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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Unsre volksschullnldung

Diese Thatsache sollte hinreichen, uns über das Bedenkliche der herr¬
schenden Theorie und Praxis, die Volksschule in den Dienst der Volksauf¬
klärung quitllä lusus zu stellen, die Augen zu öffnen. Das Übel trägt aber
uicht bloß einen privaten Charakter an sich, wenn diese Bezeichnung überhaupt
da statthaft ist, wo die Einzelexistenzen, die es bedroht und trifft, nach Mil¬
lionen zählen, sondern es hat zugleich eine ernste öffentliche Gefahr zur Folge.
Der Verfasser der angeführten Aufsatzes hat sich damit begnügt, die daraus
erwachsenden großen "Kalamitäten" im allgemeinen anzudeuten, "die nicht nur
das Erwerbsleben der Nation bedrohen, sondern auch gegen das Staatsinteresse
verstoßen, das an die Beschränkung der Zahl der Unzufriednen und der so¬
zialistischen Massen in den großen Städten gebunden ist," allein zu überhören
ist der Anklang nicht, den diese Andeutung enthält an die bekannte Mahnung:
ViäöÄNt "ZON8ni68!

Noch deutlicher läßt sich dieser Warnungsruf vernehmen aus der ein-
gehenden Betrachtung, die die Hamburger Nachrichten vom 31. März v. I.
den "Verschiebungen" widmen, in denen "die zwischen Volkskraft und Wehr¬
kraft bestehenden untrennbaren Beziehungen" zur Zeit begriffen sind, Ihr
Gedankengang, der unsern eignen Anschauungen durchaus entspricht, ist in der
Kürze folgender. Das stärkste, ja das einzig haltbare Bollwerk, das dem
Staat und der Gesellschaft gegen die Wogen des Umsturzes Schutz zu bieten
verspricht, ist das Heer. Die soziale Frage ist, wie Fürst Bismarck sich vor
einigen Jahren ausdrückte, eine militärische Frage. Die Widerstandsfähigkeit
dieser Schutzwehr aber beruht wesentlich auf der Zuverlässigkeit des Gehor¬
sams, auf dem guten Geist, auf der Disziplin, die in den Reihen des Heeres
herrschen. In alledem ist der Wert des aus der städtischen Bevölkerung her¬
vorgehenden Rekruten weit geringer, als der des ländlichen, denn bei ihrer
Schätzung kommen die sittlich und politisch zersetzenden Einflüsse in Anschlag,
denen der städtische Wehrpflichtige bis zu seinem Eintritt ins Heer ausgesetzt
war, vor denen der in relativ gesunden Verhältnissen aufgewachsene ländliche
Wehrpflichtige bis dahin bewahrt blieb. Eine Zunahme der städtischen Be¬
völkerung auf Kosten der ländlichen muß somit, abgesehen von der den länd¬
lichen Wehrpflichtigen in höherm Maße eignen physischen Tüchtigkeit, unfehlbar
eine Schwächung der moralischen Zuverlässigkeit des Heeres mit sich bringen
und ist daher mit einer Erschütterung der Grundlage, ans der die Sicherheit
der öffentlichen Ordnung in erster Linie beruht, gleichbedeutend. Reihen wir
diesen Folgerungen den Gedanken an, dem der Aufsatz der Hamburger Nach¬
richten vom 17. März Ausdruck giebt, uümlich "daß die heutige Gestaltung des
ländlichen Volksschnlunterrichts den massenhaften Wegzug der ländlichen Jugend
in die Großstadt und das Anwachsen des städtischen Proletariats in der Haupt¬
sache mit verschuldet," so ergiebt sich als Schlußsatz von selbst, daß die ländliche
Volksschule ihre gemeingefährliche Wirksamkeit mittelbar auch in der besondern


Unsre volksschullnldung

Diese Thatsache sollte hinreichen, uns über das Bedenkliche der herr¬
schenden Theorie und Praxis, die Volksschule in den Dienst der Volksauf¬
klärung quitllä lusus zu stellen, die Augen zu öffnen. Das Übel trägt aber
uicht bloß einen privaten Charakter an sich, wenn diese Bezeichnung überhaupt
da statthaft ist, wo die Einzelexistenzen, die es bedroht und trifft, nach Mil¬
lionen zählen, sondern es hat zugleich eine ernste öffentliche Gefahr zur Folge.
Der Verfasser der angeführten Aufsatzes hat sich damit begnügt, die daraus
erwachsenden großen „Kalamitäten" im allgemeinen anzudeuten, „die nicht nur
das Erwerbsleben der Nation bedrohen, sondern auch gegen das Staatsinteresse
verstoßen, das an die Beschränkung der Zahl der Unzufriednen und der so¬
zialistischen Massen in den großen Städten gebunden ist," allein zu überhören
ist der Anklang nicht, den diese Andeutung enthält an die bekannte Mahnung:
ViäöÄNt «ZON8ni68!

