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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die Philosophie vom Übermenschen

der Pflicht, Gott und der Menschheit wird der Dienst gekündigt. Nur das
Ich herrscht. Nichts ist wahr, alles ist erlaubt. Das ist das Zauberwort
der neuen im Morgengrauen des Jahrhunderts aufsteigenden Kultur.

Mau sieht, daß Nietzsches Herostratische Ideen sehr ernst -- gemeint sind.
Das ist aber auch wohl alles. Im übrigen sind sie nichts als Ideen des
bedauernswerten Maunes. Der Fehler seines "Systems" ist seine Unaus-
führbarkeit und der der entfesselten brutalen Kraft anhaftende Widerspruch:
einerseits soll sich der Wille zur Macht ins Unendliche steigern, dabei stützt
er sich aber auf die beschränkte Kraft des Individuums mit der natürlichen
Folge, daß er sich an den entgegenstehenden Schwierigkeiten zerreibt und --
seinen Weltmenschen in die thatenlose Einsamkeit schickt. So bewuudernswert
Nietzsche "alles zu kombiniren weiß," so glänzend sein "spitzfindiger Scharf¬
sinn," der nach scholastischen Muster "durch keine Einrede in Verlegenheit
kommt," zu Tage tritt, überzeugend wirken diese vulkanisch heransgeschleudertcn
Gedanken uicht.

Unsre Zeit ist für Nietzsches Ideal noch nicht reif, und Gott gebe,
daß sie nie dafür reif werde. Mag sich der halbgebildete Dnrchschnittslitterat
von dem glänzenden Feuerwerk blenden lassen, seine Ideale sind stark mit
Wahnwitz durchsetzt. Halb Genie, halb Wahnsinn. Aber es ist Methode,
geistreiche Methode in dem Wahnsinn, eine bewunderöwerte Folgerichtigkeit
wenigstens in der Leugnung aller Wahrheit. Wahnwitz wäre auch der bloße
Gedanke an die Verwirklichung dieser neuen Moral im Leben. In ihre An¬
fänge, in die vermeintlichen Anfänge der Unkultur, in den Barbarismus
der "ganzeren Menschen," d. h. der "ganzeren Bestien," läßt sich die Welt uicht
zurückschrauben. In blutiger Vernichtung würde unter Nietzsches welten¬
stürzender Hand die Welt untergehen. Nietzsches "herkulische Kraft" wird das
vorwärtsdrängende Rad der Weltgeschichte, die Kraft des Kulturgedankens,
der auf die Beteiligung der Massen am Allgemeingute geht, uicht zum Still¬
stande bringen, wenn auch seine Lehre hie und da zu eiuer raffinirten "Geistes-
kultur von Aristokraten" unter den besitzenden Klaffen führen mag. Nietzsche
hat darum anch die letzten Folgerungen seiner Gedanken nicht auszusprechen
gewagt, wie E. von Hartmann meint, in der nicht unbegründeten Besorgnis,
daß sie eiuer rsÄuvtio Ää g-dsuränm gleich geachtet werden würde. Jetzt er¬
baut sich die umsturzlüsterne Jugend eines zuchtlosen Geschlechts an Nietzsches
Vexirmasken als eiuer neuen und tiefen Weisheit; sie sollte, wenn sie nach
diesen Gewissen des Übermenschentums verlangt, doch lieber nach andern
Meistern greifen, aus deren Banne sich anch Nietzsche trotz aller in Anspruch
genommenen Originalität nicht loszumachen vermocht hat. Man wird bei ihm
den Eindruck nicht los, daß in seinem "System" Phrase, Dialektik, Zweck alles,
innere Wahrheit nichts ist. Sein Gedankenflug steigt auf zu deu eisigen Hohen
der Weltvde, der Unmöglichkeiten, aber <mi trox sindr-Ws, iruck vereint.


Die Philosophie vom Übermenschen

der Pflicht, Gott und der Menschheit wird der Dienst gekündigt. Nur das
Ich herrscht. Nichts ist wahr, alles ist erlaubt. Das ist das Zauberwort
der neuen im Morgengrauen des Jahrhunderts aufsteigenden Kultur.

Mau sieht, daß Nietzsches Herostratische Ideen sehr ernst — gemeint sind.
Das ist aber auch wohl alles. Im übrigen sind sie nichts als Ideen des
bedauernswerten Maunes. Der Fehler seines „Systems" ist seine Unaus-
führbarkeit und der der entfesselten brutalen Kraft anhaftende Widerspruch:
einerseits soll sich der Wille zur Macht ins Unendliche steigern, dabei stützt
er sich aber auf die beschränkte Kraft des Individuums mit der natürlichen
Folge, daß er sich an den entgegenstehenden Schwierigkeiten zerreibt und —
seinen Weltmenschen in die thatenlose Einsamkeit schickt. So bewuudernswert
Nietzsche „alles zu kombiniren weiß," so glänzend sein „spitzfindiger Scharf¬
sinn," der nach scholastischen Muster „durch keine Einrede in Verlegenheit
kommt," zu Tage tritt, überzeugend wirken diese vulkanisch heransgeschleudertcn
Gedanken uicht.

Unsre Zeit ist für Nietzsches Ideal noch nicht reif, und Gott gebe,
daß sie nie dafür reif werde. Mag sich der halbgebildete Dnrchschnittslitterat
von dem glänzenden Feuerwerk blenden lassen, seine Ideale sind stark mit
Wahnwitz durchsetzt. Halb Genie, halb Wahnsinn. Aber es ist Methode,
geistreiche Methode in dem Wahnsinn, eine bewunderöwerte Folgerichtigkeit
wenigstens in der Leugnung aller Wahrheit. Wahnwitz wäre auch der bloße
Gedanke an die Verwirklichung dieser neuen Moral im Leben. In ihre An¬
fänge, in die vermeintlichen Anfänge der Unkultur, in den Barbarismus
der „ganzeren Menschen," d. h. der „ganzeren Bestien," läßt sich die Welt uicht
zurückschrauben. In blutiger Vernichtung würde unter Nietzsches welten¬
stürzender Hand die Welt untergehen. Nietzsches „herkulische Kraft" wird das
vorwärtsdrängende Rad der Weltgeschichte, die Kraft des Kulturgedankens,
der auf die Beteiligung der Massen am Allgemeingute geht, uicht zum Still¬
stande bringen, wenn auch seine Lehre hie und da zu eiuer raffinirten „Geistes-
kultur von Aristokraten" unter den besitzenden Klaffen führen mag. Nietzsche
hat darum anch die letzten Folgerungen seiner Gedanken nicht auszusprechen
gewagt, wie E. von Hartmann meint, in der nicht unbegründeten Besorgnis,
daß sie eiuer rsÄuvtio Ää g-dsuränm gleich geachtet werden würde. Jetzt er¬
baut sich die umsturzlüsterne Jugend eines zuchtlosen Geschlechts an Nietzsches
Vexirmasken als eiuer neuen und tiefen Weisheit; sie sollte, wenn sie nach
diesen Gewissen des Übermenschentums verlangt, doch lieber nach andern
Meistern greifen, aus deren Banne sich anch Nietzsche trotz aller in Anspruch
genommenen Originalität nicht loszumachen vermocht hat. Man wird bei ihm
den Eindruck nicht los, daß in seinem „System" Phrase, Dialektik, Zweck alles,
innere Wahrheit nichts ist. Sein Gedankenflug steigt auf zu deu eisigen Hohen
der Weltvde, der Unmöglichkeiten, aber <mi trox sindr-Ws, iruck vereint.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/94>, abgerufen am 23.07.2024.