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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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sein, tels Verständnis für ihre Sonderinteressen dort fehlen. Nun, von den
vierhundert Reichstagsabgeordneten sind etwa 32,4 Prozent von Profession
Landwirte, Gutsbesitzer oder Pächter, nicht gerechnet die zahlreichen Landräte,
die doch auch ein Verständnis sür die Sache haben müssen. Nebenbei bemerkt
halten wir die Wahl von Landräten nicht für erwünscht, die gehören in ihre
Kreise und nicht ins Parlament. Bürgermeistern soll es ja begegnet sein, daß
sie von ihren Stadtverordneten höflichst ersucht wurden, ein Mandat abzu¬
lehnen; von den Kreisansschüssen haben wir entsprechende Forderungen noch
nicht vernommen. Im preußischen Abgeordnetenhause ist die Landwirtschaft
sogar mit 43 Prozent ausschließlich der Landräte vertreten. Sollte das nicht
genng sein? Die Gründung einer großen Agrarpartei in beiden Parlamenten
unter Freigebung des sonstigen Parteistandpunktes in nicht agrarischen Fragen
erscheint allerdings für den Landwirt auf den ersten Blick sehr verlockend und
aussichtsvoll; geht man aber der Sache auf den Leib, so ergiebt sich die
Schwierigkeit, ja fast die Unmöglichkeit sofort. Im Reichstage sitzen heute an
Landwirten etwa 45 Konservative, 9 von der Neichspartei, 33 Zentrums-
münner, 12 Polen, 11 Nationalliberale, 9 Freisinnige, 2 von der Volks¬
partei und 10, die bei keiner Fraktion eingeschrieben sind. Im Abgeordneten¬
hause ist die Zahl der Landwirte etwa folgende: 95 Konservative, 30 Frei¬
konservative, 29 vom Zentrum, 24 Nationalliberale, 6 Polen und 3 Freisinnige.
Sollten all diese Männer gar kein Verständnis für ihre eigensten Interessen
haben und so wenig "Rückgrat," daß sie wie eine tollgewordne Hammelherde
ins Feuer rennen, nur wenn die Regierung winkt? Sollte es in den großen
Wirtschaftsfragen bei ihnen an jeder ernsten Abwägung zwischen Staatsinter-
esse und Landwirtschaftsinteresfe gefehlt haben? Die Verfasser des Programms
vergessen eins vollkommen: daß es sich heute nicht bloß um Preußen allein,
sondern um das ganze deutsche Reich handelt, und daß der Reichstag die Interessen
des Ganzen abzuwägen hat. Und nun fragen wir weiter: gehen denn die Interessen
aller Landwirte Deutschlands immer einen Weg? Nein, viel häufiger, als man denken
sollte, gehen sie auseinander. Die einzelne" Staaten, die einzelnen Provinzen, selbst
die einzelnen Kreise stehen einander in manchen landwirtschaftlichen Fragen
schroff gegenüber. In demselben Augenblick, wo der "Bund der Landwirte"
alle unter einen Hut bringen will: Konservative, Ultramontane, Liberale,
Polen, Welsen, Altpreußen. Süddeutsche -- beantragen die sächsischen und
westfälische" Landwirte bei dem "Deutschen Landwirtschaftsrat" die Auf¬
hebung der Staffeltarife, dieser Frachtbegünstigung für ostdeutsches Getreide,
die sich die Landwirtschaft im Osten der Elbe nach jahrelanger zäher Arbeit
erst vor kurzem unter dem Druck der letzten Teuerung erkämpft hat. Die
^se- und Westpreußen, deren Wohl und Wehe eng mit ihren Handelsplätzen
Königsberg und Danzig verbunden ist, verlangen seit Jahren stürmisch die
Aufhebung des "Identitätsnachweises" für das ans den Transitlageru ver-


sein, tels Verständnis für ihre Sonderinteressen dort fehlen. Nun, von den
vierhundert Reichstagsabgeordneten sind etwa 32,4 Prozent von Profession
Landwirte, Gutsbesitzer oder Pächter, nicht gerechnet die zahlreichen Landräte,
die doch auch ein Verständnis sür die Sache haben müssen. Nebenbei bemerkt
halten wir die Wahl von Landräten nicht für erwünscht, die gehören in ihre
Kreise und nicht ins Parlament. Bürgermeistern soll es ja begegnet sein, daß
sie von ihren Stadtverordneten höflichst ersucht wurden, ein Mandat abzu¬
lehnen; von den Kreisansschüssen haben wir entsprechende Forderungen noch
nicht vernommen. Im preußischen Abgeordnetenhause ist die Landwirtschaft
sogar mit 43 Prozent ausschließlich der Landräte vertreten. Sollte das nicht
genng sein? Die Gründung einer großen Agrarpartei in beiden Parlamenten
unter Freigebung des sonstigen Parteistandpunktes in nicht agrarischen Fragen
erscheint allerdings für den Landwirt auf den ersten Blick sehr verlockend und
aussichtsvoll; geht man aber der Sache auf den Leib, so ergiebt sich die
Schwierigkeit, ja fast die Unmöglichkeit sofort. Im Reichstage sitzen heute an
Landwirten etwa 45 Konservative, 9 von der Neichspartei, 33 Zentrums-
münner, 12 Polen, 11 Nationalliberale, 9 Freisinnige, 2 von der Volks¬
partei und 10, die bei keiner Fraktion eingeschrieben sind. Im Abgeordneten¬
hause ist die Zahl der Landwirte etwa folgende: 95 Konservative, 30 Frei¬
konservative, 29 vom Zentrum, 24 Nationalliberale, 6 Polen und 3 Freisinnige.
