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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Erinnerungen an Lothar Bücher

Inbegriff aller Staatsweisheit erkennen wollte. Natürlich gönnte er auch den
Italienern Einheit und Unabhängigkeit, allein ihm widerstrebten die ein¬
geschlagnen Wege, ihn empörte, daß Deutsche, geblendet durch die Taschen¬
spielerkunststücke mit dem Worte Natioualitätenprinzip, die Neigung verrieten,
alle Nachbarn auf Kosten des Gebietes des deutschen Bundes zu befriedigen,
wohl auch ein neues Deutschland unter dem Protektorat des Kaisers Napoleon
erstehen zu lassen. Seine Parteinahme für die Sache Österreichs im Jahre 1859
gründete sich keineswegs, wie bei manchem andern, nur auf den Widerwillen
gegen den Mann vom 2. Dezember, und er hielt sich zu den Großdeutscheu,
so lange noch eine Hoffnung auf die Durchführung des Programms dieser
Partei blieb. An die Lösung der deutschen Frage durch Feste und Reden
glaubte er freilich nicht, und man sieht, wie sehr die damaligen Verhältnisse
in Vergessenheit geraten sind, wenn er jetzt zu einem Mitbegründer des Na¬
tionalvereins gemacht wird. In seiner Auffassung der allgemeinen Lage und
der deutschen Verhältnisse insbesondre begegnete er sich wieder mit seinen
Freunden aus der Nationalversammlung Nodbertus und Berg, und mit ihnen
gemeinschaftlich veröffentlichte er 1862 die vier Flugschriften: "Erklärung,"
"Seid deutsch!" "An Mazzini," "Was sonst?"

So vergingen in London die Jahre in unablässiger publizistischer Thätig¬
keit, obgleich es nie seine Absicht gewesen war, sein ganzes Leben der Tages-
schriftstellerei zu widmen, deren Wert er selbst nicht überschätzte (Bilder aus
der Fremde, 1. Band, Vorrede). Sein Freund Theodor Goldstücker, Professor
des Sanskrit an der Universität London, suchte ihn ebenfalls zum Eintritt
in die akademische Laufbahn zu bestimmen, da es um die wissenschaftliche
Jurisprudenz in England mangelhaft bestellt sei. Doch mochte er nicht
gänzlich Engländer werden, vielmehr dachte er wiederholt an Auswanderung
übers Meer. Noch in dem öfter erwähnten "Märchen" malt er sich als
Zukunftsbild ein Pflanzerleben in einer deutschen Kolonie in Südamerika aus,
wo er sich Anrecht auf einen bescheidnen Landbesitz erworben hatte.

Indessen gehörte doch jeder Pulsschlag in ihm dem Vaterlande, und eben
deswegen ließ ihn die Politik nicht los. Nicht auf Reisen, auch nicht, wenn
er über Gewerbeausstellungeu zu berichten hatte, wie in London 1851 und
1862, in Paris 1855. Seine Aufsätze über die erste allgemeine Ausstellung
sind gesammelt erschienen (Frankfurt, 1851) und machten großes Aufsehen;
zum Teil gewiß, weil in ihnen "der Humor des politischen Flüchtlings," wie
er sich später ausdrückte, häufig zu Worte kam. Darüber ist wohl vielfach
nicht genügend die Fülle von Wissen auf den verschiednen Gebieten gewürdigt
und das Werk, ohne Zweifel eines der bedeutendsten über das so folgenreiche
Ereignis erschienenen, vor der Zeit vergessen worden. Von den Berichten aus
Paris haben leider nur einige in die "Bilder aus der Fremde" Aufnahme
gefunden. In diesen wurde zum erstenmal an die Erzeugnisse des Kunst-


Erinnerungen an Lothar Bücher

Inbegriff aller Staatsweisheit erkennen wollte. Natürlich gönnte er auch den
Italienern Einheit und Unabhängigkeit, allein ihm widerstrebten die ein¬
geschlagnen Wege, ihn empörte, daß Deutsche, geblendet durch die Taschen¬
spielerkunststücke mit dem Worte Natioualitätenprinzip, die Neigung verrieten,
alle Nachbarn auf Kosten des Gebietes des deutschen Bundes zu befriedigen,
wohl auch ein neues Deutschland unter dem Protektorat des Kaisers Napoleon
erstehen zu lassen. Seine Parteinahme für die Sache Österreichs im Jahre 1859
gründete sich keineswegs, wie bei manchem andern, nur auf den Widerwillen
gegen den Mann vom 2. Dezember, und er hielt sich zu den Großdeutscheu,
so lange noch eine Hoffnung auf die Durchführung des Programms dieser
Partei blieb. An die Lösung der deutschen Frage durch Feste und Reden
glaubte er freilich nicht, und man sieht, wie sehr die damaligen Verhältnisse
in Vergessenheit geraten sind, wenn er jetzt zu einem Mitbegründer des Na¬
tionalvereins gemacht wird. In seiner Auffassung der allgemeinen Lage und
der deutschen Verhältnisse insbesondre begegnete er sich wieder mit seinen
Freunden aus der Nationalversammlung Nodbertus und Berg, und mit ihnen
gemeinschaftlich veröffentlichte er 1862 die vier Flugschriften: „Erklärung,"
„Seid deutsch!" „An Mazzini," „Was sonst?"

