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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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rischem Gleichmaß wird hier die Geschichte eines von Karl dem Großen be¬
siegten und bekehrten Sachsenfürsten erzählt, der zu den alten Heidcugöttern
zurückfällt und darüber seinen Untergang findet. Wenn man will, ist von all
den Dichtungen, die uns vorliegen, "Geriswind" die, die am strengsten den
echt epischen Stil einhält, und fände sich das Abenteuer als Episode in der
Herstellung eines Halbverlornen Stückes Heldensage, so würde es mit allen
Ehren neben den Simrockschen und ähnlichen halb poetischen, halb wissenschaft¬
lichen Nenbelebungen altgermanischer Poesie stehen können. Als selbständige
Dichtung von heute, die lebendige Teilnahme heischt, erscheint sie zu akademisch,
zu eng an die Überlieferung angeschlossen.

Freilich, im Vergleich mit so wohlgemeinten und doch so unsäglich schwachen
Produkten, wie sie zahlreich veröffentlicht werden und zwar kein Publikum,
aber doch lobende Beurteiler finden, muß "Geriswind" und müssen auch die
ungleichartigen und vielfach unerquicklichen Italischen Vignetten von M. E.
delle Grazie (Leipzig, Breitkopf und Hürtel) noch als respektable Leistungen
gelten. Auch die letztgenannten enthalten einzelne wirklich anschauliche Bilder
und Gestalten, aber noch mehr wüste und geschmacklose Einfälle, die nicht
poetisch gesteigert, sondern rhetorisch aufgebauscht find, wenn sie auch nicht
ohne Phantasie und Schilderungsgabe sind. Der Verfasserin sehlt ein ent¬
schlossener Kritiker, der ihr deutlich machte, wo sich ihre Empfindungen und
ihre Bilder nicht decken, ihr Wortreichtnm die etwa zu Gründe liegende Stim¬
mung nicht klar und rein ausdrückt, ihre Form mit deu Gedanken geradezu
in Widerspruch steht, ein andrer Friedrich Hebbel, der seine Schüler ermahnte:
"Zeichnen Sie die Lichtschere, nur die Lichtschere, nicht den Leuchter, der da¬
neben steht, und nicht die Person, die von dem Lichte beschienen wird." Aber
solche Kritik kaun nur nützen, ehe Dichtungen in die Öffentlichkeit treten, nicht
wenn sie veröffentlicht sind.

Einem völlig andern Gebiete gehört die Sammlung Lachende Lieder,
neue Dichtungen von Richard Schmidt-Cabanis (Berlin, N. Botts Verlag,
1892) an, Kladderadatschlyrik und -Epik, die im Berliner Stil zwar manches
parodirt und ironisirt, was zunächst erst einmal ernster Betrachtung und Em¬
pfindung wert wäre, die aber daneben eine ganze Reihe großstädtischer und
gesellschaftlicher Unsitten, modernster Geschmacklosigkeiten, alberner Überhebnngen
mit gutem Recht ins Lächerliche zieht. Humor und Satire, zu Zeiten auch
etwas schnoddriger Witz lösen sich in diesen "Landenden Liedern" ab; die
Formgewandtheit, die geistige Beweglichkeit Schmidts, die jeden poetischen Stil
zu treffen und für ihren Zweck zu verwerten versteht, erinnern an Ernst Dohms
außerordentliches Talent, wenn sie es anch nicht erreichen. Zu den hübschesten
Stücken der Sammlung gehören "Hundstägliche Variationen auf das seltene
Thema eines 1888er Sommersonnenstrahles," der "Jnbelhhmnus, dein Er¬
finder des mechanischen Klaviers in stummer Dankbarkeit gewidmet," der


rischem Gleichmaß wird hier die Geschichte eines von Karl dem Großen be¬
siegten und bekehrten Sachsenfürsten erzählt, der zu den alten Heidcugöttern
zurückfällt und darüber seinen Untergang findet. Wenn man will, ist von all
den Dichtungen, die uns vorliegen, „Geriswind" die, die am strengsten den
echt epischen Stil einhält, und fände sich das Abenteuer als Episode in der
Herstellung eines Halbverlornen Stückes Heldensage, so würde es mit allen
Ehren neben den Simrockschen und ähnlichen halb poetischen, halb wissenschaft¬
lichen Nenbelebungen altgermanischer Poesie stehen können. Als selbständige
Dichtung von heute, die lebendige Teilnahme heischt, erscheint sie zu akademisch,
zu eng an die Überlieferung angeschlossen.

Freilich, im Vergleich mit so wohlgemeinten und doch so unsäglich schwachen
Produkten, wie sie zahlreich veröffentlicht werden und zwar kein Publikum,
aber doch lobende Beurteiler finden, muß „Geriswind" und müssen auch die
ungleichartigen und vielfach unerquicklichen Italischen Vignetten von M. E.
delle Grazie (Leipzig, Breitkopf und Hürtel) noch als respektable Leistungen
gelten. Auch die letztgenannten enthalten einzelne wirklich anschauliche Bilder
und Gestalten, aber noch mehr wüste und geschmacklose Einfälle, die nicht
poetisch gesteigert, sondern rhetorisch aufgebauscht find, wenn sie auch nicht
ohne Phantasie und Schilderungsgabe sind. Der Verfasserin sehlt ein ent¬
schlossener Kritiker, der ihr deutlich machte, wo sich ihre Empfindungen und
ihre Bilder nicht decken, ihr Wortreichtnm die etwa zu Gründe liegende Stim¬
mung nicht klar und rein ausdrückt, ihre Form mit deu Gedanken geradezu
in Widerspruch steht, ein andrer Friedrich Hebbel, der seine Schüler ermahnte:
„Zeichnen Sie die Lichtschere, nur die Lichtschere, nicht den Leuchter, der da¬
neben steht, und nicht die Person, die von dem Lichte beschienen wird." Aber
solche Kritik kaun nur nützen, ehe Dichtungen in die Öffentlichkeit treten, nicht
wenn sie veröffentlicht sind.

