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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Konservative Mobilmachung

s ist
ein seltnes Schauspiel, das der deutsche Reichstag und der
preußische Landtag gegenwärtig bieten. Zuerst platzten die Geister
über den "Zukunftsstaat" auf einander, dann schütteten die
"Agrarier" hier wie dort die ganze Schale ihres Zorns über
die vorjährige wie über die zukünftige Handelspolitik aus, und
schließlich wird im Landtag auch noch die Judenfrage geritten. Dabei stehen
im Vordergrunde der parlamentarischen Aufgaben die Heeresreform und der
Abschluß der Reform der direkten Steuern!

Und welche wunderbaren Gruppirungen haben sich dabei ergeben! Bei
dem "Zukunftsstaat" standen die Parteien samt und sonders zusammen gegen
die Svzialdemokrntie. In der handelspolitischen und zugleich landwirtschaft¬
lichen Frage erhebt sich die gesamte konservative Rechte nicht gegen die Linke,
sondern -- gegen den Reichskanzler und die Regierung überhaupt, während
die Linke als freiwillige Hilfstruppe die Negierung eifrig unterstützt; in der
Militärfrage wiederum steht die äußerste Linke an der Spitze einer viel¬
gestaltigen Opposition; die Judenfrage führt ein fortwährendes Handgemenge
zwischen rechts und links herbei, während die Kraft der Opposition der Linken
in der Steuerrefvrmfrage zusehends erlahmt, sodaß der Regierung hierbei bald
die reifen Früchte in den Schoß fallen werden.

Aber nicht bloß diese schwer vereinbaren gegensätzlichen Gruppirungen
sind es, die Nerwundrnng erregen; mehr noch ist dies der Fall mit der Zähigkeit
und Leidenschaft, die sich in den parlamentarischen Kämpfen zeigt. Die kon¬
servative Partei hat seit den Tagen der Grundsteuer, der Kreisordnnng
und des beginnenden Kulturkampfs noch nie ein solches Übermaß der Un¬
zufriedenheit mit der Negierung, noch nie eine solche Energie und Erbitterung
in der Vertretung ihrer Interessen und Überzeugungen an den Tag gelegt
wie jetzt in der handelspolitischen und landwirtschaftlichen Frage, zum Teil
auch in der Judeufrngc. Auch in die Judenfrage mischt sich eine gewisse
Gegnerschaft gegen die Regierung, seitdem der Reichskanzler den agitatorischen
Antisemitismus oder wenigstens seine demagogische Spielart gebrandmarkt hat;
wenigstens wird diese Stellungnahme des Reichskanzlers der Regierung mit
miss Kerbholz geschrieben, und die Energie und Leidenschaftlichkeit der gegen




Konservative Mobilmachung

s ist
ein seltnes Schauspiel, das der deutsche Reichstag und der
preußische Landtag gegenwärtig bieten. Zuerst platzten die Geister
über den „Zukunftsstaat" auf einander, dann schütteten die
„Agrarier" hier wie dort die ganze Schale ihres Zorns über
die vorjährige wie über die zukünftige Handelspolitik aus, und
schließlich wird im Landtag auch noch die Judenfrage geritten. Dabei stehen
im Vordergrunde der parlamentarischen Aufgaben die Heeresreform und der
Abschluß der Reform der direkten Steuern!

Und welche wunderbaren Gruppirungen haben sich dabei ergeben! Bei
dem „Zukunftsstaat" standen die Parteien samt und sonders zusammen gegen
die Svzialdemokrntie. In der handelspolitischen und zugleich landwirtschaft¬
lichen Frage erhebt sich die gesamte konservative Rechte nicht gegen die Linke,
sondern — gegen den Reichskanzler und die Regierung überhaupt, während
die Linke als freiwillige Hilfstruppe die Negierung eifrig unterstützt; in der
Militärfrage wiederum steht die äußerste Linke an der Spitze einer viel¬
gestaltigen Opposition; die Judenfrage führt ein fortwährendes Handgemenge
zwischen rechts und links herbei, während die Kraft der Opposition der Linken
in der Steuerrefvrmfrage zusehends erlahmt, sodaß der Regierung hierbei bald
die reifen Früchte in den Schoß fallen werden.

