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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Der Militarismus der Sozialdemokratie

Gewand umhüllt sind: die englische Heils- oder Seligmacherarmee. Ihr lär¬
mender, grotesker Aufzug verträgt sich gewiß nicht mit dein nachdenklichen und
gesetzten deutschen Wesen. Aber ihre Entstehung muß doch schließlich auf ähn¬
liche Antriebe zurückgeführt werden wie die unsrer Sozialdemokratie. Deshalb
sind auch gewisse Ähnlichkeiten zwischen beiden vorhanden. Die Heilsarmee
will dem religiösen Indifferentismus entgegenwirken, die Svzialdemokmtie dem
politischen. Beide lassen den, der seinen Übertritt zu ihrer Genossenschaft
einmal erklärt hat, nicht leicht wieder los, dafür sorgt der in der Gesamtheit
lebendige Zusammenhalt. Die Angehörigen beider Armeen gehen am Tage
ihrem gewöhnlichen Berufe nach und widmen bloß ihre freien Stunden dem
Dienste in der Armee. Die einen suchen das "Kriegsgeschrei," ihr "offizielles"
Organ, die andern den seinem Titel nach nicht minder kriegerischen "Vorwärts"
zu verbreite". Hier ist die Religion Privatsache, dort wenigstens die Kon¬
fession. Die Genossen hier und dort verpflichten sich nur, gewisse allgemeine
Grundsätze zu bekennen, die ihr "Programm" bilden; Henry Drummond ist
dadurch offenbar beeinflußt worden, ein "Programm des Christentums" auf¬
zustellen. Nur die Organisation der Heilsarmee ist militärisch, sogar bis auf
abgeschmackte Äußerlichkeiten, aber ihre Zwecke sind sozialpolitisch. Die Art,
wie die Heilsarmee die Sozialpolitik betreibt, ist englisch, die Art, wie es die
Sozialdemokratie thut, ist deutsch.

Was nennt man nicht alles Frieden, und wie viel Krieg ist unter der
Decke des friedlichen Zusammenlebens der Menschen verborgen! Alle jene
hochtönenden Kriegsworte sind kein bloßer Spaß, der Wortstreit lehnt sich an
den Widerstreit der Interessen an. Niemand kann den bittern Ernst der wirt¬
schaftlichen Kämpfe verkennen. Dieser bittre Ernst ist so alt wie die Menschen¬
welt und besteht, seitdem dein Menschen das Urteil gesprochen wurde! "Im
Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen." Die Sozialdemokratie
leugnet nicht, daß die soziale Bewegung unsrer Tage Krieg bedeutet. Wie
oft sind uicht die Vereinigungen von Facharbeitern, die eine Besserung ihrer
wirtschaftliche" Lage erzielen wollen, Kampforganisationen genannt worden,
Arbeiter u"d Arbeiter schließen sich zusammen, um durch die Bereinigung
ihrer Kräfte zu erreichen, was dem einzelnen durchzusetzen nie gelingen würde.
Nur die Organisation, die Gesamtheit kann mit Aussicht auf Erfolg der Über¬
macht des Besitzes und des Kapitals Widerstand entgegensetzen. Die Gewalt,
das "Faustrecht" aus diesem Gebiete nennt sich Streik. "Der Streik ist eine
Kriegsmaßregel." "Wie Krieg das letzte Argument der Könige ist oder eines
unterjochten Volks, so ist der Streik die rcktimg, ratio (das letzte Beweismittel)
der Arbeiter." "Die Streiks werden seltner werden, wie denn much die eng¬
lische Arbeitergeschichte zeigt, daß die Zahl der Streiks von Jahr zu Jahr
geringer wird; aber waren es früher wirtschaftliche Vorpostengefechte, so sind
es jetzt wirtschaftliche Schlachten." Beim Streik wie im Kriege ist die Haupt-


