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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Berufung und Schöffengericht

die das volle Vertrauen des Volks genießt, bildet eine feste Stütze des innern
sozialen Friedens und bringt dauerndere Wirkungen hervor, als Muter und
Kanonen, Dauernd aber dürfte dieser Unzufriedenheit kaum damit abgeholfen
werden, daß man die Nichterznhl der Strafkammern verringert und die Be¬
rufung an ein wieder mit fünf gelehrten Richtern besetztes Gericht einführt.
Wir fürchten, die Freude über die Berufung wird dann sehr kurz sein, und
bald werden die Klagen gegen die erstinstanzlichen Urteile der drei Richter,
wie nicht anders zu erwarten, verstärkt, die gegen die Urteile der Berufungs¬
gerichte aber in gleichem Maße wiederkehren.

Der Grund der Unzufriedenheit mit den Urteilen der Strafkammern der
Landgerichte liegt eben ganz wo anders. Dies wird erkennbar, wenn man be¬
obachtet, welches Vertrauen im Gegensatz zu den Strafkammern allgemein die
Schöffengerichte genießen. Man behauptet, daß die Urteile der Strafkammern
nicht selten das natürliche Rechtsgefühl verletzten. Wir wollen nicht unter¬
suchen, inwieweit dieser Tadel begründet ist, auch nicht, wieviel davon auf
Rechnung von Nechtsausichteu kommt, denen daS höchste Gericht huldigt, und
dessen Aussprüche bei den Strafkammern sehr mit Unrecht! -- heute Ge¬
setzeskraft genießen. solange z.B. uicht allgemein anerkannt wird, daß man
das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit einer Handlung gehabt haben muß, um
für ihre vorsätzliche Begehung Strafe zu erleiden, werden immer wieder Ent¬
scheidungen vorkommen, die mit dem natürlichen Rechtsbewußtsein in schroffem
Gegensatze stehen. Herrscht aber einmal ein Mißtrauen gegen die Strafurteile
von Gerichten, die mir mit Rechtsgelehrten besetzt sind, und ist auch keine
Aussicht, daß sich dieses Vertrauen von selbst bald wieder befestigt, so ist
nur dadurch zu helfen, daß man die gelehrten Gerichte in solche verwandelt,
die das erforderliche Vertrauen genießen: daß man sich entschließt, auf deu
ersten Entwurf eiuer Reichsstrafprozeßordnung des Ministers Friedberg vom
Jahre 1873 zurückzugreifen und an Stelle der Strafkammern Schöffengerichte
einführt.

Die Vorzüge der Schöffengerichte sind oft genug auch in diesen Blättern
erörtert worden. Sie bestehe", kurz zusammengefaßt, in der aus ihrer Ver¬
fassung sich ergebenden Notwendigkeit, den Gang der Verhandlung zu mäßigen
und damit eine erschöpfendere Erörterung des Sachverhalts zu gewährleisten,
sie machen eine hanrspalterische, dem starren Buchstaben des Gesetzes nach¬
gebende Rechtsprechung unwahrscheinlich, und sie entsprechen dem Grundsatze
der Selbstverwaltung, die heute auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens
durchgeführt ist. Schon in einem Schreiben vom 24. Oktober 1870 um den
Bundesrat urteilt das sächsische Ministerium über die damals seit mehreren
Jahren in Sachsen eingeführten Schöffengerichte: "Die beinahe übereinstimmende
Ansicht aller geht dahin, daß die Einrichtung des Schöffengerichts einen wesent¬
lichen Fortschritt enthalte, daß das Vertrauen zu den Sprüchen der Schöffen-


Berufung und Schöffengericht

die das volle Vertrauen des Volks genießt, bildet eine feste Stütze des innern
sozialen Friedens und bringt dauerndere Wirkungen hervor, als Muter und
Kanonen, Dauernd aber dürfte dieser Unzufriedenheit kaum damit abgeholfen
werden, daß man die Nichterznhl der Strafkammern verringert und die Be¬
rufung an ein wieder mit fünf gelehrten Richtern besetztes Gericht einführt.
Wir fürchten, die Freude über die Berufung wird dann sehr kurz sein, und
bald werden die Klagen gegen die erstinstanzlichen Urteile der drei Richter,
wie nicht anders zu erwarten, verstärkt, die gegen die Urteile der Berufungs¬
gerichte aber in gleichem Maße wiederkehren.

Der Grund der Unzufriedenheit mit den Urteilen der Strafkammern der
Landgerichte liegt eben ganz wo anders. Dies wird erkennbar, wenn man be¬
obachtet, welches Vertrauen im Gegensatz zu den Strafkammern allgemein die
Schöffengerichte genießen. Man behauptet, daß die Urteile der Strafkammern
nicht selten das natürliche Rechtsgefühl verletzten. Wir wollen nicht unter¬
suchen, inwieweit dieser Tadel begründet ist, auch nicht, wieviel davon auf
Rechnung von Nechtsausichteu kommt, denen daS höchste Gericht huldigt, und
dessen Aussprüche bei den Strafkammern sehr mit Unrecht! — heute Ge¬
setzeskraft genießen. solange z.B. uicht allgemein anerkannt wird, daß man
das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit einer Handlung gehabt haben muß, um
für ihre vorsätzliche Begehung Strafe zu erleiden, werden immer wieder Ent¬
scheidungen vorkommen, die mit dem natürlichen Rechtsbewußtsein in schroffem
Gegensatze stehen. Herrscht aber einmal ein Mißtrauen gegen die Strafurteile
von Gerichten, die mir mit Rechtsgelehrten besetzt sind, und ist auch keine
Aussicht, daß sich dieses Vertrauen von selbst bald wieder befestigt, so ist
nur dadurch zu helfen, daß man die gelehrten Gerichte in solche verwandelt,
die das erforderliche Vertrauen genießen: daß man sich entschließt, auf deu
ersten Entwurf eiuer Reichsstrafprozeßordnung des Ministers Friedberg vom
Jahre 1873 zurückzugreifen und an Stelle der Strafkammern Schöffengerichte
einführt.