Einem völlig andern Gebiete gehört die Sammlung Lachende Lieder,
neue Dichtungen von Richard Schmidt-Cabanis (Berlin, N. Botts Verlag,
1892) an, Kladderadatschlyrik und -Epik, die im Berliner Stil zwar manches
parodirt und ironisirt, was zunächst erst einmal ernster Betrachtung und Em¬
pfindung wert wäre, die aber daneben eine ganze Reihe großstädtischer und
gesellschaftlicher Unsitten, modernster Geschmacklosigkeiten, alberner Überhebnngen
mit gutem Recht ins Lächerliche zieht. Humor und Satire, zu Zeiten auch
etwas schnoddriger Witz lösen sich in diesen „Landenden Liedern" ab; die
Formgewandtheit, die geistige Beweglichkeit Schmidts, die jeden poetischen Stil
zu treffen und für ihren Zweck zu verwerten versteht, erinnern an Ernst Dohms
außerordentliches Talent, wenn sie es anch nicht erreichen. Zu den hübschesten
Stücken der Sammlung gehören „Hundstägliche Variationen auf das seltene
Thema eines 1888er Sommersonnenstrahles," der „Jnbelhhmnus, dein Er¬
finder des mechanischen Klaviers in stummer Dankbarkeit gewidmet," der


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[0494] rischem Gleichmaß wird hier die Geschichte eines von Karl dem Großen be¬ siegten und bekehrten Sachsenfürsten erzählt, der zu den alten Heidcugöttern zurückfällt und darüber seinen Untergang findet. Wenn man will, ist von all den Dichtungen, die uns vorliegen, „Geriswind" die, die am strengsten den echt epischen Stil einhält, und fände sich das Abenteuer als Episode in der Herstellung eines Halbverlornen Stückes Heldensage, so würde es mit allen Ehren neben den Simrockschen und ähnlichen halb poetischen, halb wissenschaft¬ lichen Nenbelebungen altgermanischer Poesie stehen können. Als selbständige Dichtung von heute, die lebendige Teilnahme heischt, erscheint sie zu akademisch, zu eng an die Überlieferung angeschlossen. Freilich, im Vergleich mit so wohlgemeinten und doch so unsäglich schwachen Produkten, wie sie zahlreich veröffentlicht werden und zwar kein Publikum, aber doch lobende Beurteiler finden, muß „Geriswind" und müssen auch die ungleichartigen und vielfach unerquicklichen Italischen Vignetten von M. E. delle Grazie (Leipzig, Breitkopf und Hürtel) noch als respektable Leistungen gelten. Auch die letztgenannten enthalten einzelne wirklich anschauliche Bilder und Gestalten, aber noch mehr wüste und geschmacklose Einfälle, die nicht poetisch gesteigert, sondern rhetorisch aufgebauscht find, wenn sie auch nicht ohne Phantasie und Schilderungsgabe sind. Der Verfasserin sehlt ein ent¬ schlossener Kritiker, der ihr deutlich machte, wo sich ihre Empfindungen und ihre Bilder nicht decken, ihr Wortreichtnm die etwa zu Gründe liegende Stim¬ mung nicht klar und rein ausdrückt, ihre Form mit deu Gedanken geradezu in Widerspruch steht, ein andrer Friedrich Hebbel, der seine Schüler ermahnte: „Zeichnen Sie die Lichtschere, nur die Lichtschere, nicht den Leuchter, der da¬ neben steht, und nicht die Person, die von dem Lichte beschienen wird." Aber solche Kritik kaun nur nützen, ehe Dichtungen in die Öffentlichkeit treten, nicht wenn sie veröffentlicht sind. Einem völlig andern Gebiete gehört die Sammlung Lachende Lieder, neue Dichtungen von Richard Schmidt-Cabanis (Berlin, N. Botts Verlag, 1892) an, Kladderadatschlyrik und -Epik, die im Berliner Stil zwar manches parodirt und ironisirt, was zunächst erst einmal ernster Betrachtung und Em¬ pfindung wert wäre, die aber daneben eine ganze Reihe großstädtischer und gesellschaftlicher Unsitten, modernster Geschmacklosigkeiten, alberner Überhebnngen mit gutem Recht ins Lächerliche zieht. Humor und Satire, zu Zeiten auch etwas schnoddriger Witz lösen sich in diesen „Landenden Liedern" ab; die Formgewandtheit, die geistige Beweglichkeit Schmidts, die jeden poetischen Stil zu treffen und für ihren Zweck zu verwerten versteht, erinnern an Ernst Dohms außerordentliches Talent, wenn sie es anch nicht erreichen. Zu den hübschesten Stücken der Sammlung gehören „Hundstägliche Variationen auf das seltene Thema eines 1888er Sommersonnenstrahles," der „Jnbelhhmnus, dein Er¬ finder des mechanischen Klaviers in stummer Dankbarkeit gewidmet," der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/494>, abgerufen am 01.09.2024.