Sollten all diese Männer gar kein Verständnis für ihre eigensten Interessen
haben und so wenig „Rückgrat," daß sie wie eine tollgewordne Hammelherde
ins Feuer rennen, nur wenn die Regierung winkt? Sollte es in den großen
Wirtschaftsfragen bei ihnen an jeder ernsten Abwägung zwischen Staatsinter-
esse und Landwirtschaftsinteresfe gefehlt haben? Die Verfasser des Programms
vergessen eins vollkommen: daß es sich heute nicht bloß um Preußen allein,
sondern um das ganze deutsche Reich handelt, und daß der Reichstag die Interessen
des Ganzen abzuwägen hat. Und nun fragen wir weiter: gehen denn die Interessen
aller Landwirte Deutschlands immer einen Weg? Nein, viel häufiger, als man denken
sollte, gehen sie auseinander. Die einzelne» Staaten, die einzelnen Provinzen, selbst
die einzelnen Kreise stehen einander in manchen landwirtschaftlichen Fragen
schroff gegenüber. In demselben Augenblick, wo der „Bund der Landwirte"
alle unter einen Hut bringen will: Konservative, Ultramontane, Liberale,
Polen, Welsen, Altpreußen. Süddeutsche — beantragen die sächsischen und
westfälische» Landwirte bei dem „Deutschen Landwirtschaftsrat" die Auf¬
hebung der Staffeltarife, dieser Frachtbegünstigung für ostdeutsches Getreide,
die sich die Landwirtschaft im Osten der Elbe nach jahrelanger zäher Arbeit
erst vor kurzem unter dem Druck der letzten Teuerung erkämpft hat. Die
^se- und Westpreußen, deren Wohl und Wehe eng mit ihren Handelsplätzen
Königsberg und Danzig verbunden ist, verlangen seit Jahren stürmisch die
Aufhebung des „Identitätsnachweises" für das ans den Transitlageru ver-


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[0477] sein, tels Verständnis für ihre Sonderinteressen dort fehlen. Nun, von den vierhundert Reichstagsabgeordneten sind etwa 32,4 Prozent von Profession Landwirte, Gutsbesitzer oder Pächter, nicht gerechnet die zahlreichen Landräte, die doch auch ein Verständnis sür die Sache haben müssen. Nebenbei bemerkt halten wir die Wahl von Landräten nicht für erwünscht, die gehören in ihre Kreise und nicht ins Parlament. Bürgermeistern soll es ja begegnet sein, daß sie von ihren Stadtverordneten höflichst ersucht wurden, ein Mandat abzu¬ lehnen; von den Kreisansschüssen haben wir entsprechende Forderungen noch nicht vernommen. Im preußischen Abgeordnetenhause ist die Landwirtschaft sogar mit 43 Prozent ausschließlich der Landräte vertreten. Sollte das nicht genng sein? Die Gründung einer großen Agrarpartei in beiden Parlamenten unter Freigebung des sonstigen Parteistandpunktes in nicht agrarischen Fragen erscheint allerdings für den Landwirt auf den ersten Blick sehr verlockend und aussichtsvoll; geht man aber der Sache auf den Leib, so ergiebt sich die Schwierigkeit, ja fast die Unmöglichkeit sofort. Im Reichstage sitzen heute an Landwirten etwa 45 Konservative, 9 von der Neichspartei, 33 Zentrums- münner, 12 Polen, 11 Nationalliberale, 9 Freisinnige, 2 von der Volks¬ partei und 10, die bei keiner Fraktion eingeschrieben sind. Im Abgeordneten¬ hause ist die Zahl der Landwirte etwa folgende: 95 Konservative, 30 Frei¬ konservative, 29 vom Zentrum, 24 Nationalliberale, 6 Polen und 3 Freisinnige. Sollten all diese Männer gar kein Verständnis für ihre eigensten Interessen haben und so wenig „Rückgrat," daß sie wie eine tollgewordne Hammelherde ins Feuer rennen, nur wenn die Regierung winkt? Sollte es in den großen Wirtschaftsfragen bei ihnen an jeder ernsten Abwägung zwischen Staatsinter- esse und Landwirtschaftsinteresfe gefehlt haben? Die Verfasser des Programms vergessen eins vollkommen: daß es sich heute nicht bloß um Preußen allein, sondern um das ganze deutsche Reich handelt, und daß der Reichstag die Interessen des Ganzen abzuwägen hat. Und nun fragen wir weiter: gehen denn die Interessen aller Landwirte Deutschlands immer einen Weg? Nein, viel häufiger, als man denken sollte, gehen sie auseinander. Die einzelne» Staaten, die einzelnen Provinzen, selbst die einzelnen Kreise stehen einander in manchen landwirtschaftlichen Fragen schroff gegenüber. In demselben Augenblick, wo der „Bund der Landwirte" alle unter einen Hut bringen will: Konservative, Ultramontane, Liberale, Polen, Welsen, Altpreußen. Süddeutsche — beantragen die sächsischen und westfälische» Landwirte bei dem „Deutschen Landwirtschaftsrat" die Auf¬ hebung der Staffeltarife, dieser Frachtbegünstigung für ostdeutsches Getreide, die sich die Landwirtschaft im Osten der Elbe nach jahrelanger zäher Arbeit erst vor kurzem unter dem Druck der letzten Teuerung erkämpft hat. Die ^se- und Westpreußen, deren Wohl und Wehe eng mit ihren Handelsplätzen Königsberg und Danzig verbunden ist, verlangen seit Jahren stürmisch die Aufhebung des „Identitätsnachweises" für das ans den Transitlageru ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/477>, abgerufen am 26.06.2024.