So vergingen in London die Jahre in unablässiger publizistischer Thätig¬
keit, obgleich es nie seine Absicht gewesen war, sein ganzes Leben der Tages-
schriftstellerei zu widmen, deren Wert er selbst nicht überschätzte (Bilder aus
der Fremde, 1. Band, Vorrede). Sein Freund Theodor Goldstücker, Professor
des Sanskrit an der Universität London, suchte ihn ebenfalls zum Eintritt
in die akademische Laufbahn zu bestimmen, da es um die wissenschaftliche
Jurisprudenz in England mangelhaft bestellt sei. Doch mochte er nicht
gänzlich Engländer werden, vielmehr dachte er wiederholt an Auswanderung
übers Meer. Noch in dem öfter erwähnten „Märchen" malt er sich als
Zukunftsbild ein Pflanzerleben in einer deutschen Kolonie in Südamerika aus,
wo er sich Anrecht auf einen bescheidnen Landbesitz erworben hatte.

Indessen gehörte doch jeder Pulsschlag in ihm dem Vaterlande, und eben
deswegen ließ ihn die Politik nicht los. Nicht auf Reisen, auch nicht, wenn
er über Gewerbeausstellungeu zu berichten hatte, wie in London 1851 und
1862, in Paris 1855. Seine Aufsätze über die erste allgemeine Ausstellung
sind gesammelt erschienen (Frankfurt, 1851) und machten großes Aufsehen;
zum Teil gewiß, weil in ihnen „der Humor des politischen Flüchtlings," wie
er sich später ausdrückte, häufig zu Worte kam. Darüber ist wohl vielfach
nicht genügend die Fülle von Wissen auf den verschiednen Gebieten gewürdigt
und das Werk, ohne Zweifel eines der bedeutendsten über das so folgenreiche
Ereignis erschienenen, vor der Zeit vergessen worden. Von den Berichten aus
Paris haben leider nur einige in die „Bilder aus der Fremde" Aufnahme
gefunden. In diesen wurde zum erstenmal an die Erzeugnisse des Kunst-


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[0436] Erinnerungen an Lothar Bücher Inbegriff aller Staatsweisheit erkennen wollte. Natürlich gönnte er auch den Italienern Einheit und Unabhängigkeit, allein ihm widerstrebten die ein¬ geschlagnen Wege, ihn empörte, daß Deutsche, geblendet durch die Taschen¬ spielerkunststücke mit dem Worte Natioualitätenprinzip, die Neigung verrieten, alle Nachbarn auf Kosten des Gebietes des deutschen Bundes zu befriedigen, wohl auch ein neues Deutschland unter dem Protektorat des Kaisers Napoleon erstehen zu lassen. Seine Parteinahme für die Sache Österreichs im Jahre 1859 gründete sich keineswegs, wie bei manchem andern, nur auf den Widerwillen gegen den Mann vom 2. Dezember, und er hielt sich zu den Großdeutscheu, so lange noch eine Hoffnung auf die Durchführung des Programms dieser Partei blieb. An die Lösung der deutschen Frage durch Feste und Reden glaubte er freilich nicht, und man sieht, wie sehr die damaligen Verhältnisse in Vergessenheit geraten sind, wenn er jetzt zu einem Mitbegründer des Na¬ tionalvereins gemacht wird. In seiner Auffassung der allgemeinen Lage und der deutschen Verhältnisse insbesondre begegnete er sich wieder mit seinen Freunden aus der Nationalversammlung Nodbertus und Berg, und mit ihnen gemeinschaftlich veröffentlichte er 1862 die vier Flugschriften: „Erklärung," „Seid deutsch!" „An Mazzini," „Was sonst?" So vergingen in London die Jahre in unablässiger publizistischer Thätig¬ keit, obgleich es nie seine Absicht gewesen war, sein ganzes Leben der Tages- schriftstellerei zu widmen, deren Wert er selbst nicht überschätzte (Bilder aus der Fremde, 1. Band, Vorrede). Sein Freund Theodor Goldstücker, Professor des Sanskrit an der Universität London, suchte ihn ebenfalls zum Eintritt in die akademische Laufbahn zu bestimmen, da es um die wissenschaftliche Jurisprudenz in England mangelhaft bestellt sei. Doch mochte er nicht gänzlich Engländer werden, vielmehr dachte er wiederholt an Auswanderung übers Meer. Noch in dem öfter erwähnten „Märchen" malt er sich als Zukunftsbild ein Pflanzerleben in einer deutschen Kolonie in Südamerika aus, wo er sich Anrecht auf einen bescheidnen Landbesitz erworben hatte. Indessen gehörte doch jeder Pulsschlag in ihm dem Vaterlande, und eben deswegen ließ ihn die Politik nicht los. Nicht auf Reisen, auch nicht, wenn er über Gewerbeausstellungeu zu berichten hatte, wie in London 1851 und 1862, in Paris 1855. Seine Aufsätze über die erste allgemeine Ausstellung sind gesammelt erschienen (Frankfurt, 1851) und machten großes Aufsehen; zum Teil gewiß, weil in ihnen „der Humor des politischen Flüchtlings," wie er sich später ausdrückte, häufig zu Worte kam. Darüber ist wohl vielfach nicht genügend die Fülle von Wissen auf den verschiednen Gebieten gewürdigt und das Werk, ohne Zweifel eines der bedeutendsten über das so folgenreiche Ereignis erschienenen, vor der Zeit vergessen worden. Von den Berichten aus Paris haben leider nur einige in die „Bilder aus der Fremde" Aufnahme gefunden. In diesen wurde zum erstenmal an die Erzeugnisse des Kunst-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/436>, abgerufen am 23.07.2024.