Die Vorzüge der Schöffengerichte sind oft genug auch in diesen Blättern
erörtert worden. Sie bestehe», kurz zusammengefaßt, in der aus ihrer Ver¬
fassung sich ergebenden Notwendigkeit, den Gang der Verhandlung zu mäßigen
und damit eine erschöpfendere Erörterung des Sachverhalts zu gewährleisten,
sie machen eine hanrspalterische, dem starren Buchstaben des Gesetzes nach¬
gebende Rechtsprechung unwahrscheinlich, und sie entsprechen dem Grundsatze
der Selbstverwaltung, die heute auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens
durchgeführt ist. Schon in einem Schreiben vom 24. Oktober 1870 um den
Bundesrat urteilt das sächsische Ministerium über die damals seit mehreren
Jahren in Sachsen eingeführten Schöffengerichte: „Die beinahe übereinstimmende
Ansicht aller geht dahin, daß die Einrichtung des Schöffengerichts einen wesent¬
lichen Fortschritt enthalte, daß das Vertrauen zu den Sprüchen der Schöffen-


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[0485] Berufung und Schöffengericht die das volle Vertrauen des Volks genießt, bildet eine feste Stütze des innern sozialen Friedens und bringt dauerndere Wirkungen hervor, als Muter und Kanonen, Dauernd aber dürfte dieser Unzufriedenheit kaum damit abgeholfen werden, daß man die Nichterznhl der Strafkammern verringert und die Be¬ rufung an ein wieder mit fünf gelehrten Richtern besetztes Gericht einführt. Wir fürchten, die Freude über die Berufung wird dann sehr kurz sein, und bald werden die Klagen gegen die erstinstanzlichen Urteile der drei Richter, wie nicht anders zu erwarten, verstärkt, die gegen die Urteile der Berufungs¬ gerichte aber in gleichem Maße wiederkehren. Der Grund der Unzufriedenheit mit den Urteilen der Strafkammern der Landgerichte liegt eben ganz wo anders. Dies wird erkennbar, wenn man be¬ obachtet, welches Vertrauen im Gegensatz zu den Strafkammern allgemein die Schöffengerichte genießen. Man behauptet, daß die Urteile der Strafkammern nicht selten das natürliche Rechtsgefühl verletzten. Wir wollen nicht unter¬ suchen, inwieweit dieser Tadel begründet ist, auch nicht, wieviel davon auf Rechnung von Nechtsausichteu kommt, denen daS höchste Gericht huldigt, und dessen Aussprüche bei den Strafkammern sehr mit Unrecht! — heute Ge¬ setzeskraft genießen. solange z.B. uicht allgemein anerkannt wird, daß man das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit einer Handlung gehabt haben muß, um für ihre vorsätzliche Begehung Strafe zu erleiden, werden immer wieder Ent¬ scheidungen vorkommen, die mit dem natürlichen Rechtsbewußtsein in schroffem Gegensatze stehen. Herrscht aber einmal ein Mißtrauen gegen die Strafurteile von Gerichten, die mir mit Rechtsgelehrten besetzt sind, und ist auch keine Aussicht, daß sich dieses Vertrauen von selbst bald wieder befestigt, so ist nur dadurch zu helfen, daß man die gelehrten Gerichte in solche verwandelt, die das erforderliche Vertrauen genießen: daß man sich entschließt, auf deu ersten Entwurf eiuer Reichsstrafprozeßordnung des Ministers Friedberg vom Jahre 1873 zurückzugreifen und an Stelle der Strafkammern Schöffengerichte einführt. Die Vorzüge der Schöffengerichte sind oft genug auch in diesen Blättern erörtert worden. Sie bestehe», kurz zusammengefaßt, in der aus ihrer Ver¬ fassung sich ergebenden Notwendigkeit, den Gang der Verhandlung zu mäßigen und damit eine erschöpfendere Erörterung des Sachverhalts zu gewährleisten, sie machen eine hanrspalterische, dem starren Buchstaben des Gesetzes nach¬ gebende Rechtsprechung unwahrscheinlich, und sie entsprechen dem Grundsatze der Selbstverwaltung, die heute auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens durchgeführt ist. Schon in einem Schreiben vom 24. Oktober 1870 um den Bundesrat urteilt das sächsische Ministerium über die damals seit mehreren Jahren in Sachsen eingeführten Schöffengerichte: „Die beinahe übereinstimmende Ansicht aller geht dahin, daß die Einrichtung des Schöffengerichts einen wesent¬ lichen Fortschritt enthalte, daß das Vertrauen zu den Sprüchen der Schöffen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/485>, abgerufen am 26.06.2024.