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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Der Rückgang der französischen Bevölkerung

setze die Anforderungen der Hygiene nicht zählen, nnr durch Zuschüsse der
Departements und des Landes gedeckt werden können, und wer die Klagen
in Schriften und in Tagesblättern über die sogenannte Engelmacherci kennt,
der wird solche Hoffnungen nicht teilen.

Levasseur neigt zu der Ansicht, daß einst auch noch in andern Ländern,
deren Bevölkerung zahlreich und wohlhabend ist, die Erfahrung zeigen werde,
daß sich das Wachstum stetig mindern, und daß sich die Bewegung der Be¬
völkerung dem Beharrungszustande nähern werde, vielleicht, so meint er, wird
man sich, wenn die öffentliche Meinung in Europa nicht mehr durch Kriegs¬
gedanken beunruhigt sein wird, in volkswirtschaftlichen Kreisen in der Über¬
zeugung zusammenfinden, daß diese Verlangsamung in dem Anwachsen der
Völker ein einer weltlichen Vorsehung zu dankender Fortschritt sei.

Einen weitern Trost findet Levasseur darin, daß Frankreich, wenn es auch
nicht der Bevölkeruugszcchl nach den ersten Rang einnimmt, doch dnrch den
Reichtum seiner Landwirtschaft, durch seine Industrie und seinen Handel, durch
seinen Einfluß auf den Gebieten der Litteratur und der Wissenschaften eines
der großen Völker der Erde sein und bleiben werde, ja daß es sich immer auf
der Höhe halten werde. Die Rolle, die Frankreich seit dem Mittelalter in der
Geschichte gespielt habe, sei nützlich gewesen für die Zivilisation, und für diese
selbe Zivilisation werde es von Nutzen sein, wenn Frankreich seine Stellung
bewahre. Jeder Franzose aber müsse für sein Vaterland eine besser gesicherte
Grenze als Unterpfand eines dauernden Friedens und dann eine durch die
Mehrung des Wohlstandes eingeleitete Mehrung der Bevölkerung wünschen,
dnrch die das Gleichgewicht der Nationen erhalten werde. Eine Minderung
der Sterblichkeit, ein stetiger, wenn auch geringer Überschuß der Geburten
über die Sterbefülle, die Erhaltung der Zahlen der unehelichen Geburten auf
einer geringen Höhe, die Einverleibung eines Teils der Einwanderung, eine
gute körperliche Erziehung neben ordentlicher Schulbildung, kurz eine körper¬
lich und geistig gesunde Bevölkerung, deren mittlere Lebensdauer sich verlängern
und so mehr Möglichkeit zu nützlichem Schaffen gewinnen würde -- das,
meint Levasseur, sei das Ziel des französischen Volks. Das ist aber das Ziel,
das ein Volk erstreben mag, das sich, auf eine reiche, glückliche Vergangenheit
zurückblickend, zur Ruhe setzt, um zu genießen, das, etwa wie das römische
Kaiserreich, gesättigt von Ruhm, sich und allen Völkern einen allgemeinen
Frieden wünscht, wie es zur Zeit des Kaisers Claudius hieß. Aber es kann
nicht das Ideal eines Volks sein, das seine eingeschränkten Grenzen erweitern
möchte, und das gleichzeitig den Wahlspruch zur Richtschnur annehmen soll:
?u,no1tÄ8 nodilitg-t.

Ohne die Verdienste zu verkennen, die sich der Akademiker Levasseur durch
Berichtigung der Irrtümer in der Lehre von Malthus erworben hat, können
wir doch die Hoffnungen des Patrioten Levasseur nicht teilen, wenn er, eine


Der Rückgang der französischen Bevölkerung

setze die Anforderungen der Hygiene nicht zählen, nnr durch Zuschüsse der
Departements und des Landes gedeckt werden können, und wer die Klagen
in Schriften und in Tagesblättern über die sogenannte Engelmacherci kennt,
der wird solche Hoffnungen nicht teilen.

Levasseur neigt zu der Ansicht, daß einst auch noch in andern Ländern,
deren Bevölkerung zahlreich und wohlhabend ist, die Erfahrung zeigen werde,
daß sich das Wachstum stetig mindern, und daß sich die Bewegung der Be¬
völkerung dem Beharrungszustande nähern werde, vielleicht, so meint er, wird
man sich, wenn die öffentliche Meinung in Europa nicht mehr durch Kriegs¬
gedanken beunruhigt sein wird, in volkswirtschaftlichen Kreisen in der Über¬
zeugung zusammenfinden, daß diese Verlangsamung in dem Anwachsen der
Völker ein einer weltlichen Vorsehung zu dankender Fortschritt sei.

