Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die christliche Mission in Lhina

gegeben werden: so wichtig auch noch manche andre Gründe sein mögen, der
Hauptgrund für die langsame Ausbreitung des Christentums in China ist doch
in politischen Umstüuden zu suchen. Als die Missionare beiderlei Konfession
vor dreißig Jahren ihren sehnlicher Wunsch, sich in ganz China niederlassen
zu dürfen, erfüllt sahen, da war es begreiflich, daß nicht nur die enthusiastische,!,
sondern auch manche nüchterne Köpfe unter ihnen eine baldige große Zunahme
in der Zahl der Bekehrten zu sehen hofften. Aber es wurde ihnen uach und
nach sehr viel Wasser in ihren Wein gegossen, und jetzt wird ziemlich allgemein
zugegeben, daß man beim letzten Friedensschluß lauge nicht vorsichtig genug
in der Behandlung dieser schwierigen Frage gewesen ist. Der weitaus größten
Zahl der -- auf ihre Weise -- gebildeten Chinesen und der Beamten ist
nämlich die mit Gewalt ertrotzte Anwesenheit der Fremden im Reiche der
Mitte noch immer ein Dorn im Auge. In den Häfen läßt man sich die
Ausländer zwar noch gefallen, weil sie dort hauptsächlich Handel treiben und
dadurch die Zvlleinkünfte vergrößern helfen. Aber daß man die Missionare
anch allenthalben im Innern dulden soll, diese Pille haben die höhern Klassen
noch immer nicht recht hinunterzuschlucken verstanden, wie die gelegentlichen
Volksausbrüche beweisen. Ja wenn sie, wie in früherer Zeit, erst höflichst
um Erlaubnis bitten müßten, dann wäre die Sache anders. Aber einfach
sagen zu können: jetzt wollen wir uns hier niederlassen, um zu predigen --
das ist doch ein unerhörter Zustand!

Die Volksausbrüche sind nichts weiter als der Ärger der sogenannten
Litteraten, also der führenden Klassen, über die Anwesenheit der Missionare,
der sich von Zeit zu Zeit auf diese Weise Luft macht. Ohne aufgehetzt zu
sein, würden sich die ruhigen Chinesen schwerlich jemals an den Missionaren
vergriffen haben. Die ganze Schmutzliteratur, die im vorigen Jahre so viel
Aussehen erregte, ist das Werk von gebildeten Chinesen, deren höchste Autorität
Confucius ist. Leider kommt ihnen dabei die massenhafte Verteilung von
unverkürzten chinesischen Bibeln zur Hilfe. Die katholische Kirche ist auch
hierin vorsichtiger, und nicht mit Unrecht, denn aus manchen Stellen der
protestantischen Bibel und besonders ans der willkürlichen Auslegung des
Kardinalpunktes des ganzen Christentums, der Gottheit Christi, schmieden die
Angreifer ihre gefährlichsten Pfeile. Dazu kommt, daß die gesamte klassische
Litteratur Chinas keine" einzigen Satz enthält, den man nicht unbedenklich in
jedem deutscheu Familienkreise vorlesen konnte: eine merkwürdige Thatsache bei
einem Volke von sonst so unreiner Denkungsart. Schwerlich aber würden sich
die Chinesen allein wegen sittlicher Vorwürfe, die den Missionaren gemacht
werden, sonderlich gegen sie aufregen lassen, denn dazu sind sie, wie alle
Orientalen, viel zu nachsichtig in solchen Sachen, wenigstens so lange die
eigne Familie aus dem Spiele bleibt. Diese in unsern Augen so schweren
Vorwürfe sind vielmehr sür die Chinesen nichts andres als anmutige Arabesken


Die christliche Mission in Lhina

gegeben werden: so wichtig auch noch manche andre Gründe sein mögen, der
Hauptgrund für die langsame Ausbreitung des Christentums in China ist doch
in politischen Umstüuden zu suchen. Als die Missionare beiderlei Konfession
vor dreißig Jahren ihren sehnlicher Wunsch, sich in ganz China niederlassen
zu dürfen, erfüllt sahen, da war es begreiflich, daß nicht nur die enthusiastische,!,
sondern auch manche nüchterne Köpfe unter ihnen eine baldige große Zunahme
in der Zahl der Bekehrten zu sehen hofften. Aber es wurde ihnen uach und
nach sehr viel Wasser in ihren Wein gegossen, und jetzt wird ziemlich allgemein
zugegeben, daß man beim letzten Friedensschluß lauge nicht vorsichtig genug
in der Behandlung dieser schwierigen Frage gewesen ist. Der weitaus größten
Zahl der — auf ihre Weise — gebildeten Chinesen und der Beamten ist
nämlich die mit Gewalt ertrotzte Anwesenheit der Fremden im Reiche der
Mitte noch immer ein Dorn im Auge. In den Häfen läßt man sich die
Ausländer zwar noch gefallen, weil sie dort hauptsächlich Handel treiben und
dadurch die Zvlleinkünfte vergrößern helfen. Aber daß man die Missionare
anch allenthalben im Innern dulden soll, diese Pille haben die höhern Klassen
noch immer nicht recht hinunterzuschlucken verstanden, wie die gelegentlichen
Volksausbrüche beweisen. Ja wenn sie, wie in früherer Zeit, erst höflichst
um Erlaubnis bitten müßten, dann wäre die Sache anders. Aber einfach
sagen zu können: jetzt wollen wir uns hier niederlassen, um zu predigen —
das ist doch ein unerhörter Zustand!

