
Massen nicht zu beherrschen vermochte. Daß ein Redner zur Ordnung ge¬
rufen worden sei, weil er aus Verschen "Meine Herren" gesagt hatte, war
übrigens eine verleumderische Ausstreuung. Auch wurde die Versammlung
dünner und stiller, nachdem, sie vernommen hatte, daß Deutschland mehr Re¬
publikaner als Einwohner zählte, und allerlei trockne Dinge, wie Aufhebung
der Gülden u. tgi., an die Reihe kamen. Als sich die Debatte in die For¬
derungen des vierten Standes verwickelte, meinte ein nüchterner, das Thema
werde sich bis zur Essenszeit wohl nicht erledigen lassen. Aber mit funkelnden
Augen erhob sich ein kleiner Herr mit rotem Krauskopf und schleuderte das
Wort in den Saal: Die soziale Frage muß gelöst werden, und sollten wir
bis in die Nacht tagen! Das Wort ist berühmt geworden, aber dem Amor ist
der verdiente Ruhm vorenthalten worden. Er hieß Moses May, wurde zur
Zeit des "Kvndominiums" als Anhänger des Prinzen von Augustenburg oft
genannt, nahm sich dann desselben Bundestages in seinen letzten Stunden an,
den er auf dem besprochnen Kongreß "an seiner eignen Schmach und Schande
zu Grunde gehen lassen" wollte ^- zur Abstimmung wurde, so viel ich mich
erinnere, der Antrag nicht gebracht --, und zuletzt soll er an der Wiener
Börse gesehn worden sein, wo er vermutlich noch die soziale Frage studirte.
Doch wer nennt, ja wer kennt noch all die ehemaligen oder zukünftigen


Grenzboten I 1893 62
Streif- und Federzüge ans vergangnen Tagen

die Häutung mancher ihrer Getreuen im März. Arthur Müller, Herausgeber
der Schriften Gaudys, August Braß, in sehr viel späterer Zeit Gründer der
von Genf nach Berlin verpflanzten Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, und
andre bisher ziemlich harmlose „Litteraten" traten als Herausgeber der ver¬
wegensten Straßeulitteratur, der „Ewigen Lampe," des „Krakehlers" u. s. w. auf.

Im Oktober wurde in Berlin ein demokratischer Kongreß abgehalten, auf
dem man alle „Entschiednen" kennen lernen konnte. Es war eine schwüle
Atmosphäre. Windischgrätz stand vor Wien, und am Horizont von Berlin
tauchte Papa Wrangel auf. Wie hätte eine Versammlung nicht aufgeregt
sein sollen, die von Rechts wegen die Republik hätte proklamiren müssen!
Denn aus allen Teilen Deutschlands erschienen Boten mit der Versicherung,
daß die Bevölkerung nicht länger damit gewartet wissen wolle. Jeder neue
Redner nannte größere Ziffern als sein Vorgänger. Marschirte hinter Ludwig
Bamberger ganz Rheinhessen, so sprach Gottfried Kinkel im Namen Rhein-
Preußens bis an die belgische und holländische Grenze; leistete Berlepsch, der
später brauchbare Reisehandbücher geliefert hat, den Schwur für den Thüringer¬
wald, so übertrumpfte ihn sofort ein Wiener, indem er der deutschen Re¬
publik Osterreich vom Adriatischen Meere bis zum Böhmerwalde einverleibte.
Die Begeisterung machte sich so stürmisch Luft, daß der erste Präsident der
Versammlung, der alte, mit deu Gefängnissen der meisten Länder Europas
vertraute „Demagoge" Georg Fein, trotz der Drohung, man werde sagen,
daß es auf dem demokratischen Kongreß zugehe wie in der Paulskirche, die
Massen nicht zu beherrschen vermochte. Daß ein Redner zur Ordnung ge¬
rufen worden sei, weil er aus Verschen „Meine Herren" gesagt hatte, war
übrigens eine verleumderische Ausstreuung. Auch wurde die Versammlung
dünner und stiller, nachdem, sie vernommen hatte, daß Deutschland mehr Re¬
publikaner als Einwohner zählte, und allerlei trockne Dinge, wie Aufhebung
der Gülden u. tgi., an die Reihe kamen. Als sich die Debatte in die For¬
derungen des vierten Standes verwickelte, meinte ein nüchterner, das Thema
werde sich bis zur Essenszeit wohl nicht erledigen lassen. Aber mit funkelnden
Augen erhob sich ein kleiner Herr mit rotem Krauskopf und schleuderte das
Wort in den Saal: Die soziale Frage muß gelöst werden, und sollten wir
bis in die Nacht tagen! Das Wort ist berühmt geworden, aber dem Amor ist
der verdiente Ruhm vorenthalten worden. Er hieß Moses May, wurde zur
Zeit des „Kvndominiums" als Anhänger des Prinzen von Augustenburg oft
genannt, nahm sich dann desselben Bundestages in seinen letzten Stunden an,
den er auf dem besprochnen Kongreß „an seiner eignen Schmach und Schande
zu Grunde gehen lassen" wollte ^- zur Abstimmung wurde, so viel ich mich
erinnere, der Antrag nicht gebracht —, und zuletzt soll er an der Wiener
Börse gesehn worden sein, wo er vermutlich noch die soziale Frage studirte.
Doch wer nennt, ja wer kennt noch all die ehemaligen oder zukünftigen


