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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Auch ein Goethoforscher

sofort jedem urteilsfähigen Leser jener Studie die Voreingenommenheit Dr. Frvitz-
heims gegen Goethes Charakter auf, die ihn verleitet, so wie es Janssen Luther
gegenüber gethan hat, jede ungünstige Aussage, und käme sie aus dem ver¬
dächtigsten Munde, gegen Goethe zu verwerten. Goethes Selbstzeugnisse fallen
bei dein gestrengen Kritiker so wenig ins Gewicht als bei einem Untersuchungs¬
richter die Angaben des Angeklagten. Je mehr sie unter sich zusammenstimmen,
je lebendiger seine Darstellung, je freier die psychologische Entwicklung darin
ist, um fo verdächtiger wird er ihm; zeigt er sich gut und edel, um so schul¬
diger erscheint er ihm. Wie methodisch und gewissenhaft aber Froitzheim auf
dem Gebiete der litterarischen Forschung arbeitet, erfahren wir mit staunender
Bewunderung, wenn er uus mitteilt, daß er, um "jene Kindesmvrderin, deren
Geschick Goethe vorschwebte, zu finden," alle Jahrgänge der Straßburger
Kirchenkonventsprotvkvlle bis an den Aufang des achtzehnten Jahrhunderts
zurück durchforscht, aber leider darin mehr Kindesmörderinnen -- auch eine
Margarethe, ist darunter -- gefunden habe, als er suchte. Und welch gesundem
Realismus er huldigt, ergiebt sich aus seiner geistreichen und geschmackvollen
Annahme, daß auf Goethes Konzeption der Gretchentragvdie der auf der Stra߬
burger Anatomie in Spiritus aufbewahrte Kopf einer schönen Kindesmörderin
von Einfluß gewesen sein möge.

Was Wunder, wenn ernste Wahrheitsfreunde längst vor Begierde brannten,
von einem Spürer wie Froitzheim auch das immer noch von einem gewissen
Dämmerlicht umwobne Verhältnis Goethes zu Friederike von Sesenheim
aufgehellt zu sehen! In vollkommner Selbstkenntnis aber hat sich dieser, wie
er im Vorwort seiner neuesten Schrift mitteilt, lauge gegen die Ersttllung
eines solchen Wunsches gesträubt, in der Überzeugung, daß, wenn er sich "erst
mit jenem Thema befaßte, unliebsame Dinge zu Tage treten würden." Allein
als Erich Schmidt die Unvorsichtigkeit begangen hatte, Froitzheim, "von dessen
Gründlichkeit er noch recht viel zu lernen hat, durch hochmütigen Spott zu
reizen," da kämpfte dieser das unwissenschaftliche Bedenken, es könnte sein Ver¬
such, jene "unliebsamen Dinge" an den Tag zu fördern, als unpassend oder
unpatriotisch beurteilt werden, heroisch nieder, setzte seine stärkste Brille auf
und vertiefte sich in die seit Lucius Büchlein über Friederike Brion geschlossenen
Untersuchuugsakten Brion-Goethe in der sichern Hoffnung, daß es einer Aus¬
dauer und Findigkeit, wie sie ihm zu Gebote stehen, gelingen müsse, eine
Wiederaufnahme des Prozeßverfahrens in Sachen Brion-Goethe zu bewirken*).
Bald leuchtet ihm denn auch aus den Akten, wie eine Art Leitstern, das
schon 1822 von dem Bonner Professor Näke vernommue Gerücht entgegen,
Friederike habe von Goethe einen Sohn gehabt, der Pastetenbäcker in Straß-



*) Friederike von Sesenheim. Nach geschichtlichen Quellen von Dr. I. Froitz¬
heim. Gotha, F. A. Perthes, .1893.
Auch ein Goethoforscher

sofort jedem urteilsfähigen Leser jener Studie die Voreingenommenheit Dr. Frvitz-
heims gegen Goethes Charakter auf, die ihn verleitet, so wie es Janssen Luther
gegenüber gethan hat, jede ungünstige Aussage, und käme sie aus dem ver¬
dächtigsten Munde, gegen Goethe zu verwerten. Goethes Selbstzeugnisse fallen
bei dein gestrengen Kritiker so wenig ins Gewicht als bei einem Untersuchungs¬
richter die Angaben des Angeklagten. Je mehr sie unter sich zusammenstimmen,
je lebendiger seine Darstellung, je freier die psychologische Entwicklung darin
ist, um fo verdächtiger wird er ihm; zeigt er sich gut und edel, um so schul¬
diger erscheint er ihm. Wie methodisch und gewissenhaft aber Froitzheim auf
dem Gebiete der litterarischen Forschung arbeitet, erfahren wir mit staunender
Bewunderung, wenn er uus mitteilt, daß er, um „jene Kindesmvrderin, deren
Geschick Goethe vorschwebte, zu finden," alle Jahrgänge der Straßburger
Kirchenkonventsprotvkvlle bis an den Aufang des achtzehnten Jahrhunderts
zurück durchforscht, aber leider darin mehr Kindesmörderinnen — auch eine
Margarethe, ist darunter — gefunden habe, als er suchte. Und welch gesundem
Realismus er huldigt, ergiebt sich aus seiner geistreichen und geschmackvollen
Annahme, daß auf Goethes Konzeption der Gretchentragvdie der auf der Stra߬
burger Anatomie in Spiritus aufbewahrte Kopf einer schönen Kindesmörderin
von Einfluß gewesen sein möge.