Die Volksausbrüche sind nichts weiter als der Ärger der sogenannten
Litteraten, also der führenden Klassen, über die Anwesenheit der Missionare,
der sich von Zeit zu Zeit auf diese Weise Luft macht. Ohne aufgehetzt zu
sein, würden sich die ruhigen Chinesen schwerlich jemals an den Missionaren
vergriffen haben. Die ganze Schmutzliteratur, die im vorigen Jahre so viel
Aussehen erregte, ist das Werk von gebildeten Chinesen, deren höchste Autorität
Confucius ist. Leider kommt ihnen dabei die massenhafte Verteilung von
unverkürzten chinesischen Bibeln zur Hilfe. Die katholische Kirche ist auch
hierin vorsichtiger, und nicht mit Unrecht, denn aus manchen Stellen der
protestantischen Bibel und besonders ans der willkürlichen Auslegung des
Kardinalpunktes des ganzen Christentums, der Gottheit Christi, schmieden die
Angreifer ihre gefährlichsten Pfeile. Dazu kommt, daß die gesamte klassische
Litteratur Chinas keine» einzigen Satz enthält, den man nicht unbedenklich in
jedem deutscheu Familienkreise vorlesen konnte: eine merkwürdige Thatsache bei
einem Volke von sonst so unreiner Denkungsart. Schwerlich aber würden sich
die Chinesen allein wegen sittlicher Vorwürfe, die den Missionaren gemacht
werden, sonderlich gegen sie aufregen lassen, denn dazu sind sie, wie alle
Orientalen, viel zu nachsichtig in solchen Sachen, wenigstens so lange die
eigne Familie aus dem Spiele bleibt. Diese in unsern Augen so schweren
Vorwürfe sind vielmehr sür die Chinesen nichts andres als anmutige Arabesken