Grenzboten I 1893 62
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0499" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214291"/>
          <fw type="header" place="top"> Streif- und Federzüge ans vergangnen Tagen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1699" prev="#ID_1698"> die Häutung mancher ihrer Getreuen im März. Arthur Müller, Herausgeber<lb/>
der Schriften Gaudys, August Braß, in sehr viel späterer Zeit Gründer der<lb/>
von Genf nach Berlin verpflanzten Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, und<lb/>
andre bisher ziemlich harmlose &#x201E;Litteraten" traten als Herausgeber der ver¬<lb/>
wegensten Straßeulitteratur, der &#x201E;Ewigen Lampe," des &#x201E;Krakehlers" u. s. w. auf.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1700" next="#ID_1701"> Im Oktober wurde in Berlin ein demokratischer Kongreß abgehalten, auf<lb/>
dem man alle &#x201E;Entschiednen" kennen lernen konnte.  Es war eine schwüle<lb/>
Atmosphäre.  Windischgrätz stand vor Wien, und am Horizont von Berlin<lb/>
tauchte Papa Wrangel auf.  Wie hätte eine Versammlung nicht aufgeregt<lb/>
sein sollen, die von Rechts wegen die Republik hätte proklamiren müssen!<lb/>
Denn aus allen Teilen Deutschlands erschienen Boten mit der Versicherung,<lb/>
daß die Bevölkerung nicht länger damit gewartet wissen wolle.  Jeder neue<lb/>
Redner nannte größere Ziffern als sein Vorgänger. Marschirte hinter Ludwig<lb/>
Bamberger ganz Rheinhessen, so sprach Gottfried Kinkel im Namen Rhein-<lb/>
Preußens bis an die belgische und holländische Grenze; leistete Berlepsch, der<lb/>
später brauchbare Reisehandbücher geliefert hat, den Schwur für den Thüringer¬<lb/>
wald, so übertrumpfte ihn sofort ein Wiener, indem er der deutschen Re¬<lb/>
publik Osterreich vom Adriatischen Meere bis zum Böhmerwalde einverleibte.<lb/>
Die Begeisterung machte sich so stürmisch Luft, daß der erste Präsident der<lb/>
Versammlung, der alte, mit deu Gefängnissen der meisten Länder Europas<lb/>
vertraute &#x201E;Demagoge" Georg Fein, trotz der Drohung, man werde sagen,<lb/>
daß es auf dem demokratischen Kongreß zugehe wie in der Paulskirche, die<lb/>
Massen nicht zu beherrschen vermochte.  Daß ein Redner zur Ordnung ge¬<lb/>
rufen worden sei, weil er aus Verschen &#x201E;Meine Herren" gesagt hatte, war<lb/>
übrigens eine verleumderische Ausstreuung.  Auch wurde die Versammlung<lb/>
dünner und stiller, nachdem, sie vernommen hatte, daß Deutschland mehr Re¬<lb/>
publikaner als Einwohner zählte, und allerlei trockne Dinge, wie Aufhebung<lb/>
der Gülden u. tgi., an die Reihe kamen.  Als sich die Debatte in die For¬<lb/>
derungen des vierten Standes verwickelte, meinte ein nüchterner, das Thema<lb/>
werde sich bis zur Essenszeit wohl nicht erledigen lassen. Aber mit funkelnden<lb/>
Augen erhob sich ein kleiner Herr mit rotem Krauskopf und schleuderte das<lb/>
Wort in den Saal: Die soziale Frage muß gelöst werden, und sollten wir<lb/>
bis in die Nacht tagen! Das Wort ist berühmt geworden, aber dem Amor ist<lb/>
der verdiente Ruhm vorenthalten worden.  Er hieß Moses May, wurde zur<lb/>
Zeit des &#x201E;Kvndominiums" als Anhänger des Prinzen von Augustenburg oft<lb/>
genannt, nahm sich dann desselben Bundestages in seinen letzten Stunden an,<lb/>
den er auf dem besprochnen Kongreß &#x201E;an seiner eignen Schmach und Schande<lb/>
zu Grunde gehen lassen" wollte ^- zur Abstimmung wurde, so viel ich mich<lb/>
erinnere, der Antrag nicht gebracht &#x2014;, und zuletzt soll er an der Wiener<lb/>