Was Wunder, wenn ernste Wahrheitsfreunde längst vor Begierde brannten,
von einem Spürer wie Froitzheim auch das immer noch von einem gewissen
Dämmerlicht umwobne Verhältnis Goethes zu Friederike von Sesenheim
aufgehellt zu sehen! In vollkommner Selbstkenntnis aber hat sich dieser, wie
er im Vorwort seiner neuesten Schrift mitteilt, lauge gegen die Ersttllung
eines solchen Wunsches gesträubt, in der Überzeugung, daß, wenn er sich „erst
mit jenem Thema befaßte, unliebsame Dinge zu Tage treten würden." Allein
als Erich Schmidt die Unvorsichtigkeit begangen hatte, Froitzheim, „von dessen
Gründlichkeit er noch recht viel zu lernen hat, durch hochmütigen Spott zu
reizen," da kämpfte dieser das unwissenschaftliche Bedenken, es könnte sein Ver¬
such, jene „unliebsamen Dinge" an den Tag zu fördern, als unpassend oder
unpatriotisch beurteilt werden, heroisch nieder, setzte seine stärkste Brille auf
und vertiefte sich in die seit Lucius Büchlein über Friederike Brion geschlossenen
Untersuchuugsakten Brion-Goethe in der sichern Hoffnung, daß es einer Aus¬
dauer und Findigkeit, wie sie ihm zu Gebote stehen, gelingen müsse, eine
Wiederaufnahme des Prozeßverfahrens in Sachen Brion-Goethe zu bewirken*).
Bald leuchtet ihm denn auch aus den Akten, wie eine Art Leitstern, das
schon 1822 von dem Bonner Professor Näke vernommue Gerücht entgegen,
Friederike habe von Goethe einen Sohn gehabt, der Pastetenbäcker in Straß-



*) Friederike von Sesenheim. Nach geschichtlichen Quellen von Dr. I. Froitz¬
heim. Gotha, F. A. Perthes, .1893.
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[0439] Auch ein Goethoforscher sofort jedem urteilsfähigen Leser jener Studie die Voreingenommenheit Dr. Frvitz- heims gegen Goethes Charakter auf, die ihn verleitet, so wie es Janssen Luther gegenüber gethan hat, jede ungünstige Aussage, und käme sie aus dem ver¬ dächtigsten Munde, gegen Goethe zu verwerten. Goethes Selbstzeugnisse fallen bei dein gestrengen Kritiker so wenig ins Gewicht als bei einem Untersuchungs¬ richter die Angaben des Angeklagten. Je mehr sie unter sich zusammenstimmen, je lebendiger seine Darstellung, je freier die psychologische Entwicklung darin ist, um fo verdächtiger wird er ihm; zeigt er sich gut und edel, um so schul¬ diger erscheint er ihm. Wie methodisch und gewissenhaft aber Froitzheim auf dem Gebiete der litterarischen Forschung arbeitet, erfahren wir mit staunender Bewunderung, wenn er uus mitteilt, daß er, um „jene Kindesmvrderin, deren Geschick Goethe vorschwebte, zu finden," alle Jahrgänge der Straßburger Kirchenkonventsprotvkvlle bis an den Aufang des achtzehnten Jahrhunderts zurück durchforscht, aber leider darin mehr Kindesmörderinnen — auch eine Margarethe, ist darunter — gefunden habe, als er suchte. Und welch gesundem Realismus er huldigt, ergiebt sich aus seiner geistreichen und geschmackvollen Annahme, daß auf Goethes Konzeption der Gretchentragvdie der auf der Stra߬ burger Anatomie in Spiritus aufbewahrte Kopf einer schönen Kindesmörderin von Einfluß gewesen sein möge. Was Wunder, wenn ernste Wahrheitsfreunde längst vor Begierde brannten, von einem Spürer wie Froitzheim auch das immer noch von einem gewissen Dämmerlicht umwobne Verhältnis Goethes zu Friederike von Sesenheim aufgehellt zu sehen! In vollkommner Selbstkenntnis aber hat sich dieser, wie er im Vorwort seiner neuesten Schrift mitteilt, lauge gegen die Ersttllung eines solchen Wunsches gesträubt, in der Überzeugung, daß, wenn er sich „erst mit jenem Thema befaßte, unliebsame Dinge zu Tage treten würden." Allein als Erich Schmidt die Unvorsichtigkeit begangen hatte, Froitzheim, „von dessen Gründlichkeit er noch recht viel zu lernen hat, durch hochmütigen Spott zu reizen," da kämpfte dieser das unwissenschaftliche Bedenken, es könnte sein Ver¬ such, jene „unliebsamen Dinge" an den Tag zu fördern, als unpassend oder unpatriotisch beurteilt werden, heroisch nieder, setzte seine stärkste Brille auf und vertiefte sich in die seit Lucius Büchlein über Friederike Brion geschlossenen Untersuchuugsakten Brion-Goethe in der sichern Hoffnung, daß es einer Aus¬ dauer und Findigkeit, wie sie ihm zu Gebote stehen, gelingen müsse, eine Wiederaufnahme des Prozeßverfahrens in Sachen Brion-Goethe zu bewirken*). Bald leuchtet ihm denn auch aus den Akten, wie eine Art Leitstern, das schon 1822 von dem Bonner Professor Näke vernommue Gerücht entgegen, Friederike habe von Goethe einen Sohn gehabt, der Pastetenbäcker in Straß- *) Friederike von Sesenheim. Nach geschichtlichen Quellen von Dr. I. Froitz¬ heim. Gotha, F. A. Perthes, .1893.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/439>, abgerufen am 22.12.2024.