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0578" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/213692"/>
          <fw type="header" place="top"> Die christliche Mission in Lhina</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1810" prev="#ID_1809"> gegeben werden: so wichtig auch noch manche andre Gründe sein mögen, der<lb/>
Hauptgrund für die langsame Ausbreitung des Christentums in China ist doch<lb/>
in politischen Umstüuden zu suchen. Als die Missionare beiderlei Konfession<lb/>
vor dreißig Jahren ihren sehnlicher Wunsch, sich in ganz China niederlassen<lb/>
zu dürfen, erfüllt sahen, da war es begreiflich, daß nicht nur die enthusiastische,!,<lb/>
sondern auch manche nüchterne Köpfe unter ihnen eine baldige große Zunahme<lb/>
in der Zahl der Bekehrten zu sehen hofften. Aber es wurde ihnen uach und<lb/>
nach sehr viel Wasser in ihren Wein gegossen, und jetzt wird ziemlich allgemein<lb/>
zugegeben, daß man beim letzten Friedensschluß lauge nicht vorsichtig genug<lb/>
in der Behandlung dieser schwierigen Frage gewesen ist. Der weitaus größten<lb/>
Zahl der &#x2014; auf ihre Weise &#x2014; gebildeten Chinesen und der Beamten ist<lb/>
nämlich die mit Gewalt ertrotzte Anwesenheit der Fremden im Reiche der<lb/>
Mitte noch immer ein Dorn im Auge. In den Häfen läßt man sich die<lb/>
Ausländer zwar noch gefallen, weil sie dort hauptsächlich Handel treiben und<lb/>
dadurch die Zvlleinkünfte vergrößern helfen. Aber daß man die Missionare<lb/>
anch allenthalben im Innern dulden soll, diese Pille haben die höhern Klassen<lb/>
noch immer nicht recht hinunterzuschlucken verstanden, wie die gelegentlichen<lb/>
Volksausbrüche beweisen. Ja wenn sie, wie in früherer Zeit, erst höflichst<lb/>
um Erlaubnis bitten müßten, dann wäre die Sache anders. Aber einfach<lb/>
sagen zu können: jetzt wollen wir uns hier niederlassen, um zu predigen &#x2014;<lb/>
das ist doch ein unerhörter Zustand!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1811" next="#ID_1812"> Die Volksausbrüche sind nichts weiter als der Ärger der sogenannten<lb/>
Litteraten, also der führenden Klassen, über die Anwesenheit der Missionare,<lb/>
der sich von Zeit zu Zeit auf diese Weise Luft macht. Ohne aufgehetzt zu<lb/>
sein, würden sich die ruhigen Chinesen schwerlich jemals an den Missionaren<lb/>
vergriffen haben. Die ganze Schmutzliteratur, die im vorigen Jahre so viel<lb/>
Aussehen erregte, ist das Werk von gebildeten Chinesen, deren höchste Autorität<lb/>
Confucius ist. Leider kommt ihnen dabei die massenhafte Verteilung von<lb/>
unverkürzten chinesischen Bibeln zur Hilfe. Die katholische Kirche ist auch<lb/>
hierin vorsichtiger, und nicht mit Unrecht, denn aus manchen Stellen der<lb/>
protestantischen Bibel und besonders ans der willkürlichen Auslegung des<lb/>
Kardinalpunktes des ganzen Christentums, der Gottheit Christi, schmieden die<lb/>
Angreifer ihre gefährlichsten Pfeile. Dazu kommt, daß die gesamte klassische<lb/>
Litteratur Chinas keine» einzigen Satz enthält, den man nicht unbedenklich in<lb/>
jedem deutscheu Familienkreise vorlesen konnte: eine merkwürdige Thatsache bei<lb/>
einem Volke von sonst so unreiner Denkungsart. Schwerlich aber würden sich<lb/>
die Chinesen allein wegen sittlicher Vorwürfe, die den Missionaren gemacht<lb/>
werden, sonderlich gegen sie aufregen lassen, denn dazu sind sie, wie alle<lb/>
Orientalen, viel zu nachsichtig in solchen Sachen, wenigstens so lange die<lb/>
eigne Familie aus dem Spiele bleibt. Diese in unsern Augen so schweren<lb/>
Vorwürfe sind vielmehr sür die Chinesen nichts andres als anmutige Arabesken</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0578] Die christliche Mission in Lhina gegeben werden: so wichtig auch noch manche andre Gründe sein mögen, der Hauptgrund für die langsame Ausbreitung des Christentums in China ist doch in politischen Umstüuden zu suchen. Als die Missionare beiderlei Konfession vor dreißig Jahren ihren sehnlicher Wunsch, sich in ganz China niederlassen zu dürfen, erfüllt sahen, da war es begreiflich, daß nicht nur die enthusiastische,!, sondern auch manche nüchterne Köpfe unter ihnen eine baldige große Zunahme in der Zahl der Bekehrten zu sehen hofften. Aber es wurde ihnen uach und nach sehr viel Wasser in ihren Wein gegossen, und jetzt wird ziemlich allgemein zugegeben, daß man beim letzten Friedensschluß lauge nicht vorsichtig genug in der Behandlung dieser schwierigen Frage gewesen ist. Der weitaus größten Zahl der — auf ihre Weise — gebildeten Chinesen und der Beamten ist nämlich die mit Gewalt ertrotzte Anwesenheit der Fremden im Reiche der Mitte noch immer ein Dorn im Auge. In den Häfen läßt man sich die Ausländer zwar noch gefallen, weil sie dort hauptsächlich Handel treiben und dadurch die Zvlleinkünfte vergrößern helfen. Aber daß man die Missionare anch allenthalben im Innern dulden soll, diese Pille haben die höhern Klassen noch immer nicht recht hinunterzuschlucken verstanden, wie die gelegentlichen Volksausbrüche beweisen. Ja wenn sie, wie in früherer Zeit, erst höflichst um Erlaubnis bitten müßten, dann wäre die Sache anders. Aber einfach sagen zu können: jetzt wollen wir uns hier niederlassen, um zu predigen — das ist doch ein unerhörter Zustand! Die Volksausbrüche sind nichts weiter als der Ärger der sogenannten Litteraten, also der führenden Klassen, über die Anwesenheit der Missionare, der sich von Zeit zu Zeit auf diese Weise Luft macht. Ohne aufgehetzt zu sein, würden sich die ruhigen Chinesen schwerlich jemals an den Missionaren vergriffen haben. Die ganze Schmutzliteratur, die im vorigen Jahre so viel Aussehen erregte, ist das Werk von gebildeten Chinesen, deren höchste Autorität Confucius ist. Leider kommt ihnen dabei die massenhafte Verteilung von unverkürzten chinesischen Bibeln zur Hilfe. Die katholische Kirche ist auch hierin vorsichtiger, und nicht mit Unrecht, denn aus manchen Stellen der protestantischen Bibel und besonders ans der willkürlichen Auslegung des Kardinalpunktes des ganzen Christentums, der Gottheit Christi, schmieden die Angreifer ihre gefährlichsten Pfeile. Dazu kommt, daß die gesamte klassische Litteratur Chinas keine» einzigen Satz enthält, den man nicht unbedenklich in jedem deutscheu Familienkreise vorlesen konnte: eine merkwürdige Thatsache bei einem Volke von sonst so unreiner Denkungsart. Schwerlich aber würden sich die Chinesen allein wegen sittlicher Vorwürfe, die den Missionaren gemacht werden, sonderlich gegen sie aufregen lassen, denn dazu sind sie, wie alle Orientalen, viel zu nachsichtig in solchen Sachen, wenigstens so lange die eigne Familie aus dem Spiele bleibt. Diese in unsern Augen so schweren Vorwürfe sind vielmehr sür die Chinesen nichts andres als anmutige Arabesken

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/578
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/578>, abgerufen am 23.07.2024.