Einen weitern Trost findet Levasseur darin, daß Frankreich, wenn es auch
nicht der Bevölkeruugszcchl nach den ersten Rang einnimmt, doch dnrch den
Reichtum seiner Landwirtschaft, durch seine Industrie und seinen Handel, durch
seinen Einfluß auf den Gebieten der Litteratur und der Wissenschaften eines
der großen Völker der Erde sein und bleiben werde, ja daß es sich immer auf
der Höhe halten werde. Die Rolle, die Frankreich seit dem Mittelalter in der
Geschichte gespielt habe, sei nützlich gewesen für die Zivilisation, und für diese
selbe Zivilisation werde es von Nutzen sein, wenn Frankreich seine Stellung
bewahre. Jeder Franzose aber müsse für sein Vaterland eine besser gesicherte
Grenze als Unterpfand eines dauernden Friedens und dann eine durch die
Mehrung des Wohlstandes eingeleitete Mehrung der Bevölkerung wünschen,
dnrch die das Gleichgewicht der Nationen erhalten werde. Eine Minderung
der Sterblichkeit, ein stetiger, wenn auch geringer Überschuß der Geburten
über die Sterbefülle, die Erhaltung der Zahlen der unehelichen Geburten auf
einer geringen Höhe, die Einverleibung eines Teils der Einwanderung, eine
gute körperliche Erziehung neben ordentlicher Schulbildung, kurz eine körper¬
lich und geistig gesunde Bevölkerung, deren mittlere Lebensdauer sich verlängern
und so mehr Möglichkeit zu nützlichem Schaffen gewinnen würde — das,
meint Levasseur, sei das Ziel des französischen Volks. Das ist aber das Ziel,
das ein Volk erstreben mag, das sich, auf eine reiche, glückliche Vergangenheit
zurückblickend, zur Ruhe setzt, um zu genießen, das, etwa wie das römische
Kaiserreich, gesättigt von Ruhm, sich und allen Völkern einen allgemeinen
Frieden wünscht, wie es zur Zeit des Kaisers Claudius hieß. Aber es kann
nicht das Ideal eines Volks sein, das seine eingeschränkten Grenzen erweitern
möchte, und das gleichzeitig den Wahlspruch zur Richtschnur annehmen soll:
?u,no1tÄ8 nodilitg-t.

Ohne die Verdienste zu verkennen, die sich der Akademiker Levasseur durch
Berichtigung der Irrtümer in der Lehre von Malthus erworben hat, können
wir doch die Hoffnungen des Patrioten Levasseur nicht teilen, wenn er, eine


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[0570] Der Rückgang der französischen Bevölkerung setze die Anforderungen der Hygiene nicht zählen, nnr durch Zuschüsse der Departements und des Landes gedeckt werden können, und wer die Klagen in Schriften und in Tagesblättern über die sogenannte Engelmacherci kennt, der wird solche Hoffnungen nicht teilen. Levasseur neigt zu der Ansicht, daß einst auch noch in andern Ländern, deren Bevölkerung zahlreich und wohlhabend ist, die Erfahrung zeigen werde, daß sich das Wachstum stetig mindern, und daß sich die Bewegung der Be¬ völkerung dem Beharrungszustande nähern werde, vielleicht, so meint er, wird man sich, wenn die öffentliche Meinung in Europa nicht mehr durch Kriegs¬ gedanken beunruhigt sein wird, in volkswirtschaftlichen Kreisen in der Über¬ zeugung zusammenfinden, daß diese Verlangsamung in dem Anwachsen der Völker ein einer weltlichen Vorsehung zu dankender Fortschritt sei. Einen weitern Trost findet Levasseur darin, daß Frankreich, wenn es auch nicht der Bevölkeruugszcchl nach den ersten Rang einnimmt, doch dnrch den Reichtum seiner Landwirtschaft, durch seine Industrie und seinen Handel, durch seinen Einfluß auf den Gebieten der Litteratur und der Wissenschaften eines der großen Völker der Erde sein und bleiben werde, ja daß es sich immer auf der Höhe halten werde. Die Rolle, die Frankreich seit dem Mittelalter in der Geschichte gespielt habe, sei nützlich gewesen für die Zivilisation, und für diese selbe Zivilisation werde es von Nutzen sein, wenn Frankreich seine Stellung bewahre. Jeder Franzose aber müsse für sein Vaterland eine besser gesicherte Grenze als Unterpfand eines dauernden Friedens und dann eine durch die Mehrung des Wohlstandes eingeleitete Mehrung der Bevölkerung wünschen, dnrch die das Gleichgewicht der Nationen erhalten werde. Eine Minderung der Sterblichkeit, ein stetiger, wenn auch geringer Überschuß der Geburten über die Sterbefülle, die Erhaltung der Zahlen der unehelichen Geburten auf einer geringen Höhe, die Einverleibung eines Teils der Einwanderung, eine gute körperliche Erziehung neben ordentlicher Schulbildung, kurz eine körper¬ lich und geistig gesunde Bevölkerung, deren mittlere Lebensdauer sich verlängern und so mehr Möglichkeit zu nützlichem Schaffen gewinnen würde — das, meint Levasseur, sei das Ziel des französischen Volks. Das ist aber das Ziel, das ein Volk erstreben mag, das sich, auf eine reiche, glückliche Vergangenheit zurückblickend, zur Ruhe setzt, um zu genießen, das, etwa wie das römische Kaiserreich, gesättigt von Ruhm, sich und allen Völkern einen allgemeinen Frieden wünscht, wie es zur Zeit des Kaisers Claudius hieß. Aber es kann nicht das Ideal eines Volks sein, das seine eingeschränkten Grenzen erweitern möchte, und das gleichzeitig den Wahlspruch zur Richtschnur annehmen soll: ?u,no1tÄ8 nodilitg-t. Ohne die Verdienste zu verkennen, die sich der Akademiker Levasseur durch Berichtigung der Irrtümer in der Lehre von Malthus erworben hat, können wir doch die Hoffnungen des Patrioten Levasseur nicht teilen, wenn er, eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/570>, abgerufen am 23.07.2024.