Noch deutlicher läßt sich dieser Warnungsruf vernehmen aus der ein-
gehenden Betrachtung, die die Hamburger Nachrichten vom 31. März v. I.
den „Verschiebungen" widmen, in denen „die zwischen Volkskraft und Wehr¬
kraft bestehenden untrennbaren Beziehungen" zur Zeit begriffen sind, Ihr
Gedankengang, der unsern eignen Anschauungen durchaus entspricht, ist in der
Kürze folgender. Das stärkste, ja das einzig haltbare Bollwerk, das dem
Staat und der Gesellschaft gegen die Wogen des Umsturzes Schutz zu bieten
verspricht, ist das Heer. Die soziale Frage ist, wie Fürst Bismarck sich vor
einigen Jahren ausdrückte, eine militärische Frage. Die Widerstandsfähigkeit
dieser Schutzwehr aber beruht wesentlich auf der Zuverlässigkeit des Gehor¬
sams, auf dem guten Geist, auf der Disziplin, die in den Reihen des Heeres
herrschen. In alledem ist der Wert des aus der städtischen Bevölkerung her¬
vorgehenden Rekruten weit geringer, als der des ländlichen, denn bei ihrer
Schätzung kommen die sittlich und politisch zersetzenden Einflüsse in Anschlag,
denen der städtische Wehrpflichtige bis zu seinem Eintritt ins Heer ausgesetzt
war, vor denen der in relativ gesunden Verhältnissen aufgewachsene ländliche
Wehrpflichtige bis dahin bewahrt blieb. Eine Zunahme der städtischen Be¬
völkerung auf Kosten der ländlichen muß somit, abgesehen von der den länd¬
lichen Wehrpflichtigen in höherm Maße eignen physischen Tüchtigkeit, unfehlbar
eine Schwächung der moralischen Zuverlässigkeit des Heeres mit sich bringen
und ist daher mit einer Erschütterung der Grundlage, ans der die Sicherheit
der öffentlichen Ordnung in erster Linie beruht, gleichbedeutend. Reihen wir
diesen Folgerungen den Gedanken an, dem der Aufsatz der Hamburger Nach¬
richten vom 17. März Ausdruck giebt, uümlich „daß die heutige Gestaltung des
ländlichen Volksschnlunterrichts den massenhaften Wegzug der ländlichen Jugend
in die Großstadt und das Anwachsen des städtischen Proletariats in der Haupt¬
sache mit verschuldet," so ergiebt sich als Schlußsatz von selbst, daß die ländliche
Volksschule ihre gemeingefährliche Wirksamkeit mittelbar auch in der besondern


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[0396] Unsre volksschullnldung Diese Thatsache sollte hinreichen, uns über das Bedenkliche der herr¬ schenden Theorie und Praxis, die Volksschule in den Dienst der Volksauf¬ klärung quitllä lusus zu stellen, die Augen zu öffnen. Das Übel trägt aber uicht bloß einen privaten Charakter an sich, wenn diese Bezeichnung überhaupt da statthaft ist, wo die Einzelexistenzen, die es bedroht und trifft, nach Mil¬ lionen zählen, sondern es hat zugleich eine ernste öffentliche Gefahr zur Folge. Der Verfasser der angeführten Aufsatzes hat sich damit begnügt, die daraus erwachsenden großen „Kalamitäten" im allgemeinen anzudeuten, „die nicht nur das Erwerbsleben der Nation bedrohen, sondern auch gegen das Staatsinteresse verstoßen, das an die Beschränkung der Zahl der Unzufriednen und der so¬ zialistischen Massen in den großen Städten gebunden ist," allein zu überhören ist der Anklang nicht, den diese Andeutung enthält an die bekannte Mahnung: ViäöÄNt «ZON8ni68! Noch deutlicher läßt sich dieser Warnungsruf vernehmen aus der ein- gehenden Betrachtung, die die Hamburger Nachrichten vom 31. März v. I. den „Verschiebungen" widmen, in denen „die zwischen Volkskraft und Wehr¬ kraft bestehenden untrennbaren Beziehungen" zur Zeit begriffen sind, Ihr Gedankengang, der unsern eignen Anschauungen durchaus entspricht, ist in der Kürze folgender. Das stärkste, ja das einzig haltbare Bollwerk, das dem Staat und der Gesellschaft gegen die Wogen des Umsturzes Schutz zu bieten verspricht, ist das Heer. Die soziale Frage ist, wie Fürst Bismarck sich vor einigen Jahren ausdrückte, eine militärische Frage. Die Widerstandsfähigkeit dieser Schutzwehr aber beruht wesentlich auf der Zuverlässigkeit des Gehor¬ sams, auf dem guten Geist, auf der Disziplin, die in den Reihen des Heeres herrschen. In alledem ist der Wert des aus der städtischen Bevölkerung her¬ vorgehenden Rekruten weit geringer, als der des ländlichen, denn bei ihrer Schätzung kommen die sittlich und politisch zersetzenden Einflüsse in Anschlag, denen der städtische Wehrpflichtige bis zu seinem Eintritt ins Heer ausgesetzt war, vor denen der in relativ gesunden Verhältnissen aufgewachsene ländliche Wehrpflichtige bis dahin bewahrt blieb. Eine Zunahme der städtischen Be¬ völkerung auf Kosten der ländlichen muß somit, abgesehen von der den länd¬ lichen Wehrpflichtigen in höherm Maße eignen physischen Tüchtigkeit, unfehlbar eine Schwächung der moralischen Zuverlässigkeit des Heeres mit sich bringen und ist daher mit einer Erschütterung der Grundlage, ans der die Sicherheit der öffentlichen Ordnung in erster Linie beruht, gleichbedeutend. Reihen wir diesen Folgerungen den Gedanken an, dem der Aufsatz der Hamburger Nach¬ richten vom 17. März Ausdruck giebt, uümlich „daß die heutige Gestaltung des ländlichen Volksschnlunterrichts den massenhaften Wegzug der ländlichen Jugend in die Großstadt und das Anwachsen des städtischen Proletariats in der Haupt¬ sache mit verschuldet," so ergiebt sich als Schlußsatz von selbst, daß die ländliche Volksschule ihre gemeingefährliche Wirksamkeit mittelbar auch in der besondern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/396>, abgerufen am 20.09.2024.