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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Lin amerikanischer Sozialist

durchsichtigen Betruges, einer groben Verdrehung der Thatsachen schuldig,
sondern sie brechen offenbar mit Christus, der den Reichtum ganz allgemein
als ungerechten Mammon bezeichnet, und mit der alten Kirche, deren Lehrer
sich genau so auszudrücken pflegten wie Proudhon. Mit großer Bitterkeit
spricht sich Groulund über die fashionablen "Fünftausenddollarprediger" aus,
deren einer, Henry Ward Beccher, sich vor seinem Auditorium in die Brust
geworfen und gerufen habe: "Ich stehe zu hoch, um zum Diebstahl versucht
zu werden!" Er fragt diese Herren, wenn sie des Nachts von einem ihrer
fetten Soupers kommen und einem Halbverhungerten begegne", ob sie da
nicht ein wenig von ihrem Gewissen gerührt würden, ob sie sich nicht in die
Lüge eines unglücklichen Armen hineindenken und vorstellen könnten, wie hoch
sie an dessen Stelle, mit ihrer jetzigen Seele, aber ohne ihr jetziges Einkommen,
über der Versuchung stehen würden? Ob ihnen nicht beim Anblick eines Elenden
der Gedanke durchs Hirn fahre: "Wir schwelgen von gestohlenein Gut!" Der¬
selbe Beccher hat den Lebeusmittelwucher, der im Mittelalter allgemein als
Verbrechen galt -- in Amerika nennt man die Operation jetzt oornering- --,
ausdrücklich für erlaubt erklärt. Und ein Vorsteher der Presbyterianer, er¬
wähnt er, habe kürzlich bei Niederlegung seines Amtes Gott dafür gepriesen,
daß seine Glaubensgenossen so viel von "des Herrn Geld," nämlich viele
hundert Millionen Dollars, in Verwaltung hätten.

Dieses Raubsystem habe die ganze Gesellschaft in einen einzigen Schand¬
pfuhl verwandelt, dem gegenüber die Summe der sogenaunten Verbrechen als
eine Kleinigkeit verschwinde. Und um diesen Zustand anch philosophisch zu
rechtfertigen, habe mau noch dazu die ruchlose Lehre vom Kampf ums Dasein
erfunden. "Mag diese Lehre vou den Tieren und von den Wilden gelten,
auf den zivilisirten Zustand läßt sie sich nimmermehr anwenden; für diesen
gilt die entgegengesetzte Regel, daß wir dazu bestimmt sind, in Übereinstimmung
mit einander aber im steten gemeinsamen Kampfe gegen die Natur zu arbeiten.
Diese Lehre vom Kampf ums Dasein ist die Theorie für den Konkurrenzkampf;
weil wir diesen verwerfen, so behaupten die Gegner, wir wollten allen Wett¬
eifer vernichten. Das ist eine Verwirrung der Begriffe. Den Wetteifer
wünschen wir gerade zu beleben, während wir allerdings dem traurigen Schau¬
spiel eines Vernichtungskampfes, zu dem die Not die Menschen auseinander-
setzt, ein Ende machen wollen. Die Lehre vom Kampf ums Dasein ist sa¬
tanisch, atheistisch, gesellschaftsfeindlich und im höchsten Grade verderblich."

Von der herzustellenden Interessenharmonie erwartet Gronlund, daß sie
in aller Herzen die Seele der Moralität, die Sympathie erzeugen werde, mit
der sich alle Tugenden einfinden würden, unter andern anch die Verufstreue.
Die Arbeit werde wieder sittliches Handeln werden, wovon sie jetzt das Gegen¬
teil sei. Denn da jeder seine Berufsarbeit nicht als Ausübung eines Ge¬
meindeamts, sondern als Mittel zum Gelderwerb, zur Bereicherung auffasse,


Lin amerikanischer Sozialist

durchsichtigen Betruges, einer groben Verdrehung der Thatsachen schuldig,
sondern sie brechen offenbar mit Christus, der den Reichtum ganz allgemein
als ungerechten Mammon bezeichnet, und mit der alten Kirche, deren Lehrer
sich genau so auszudrücken pflegten wie Proudhon. Mit großer Bitterkeit
spricht sich Groulund über die fashionablen „Fünftausenddollarprediger" aus,
deren einer, Henry Ward Beccher, sich vor seinem Auditorium in die Brust
geworfen und gerufen habe: „Ich stehe zu hoch, um zum Diebstahl versucht
zu werden!" Er fragt diese Herren, wenn sie des Nachts von einem ihrer
fetten Soupers kommen und einem Halbverhungerten begegne», ob sie da
nicht ein wenig von ihrem Gewissen gerührt würden, ob sie sich nicht in die
Lüge eines unglücklichen Armen hineindenken und vorstellen könnten, wie hoch
sie an dessen Stelle, mit ihrer jetzigen Seele, aber ohne ihr jetziges Einkommen,
über der Versuchung stehen würden? Ob ihnen nicht beim Anblick eines Elenden
der Gedanke durchs Hirn fahre: „Wir schwelgen von gestohlenein Gut!" Der¬
selbe Beccher hat den Lebeusmittelwucher, der im Mittelalter allgemein als
Verbrechen galt — in Amerika nennt man die Operation jetzt oornering- —,
ausdrücklich für erlaubt erklärt. Und ein Vorsteher der Presbyterianer, er¬
wähnt er, habe kürzlich bei Niederlegung seines Amtes Gott dafür gepriesen,
daß seine Glaubensgenossen so viel von „des Herrn Geld," nämlich viele
hundert Millionen Dollars, in Verwaltung hätten.

Dieses Raubsystem habe die ganze Gesellschaft in einen einzigen Schand¬
pfuhl verwandelt, dem gegenüber die Summe der sogenaunten Verbrechen als
eine Kleinigkeit verschwinde. Und um diesen Zustand anch philosophisch zu
rechtfertigen, habe mau noch dazu die ruchlose Lehre vom Kampf ums Dasein
erfunden. „Mag diese Lehre vou den Tieren und von den Wilden gelten,
auf den zivilisirten Zustand läßt sie sich nimmermehr anwenden; für diesen
gilt die entgegengesetzte Regel, daß wir dazu bestimmt sind, in Übereinstimmung
mit einander aber im steten gemeinsamen Kampfe gegen die Natur zu arbeiten.
Diese Lehre vom Kampf ums Dasein ist die Theorie für den Konkurrenzkampf;
weil wir diesen verwerfen, so behaupten die Gegner, wir wollten allen Wett¬
eifer vernichten. Das ist eine Verwirrung der Begriffe. Den Wetteifer
wünschen wir gerade zu beleben, während wir allerdings dem traurigen Schau¬
spiel eines Vernichtungskampfes, zu dem die Not die Menschen auseinander-
setzt, ein Ende machen wollen. Die Lehre vom Kampf ums Dasein ist sa¬
tanisch, atheistisch, gesellschaftsfeindlich und im höchsten Grade verderblich."

Von der herzustellenden Interessenharmonie erwartet Gronlund, daß sie
in aller Herzen die Seele der Moralität, die Sympathie erzeugen werde, mit
der sich alle Tugenden einfinden würden, unter andern anch die Verufstreue.
Die Arbeit werde wieder sittliches Handeln werden, wovon sie jetzt das Gegen¬
teil sei. Denn da jeder seine Berufsarbeit nicht als Ausübung eines Ge¬
meindeamts, sondern als Mittel zum Gelderwerb, zur Bereicherung auffasse,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/80>, abgerufen am 23.07.2024.