Börse gesehn worden sein, wo er vermutlich noch die soziale Frage studirte.<lb/>
Doch wer nennt, ja wer kennt noch all die ehemaligen oder zukünftigen</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1893 62</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0499] Streif- und Federzüge ans vergangnen Tagen die Häutung mancher ihrer Getreuen im März. Arthur Müller, Herausgeber der Schriften Gaudys, August Braß, in sehr viel späterer Zeit Gründer der von Genf nach Berlin verpflanzten Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, und andre bisher ziemlich harmlose „Litteraten" traten als Herausgeber der ver¬ wegensten Straßeulitteratur, der „Ewigen Lampe," des „Krakehlers" u. s. w. auf. Im Oktober wurde in Berlin ein demokratischer Kongreß abgehalten, auf dem man alle „Entschiednen" kennen lernen konnte. Es war eine schwüle Atmosphäre. Windischgrätz stand vor Wien, und am Horizont von Berlin tauchte Papa Wrangel auf. Wie hätte eine Versammlung nicht aufgeregt sein sollen, die von Rechts wegen die Republik hätte proklamiren müssen! Denn aus allen Teilen Deutschlands erschienen Boten mit der Versicherung, daß die Bevölkerung nicht länger damit gewartet wissen wolle. Jeder neue Redner nannte größere Ziffern als sein Vorgänger. Marschirte hinter Ludwig Bamberger ganz Rheinhessen, so sprach Gottfried Kinkel im Namen Rhein- Preußens bis an die belgische und holländische Grenze; leistete Berlepsch, der später brauchbare Reisehandbücher geliefert hat, den Schwur für den Thüringer¬ wald, so übertrumpfte ihn sofort ein Wiener, indem er der deutschen Re¬ publik Osterreich vom Adriatischen Meere bis zum Böhmerwalde einverleibte. Die Begeisterung machte sich so stürmisch Luft, daß der erste Präsident der Versammlung, der alte, mit deu Gefängnissen der meisten Länder Europas vertraute „Demagoge" Georg Fein, trotz der Drohung, man werde sagen, daß es auf dem demokratischen Kongreß zugehe wie in der Paulskirche, die Massen nicht zu beherrschen vermochte. Daß ein Redner zur Ordnung ge¬ rufen worden sei, weil er aus Verschen „Meine Herren" gesagt hatte, war übrigens eine verleumderische Ausstreuung. Auch wurde die Versammlung dünner und stiller, nachdem, sie vernommen hatte, daß Deutschland mehr Re¬ publikaner als Einwohner zählte, und allerlei trockne Dinge, wie Aufhebung der Gülden u. tgi., an die Reihe kamen. Als sich die Debatte in die For¬ derungen des vierten Standes verwickelte, meinte ein nüchterner, das Thema werde sich bis zur Essenszeit wohl nicht erledigen lassen. Aber mit funkelnden Augen erhob sich ein kleiner Herr mit rotem Krauskopf und schleuderte das Wort in den Saal: Die soziale Frage muß gelöst werden, und sollten wir bis in die Nacht tagen! Das Wort ist berühmt geworden, aber dem Amor ist der verdiente Ruhm vorenthalten worden. Er hieß Moses May, wurde zur Zeit des „Kvndominiums" als Anhänger des Prinzen von Augustenburg oft genannt, nahm sich dann desselben Bundestages in seinen letzten Stunden an, den er auf dem besprochnen Kongreß „an seiner eignen Schmach und Schande zu Grunde gehen lassen" wollte ^- zur Abstimmung wurde, so viel ich mich erinnere, der Antrag nicht gebracht —, und zuletzt soll er an der Wiener Börse gesehn worden sein, wo er vermutlich noch die soziale Frage studirte. Doch wer nennt, ja wer kennt noch all die ehemaligen oder zukünftigen Grenzboten I 1893 62

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/499
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/499>, abgerufen am 26.06.2024.