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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die Philosophie vom Übermenschen

Würde. Schon von andrer Seite ist gesagt worden, daß die an die Stelle
der Moral gesetzte Selbstsucht, zum alleinigen Grundtrieb des Lebens erhoben,
eine ganz einseitige Verallgemeinerung ist. Die höchste Moral entpuppt sich
als höchste Jmmoralitüt, nicht bloß im Sinne der alten Moralen, sondern in
jedem möglichen Sinne des Wortes Moral.

Jedenfalls wird der bestehenden Moral mit der Entfesselung des brutalen
Machtwillens ein vernichtender Schlag versetzt. Mit der "Umwertung der
Werte" nämlich macht Nietzsche bittern Ernst. Das zeigt am deutlichsten
die Art, wie er sich mit dein ihn: äußerst unbequemen Gewissen auseinander¬
setzt. Das schlechte Gewissen, sagt er, ist die tiefe Erkrankung, der der Mensch
unter dem Drucke der Gesellschaft und des Friedens verfiel. Denn alle In¬
stinkte, die sich nicht nach außen entladen, wenden sich nach innen. Kann der
Mensch nicht andre quälen, so quält er sich selbst, denn seine Kraft, seine
Naubtierinstinkte verlangen nach Leben, d. h. nach Bethätigung. Das, was
die Menschen Gewissen nennen, ist also der gegen das Ich gewandte Instinkt
des schweifenden, innere Selbstzcrreibnng, Vergewaltigung des Ichs, "die
Folge einer gewaltsamen Abtrennung von der tierischen Vergangenheit, eine
Kriegserklärung gegen die alten Instinkte, die in ihrer Bethätigung bisher
seine Kraft, Freude, Furchtbarkeit ausmachten. Die Feindschaft, die Grau¬
samkeit, die Lust um der Verfolgung, am Überfall, an der Zerstörung -- alles
das gegen die Inhaber solcher Instinkte sich wendend, das ist der Ursprung
des schlechten Gewissens. Der Mensch, der, eingezwängt in eine drückende
Enge und Regelmäßigkeit der Sitte, ungeduldig sich selbst zerriß, verfolgte,
annagte, aufstörte, mißhandelte, dies an den Gitterstangen seines Käfigs sich
wundstoßende Tier, dieser entbehrende und vom Heimweh der Wüste ver¬
zehrte, der aus sich selbst eine Folterstätte schaffen mußte -- dieser Narr,
dieser sehnsüchtige und verzweifelte Gefangene wurde der Erfinder des schlechten
Gewissens. Mit ihm aber war die größte und unheimlichste Erkrankung ein¬
geleitet, von der die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des
Menschen am Menschen." Innerer Zwang, Selbstzerfleischung, Beschränkung
der Willkür, Fesselung des Ichs -- auf der ganzen Linie ein Widerspruch
gegen das Wesen des Herren.

Nicht anders sind nach Nietzsche die Begriffe Schuld und Pflicht nach
Ursprung und Inhalt zu verstehen: sie sind eine bedauernswerte Krankheit des
Herdenmenschen und haben durch ihre Verquickung mit der religiösen Verant-
wortlichkeit, durch ihre Beziehung auf Gott im "asketischen Ideal" die Selbst-
marternng bis zu ihrer schauerlichsten Härte und Schärfe getrieben. Eine
Schuld gegen Gott: dieser Gedanke wird dem Herrn zum Folterwerkzeug. Er
"ergreift in Gott die letzten Gegensätze zu seinen unablöslichen Tierinstinkten,
er deutet diese Instinkte selbst um als Schuld gegen Gott, er spannt sich in
den Widerspruch Gott und Teufel, er wirft alles Nein, das er zu sich selbst,


Die Philosophie vom Übermenschen

Würde. Schon von andrer Seite ist gesagt worden, daß die an die Stelle
der Moral gesetzte Selbstsucht, zum alleinigen Grundtrieb des Lebens erhoben,
eine ganz einseitige Verallgemeinerung ist. Die höchste Moral entpuppt sich
als höchste Jmmoralitüt, nicht bloß im Sinne der alten Moralen, sondern in
jedem möglichen Sinne des Wortes Moral.

Jedenfalls wird der bestehenden Moral mit der Entfesselung des brutalen
Machtwillens ein vernichtender Schlag versetzt. Mit der „Umwertung der
Werte" nämlich macht Nietzsche bittern Ernst. Das zeigt am deutlichsten
die Art, wie er sich mit dein ihn: äußerst unbequemen Gewissen auseinander¬
setzt. Das schlechte Gewissen, sagt er, ist die tiefe Erkrankung, der der Mensch
unter dem Drucke der Gesellschaft und des Friedens verfiel. Denn alle In¬
stinkte, die sich nicht nach außen entladen, wenden sich nach innen. Kann der
Mensch nicht andre quälen, so quält er sich selbst, denn seine Kraft, seine
Naubtierinstinkte verlangen nach Leben, d. h. nach Bethätigung. Das, was
die Menschen Gewissen nennen, ist also der gegen das Ich gewandte Instinkt
des schweifenden, innere Selbstzcrreibnng, Vergewaltigung des Ichs, „die
Folge einer gewaltsamen Abtrennung von der tierischen Vergangenheit, eine
Kriegserklärung gegen die alten Instinkte, die in ihrer Bethätigung bisher
seine Kraft, Freude, Furchtbarkeit ausmachten. Die Feindschaft, die Grau¬
samkeit, die Lust um der Verfolgung, am Überfall, an der Zerstörung — alles
das gegen die Inhaber solcher Instinkte sich wendend, das ist der Ursprung
des schlechten Gewissens. Der Mensch, der, eingezwängt in eine drückende
Enge und Regelmäßigkeit der Sitte, ungeduldig sich selbst zerriß, verfolgte,
annagte, aufstörte, mißhandelte, dies an den Gitterstangen seines Käfigs sich
wundstoßende Tier, dieser entbehrende und vom Heimweh der Wüste ver¬
zehrte, der aus sich selbst eine Folterstätte schaffen mußte — dieser Narr,
dieser sehnsüchtige und verzweifelte Gefangene wurde der Erfinder des schlechten
Gewissens. Mit ihm aber war die größte und unheimlichste Erkrankung ein¬
geleitet, von der die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des
Menschen am Menschen." Innerer Zwang, Selbstzerfleischung, Beschränkung
der Willkür, Fesselung des Ichs — auf der ganzen Linie ein Widerspruch
gegen das Wesen des Herren.