Aber nicht bloß diese schwer vereinbaren gegensätzlichen Gruppirungen
sind es, die Nerwundrnng erregen; mehr noch ist dies der Fall mit der Zähigkeit
und Leidenschaft, die sich in den parlamentarischen Kämpfen zeigt. Die kon¬
servative Partei hat seit den Tagen der Grundsteuer, der Kreisordnnng
und des beginnenden Kulturkampfs noch nie ein solches Übermaß der Un¬
zufriedenheit mit der Negierung, noch nie eine solche Energie und Erbitterung
in der Vertretung ihrer Interessen und Überzeugungen an den Tag gelegt
wie jetzt in der handelspolitischen und landwirtschaftlichen Frage, zum Teil
auch in der Judeufrngc. Auch in die Judenfrage mischt sich eine gewisse
Gegnerschaft gegen die Regierung, seitdem der Reichskanzler den agitatorischen
Antisemitismus oder wenigstens seine demagogische Spielart gebrandmarkt hat;
wenigstens wird diese Stellungnahme des Reichskanzlers der Regierung mit
miss Kerbholz geschrieben, und die Energie und Leidenschaftlichkeit der gegen


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[0455] [Abbildung] Konservative Mobilmachung s ist ein seltnes Schauspiel, das der deutsche Reichstag und der preußische Landtag gegenwärtig bieten. Zuerst platzten die Geister über den „Zukunftsstaat" auf einander, dann schütteten die „Agrarier" hier wie dort die ganze Schale ihres Zorns über die vorjährige wie über die zukünftige Handelspolitik aus, und schließlich wird im Landtag auch noch die Judenfrage geritten. Dabei stehen im Vordergrunde der parlamentarischen Aufgaben die Heeresreform und der Abschluß der Reform der direkten Steuern! Und welche wunderbaren Gruppirungen haben sich dabei ergeben! Bei dem „Zukunftsstaat" standen die Parteien samt und sonders zusammen gegen die Svzialdemokrntie. In der handelspolitischen und zugleich landwirtschaft¬ lichen Frage erhebt sich die gesamte konservative Rechte nicht gegen die Linke, sondern — gegen den Reichskanzler und die Regierung überhaupt, während die Linke als freiwillige Hilfstruppe die Negierung eifrig unterstützt; in der Militärfrage wiederum steht die äußerste Linke an der Spitze einer viel¬ gestaltigen Opposition; die Judenfrage führt ein fortwährendes Handgemenge zwischen rechts und links herbei, während die Kraft der Opposition der Linken in der Steuerrefvrmfrage zusehends erlahmt, sodaß der Regierung hierbei bald die reifen Früchte in den Schoß fallen werden. Aber nicht bloß diese schwer vereinbaren gegensätzlichen Gruppirungen sind es, die Nerwundrnng erregen; mehr noch ist dies der Fall mit der Zähigkeit und Leidenschaft, die sich in den parlamentarischen Kämpfen zeigt. Die kon¬ servative Partei hat seit den Tagen der Grundsteuer, der Kreisordnnng und des beginnenden Kulturkampfs noch nie ein solches Übermaß der Un¬ zufriedenheit mit der Negierung, noch nie eine solche Energie und Erbitterung in der Vertretung ihrer Interessen und Überzeugungen an den Tag gelegt wie jetzt in der handelspolitischen und landwirtschaftlichen Frage, zum Teil auch in der Judeufrngc. Auch in die Judenfrage mischt sich eine gewisse Gegnerschaft gegen die Regierung, seitdem der Reichskanzler den agitatorischen Antisemitismus oder wenigstens seine demagogische Spielart gebrandmarkt hat; wenigstens wird diese Stellungnahme des Reichskanzlers der Regierung mit miss Kerbholz geschrieben, und die Energie und Leidenschaftlichkeit der gegen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/455>, abgerufen am 28.11.2024.