Nicht anders sind nach Nietzsche die Begriffe Schuld und Pflicht nach
Ursprung und Inhalt zu verstehen: sie sind eine bedauernswerte Krankheit des
Herdenmenschen und haben durch ihre Verquickung mit der religiösen Verant-
wortlichkeit, durch ihre Beziehung auf Gott im „asketischen Ideal" die Selbst-
marternng bis zu ihrer schauerlichsten Härte und Schärfe getrieben. Eine
Schuld gegen Gott: dieser Gedanke wird dem Herrn zum Folterwerkzeug. Er
„ergreift in Gott die letzten Gegensätze zu seinen unablöslichen Tierinstinkten,
er deutet diese Instinkte selbst um als Schuld gegen Gott, er spannt sich in
den Widerspruch Gott und Teufel, er wirft alles Nein, das er zu sich selbst,


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[0092] Die Philosophie vom Übermenschen Würde. Schon von andrer Seite ist gesagt worden, daß die an die Stelle der Moral gesetzte Selbstsucht, zum alleinigen Grundtrieb des Lebens erhoben, eine ganz einseitige Verallgemeinerung ist. Die höchste Moral entpuppt sich als höchste Jmmoralitüt, nicht bloß im Sinne der alten Moralen, sondern in jedem möglichen Sinne des Wortes Moral. Jedenfalls wird der bestehenden Moral mit der Entfesselung des brutalen Machtwillens ein vernichtender Schlag versetzt. Mit der „Umwertung der Werte" nämlich macht Nietzsche bittern Ernst. Das zeigt am deutlichsten die Art, wie er sich mit dein ihn: äußerst unbequemen Gewissen auseinander¬ setzt. Das schlechte Gewissen, sagt er, ist die tiefe Erkrankung, der der Mensch unter dem Drucke der Gesellschaft und des Friedens verfiel. Denn alle In¬ stinkte, die sich nicht nach außen entladen, wenden sich nach innen. Kann der Mensch nicht andre quälen, so quält er sich selbst, denn seine Kraft, seine Naubtierinstinkte verlangen nach Leben, d. h. nach Bethätigung. Das, was die Menschen Gewissen nennen, ist also der gegen das Ich gewandte Instinkt des schweifenden, innere Selbstzcrreibnng, Vergewaltigung des Ichs, „die Folge einer gewaltsamen Abtrennung von der tierischen Vergangenheit, eine Kriegserklärung gegen die alten Instinkte, die in ihrer Bethätigung bisher seine Kraft, Freude, Furchtbarkeit ausmachten. Die Feindschaft, die Grau¬ samkeit, die Lust um der Verfolgung, am Überfall, an der Zerstörung — alles das gegen die Inhaber solcher Instinkte sich wendend, das ist der Ursprung des schlechten Gewissens. Der Mensch, der, eingezwängt in eine drückende Enge und Regelmäßigkeit der Sitte, ungeduldig sich selbst zerriß, verfolgte, annagte, aufstörte, mißhandelte, dies an den Gitterstangen seines Käfigs sich wundstoßende Tier, dieser entbehrende und vom Heimweh der Wüste ver¬ zehrte, der aus sich selbst eine Folterstätte schaffen mußte — dieser Narr, dieser sehnsüchtige und verzweifelte Gefangene wurde der Erfinder des schlechten Gewissens. Mit ihm aber war die größte und unheimlichste Erkrankung ein¬ geleitet, von der die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des Menschen am Menschen." Innerer Zwang, Selbstzerfleischung, Beschränkung der Willkür, Fesselung des Ichs — auf der ganzen Linie ein Widerspruch gegen das Wesen des Herren. Nicht anders sind nach Nietzsche die Begriffe Schuld und Pflicht nach Ursprung und Inhalt zu verstehen: sie sind eine bedauernswerte Krankheit des Herdenmenschen und haben durch ihre Verquickung mit der religiösen Verant- wortlichkeit, durch ihre Beziehung auf Gott im „asketischen Ideal" die Selbst- marternng bis zu ihrer schauerlichsten Härte und Schärfe getrieben. Eine Schuld gegen Gott: dieser Gedanke wird dem Herrn zum Folterwerkzeug. Er „ergreift in Gott die letzten Gegensätze zu seinen unablöslichen Tierinstinkten, er deutet diese Instinkte selbst um als Schuld gegen Gott, er spannt sich in den Widerspruch Gott und Teufel, er wirft alles Nein, das er zu sich selbst,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/92>, abgerufen am 23.07.2024.