Der Militarismus der Sozialdemokratie

Gewand umhüllt sind: die englische Heils- oder Seligmacherarmee. Ihr lär¬
mender, grotesker Aufzug verträgt sich gewiß nicht mit dein nachdenklichen und
gesetzten deutschen Wesen. Aber ihre Entstehung muß doch schließlich auf ähn¬
liche Antriebe zurückgeführt werden wie die unsrer Sozialdemokratie. Deshalb
sind auch gewisse Ähnlichkeiten zwischen beiden vorhanden. Die Heilsarmee
will dem religiösen Indifferentismus entgegenwirken, die Svzialdemokmtie dem
politischen. Beide lassen den, der seinen Übertritt zu ihrer Genossenschaft
einmal erklärt hat, nicht leicht wieder los, dafür sorgt der in der Gesamtheit
lebendige Zusammenhalt. Die Angehörigen beider Armeen gehen am Tage
ihrem gewöhnlichen Berufe nach und widmen bloß ihre freien Stunden dem
Dienste in der Armee. Die einen suchen das „Kriegsgeschrei," ihr „offizielles"
Organ, die andern den seinem Titel nach nicht minder kriegerischen „Vorwärts"
zu verbreite». Hier ist die Religion Privatsache, dort wenigstens die Kon¬
fession. Die Genossen hier und dort verpflichten sich nur, gewisse allgemeine
Grundsätze zu bekennen, die ihr „Programm" bilden; Henry Drummond ist
dadurch offenbar beeinflußt worden, ein „Programm des Christentums" auf¬
zustellen. Nur die Organisation der Heilsarmee ist militärisch, sogar bis auf
abgeschmackte Äußerlichkeiten, aber ihre Zwecke sind sozialpolitisch. Die Art,
wie die Heilsarmee die Sozialpolitik betreibt, ist englisch, die Art, wie es die
Sozialdemokratie thut, ist deutsch.

Was nennt man nicht alles Frieden, und wie viel Krieg ist unter der
Decke des friedlichen Zusammenlebens der Menschen verborgen! Alle jene
hochtönenden Kriegsworte sind kein bloßer Spaß, der Wortstreit lehnt sich an
den Widerstreit der Interessen an. Niemand kann den bittern Ernst der wirt¬
schaftlichen Kämpfe verkennen. Dieser bittre Ernst ist so alt wie die Menschen¬
welt und besteht, seitdem dein Menschen das Urteil gesprochen wurde! „Im
Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen." Die Sozialdemokratie
leugnet nicht, daß die soziale Bewegung unsrer Tage Krieg bedeutet. Wie
oft sind uicht die Vereinigungen von Facharbeitern, die eine Besserung ihrer
wirtschaftliche» Lage erzielen wollen, Kampforganisationen genannt worden,
Arbeiter u»d Arbeiter schließen sich zusammen, um durch die Bereinigung
ihrer Kräfte zu erreichen, was dem einzelnen durchzusetzen nie gelingen würde.
Nur die Organisation, die Gesamtheit kann mit Aussicht auf Erfolg der Über¬
macht des Besitzes und des Kapitals Widerstand entgegensetzen. Die Gewalt,
das „Faustrecht" aus diesem Gebiete nennt sich Streik. „Der Streik ist eine
Kriegsmaßregel." „Wie Krieg das letzte Argument der Könige ist oder eines
unterjochten Volks, so ist der Streik die rcktimg, ratio (das letzte Beweismittel)
der Arbeiter." „Die Streiks werden seltner werden, wie denn much die eng¬
lische Arbeitergeschichte zeigt, daß die Zahl der Streiks von Jahr zu Jahr
geringer wird; aber waren es früher wirtschaftliche Vorpostengefechte, so sind
es jetzt wirtschaftliche Schlachten." Beim Streik wie im Kriege ist die Haupt-


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[0412] Der Militarismus der Sozialdemokratie Gewand umhüllt sind: die englische Heils- oder Seligmacherarmee. Ihr lär¬ mender, grotesker Aufzug verträgt sich gewiß nicht mit dein nachdenklichen und gesetzten deutschen Wesen. Aber ihre Entstehung muß doch schließlich auf ähn¬ liche Antriebe zurückgeführt werden wie die unsrer Sozialdemokratie. Deshalb sind auch gewisse Ähnlichkeiten zwischen beiden vorhanden. Die Heilsarmee will dem religiösen Indifferentismus entgegenwirken, die Svzialdemokmtie dem politischen. Beide lassen den, der seinen Übertritt zu ihrer Genossenschaft einmal erklärt hat, nicht leicht wieder los, dafür sorgt der in der Gesamtheit lebendige Zusammenhalt. Die Angehörigen beider Armeen gehen am Tage ihrem gewöhnlichen Berufe nach und widmen bloß ihre freien Stunden dem Dienste in der Armee. Die einen suchen das „Kriegsgeschrei," ihr „offizielles" Organ, die andern den seinem Titel nach nicht minder kriegerischen „Vorwärts" zu verbreite». Hier ist die Religion Privatsache, dort wenigstens die Kon¬ fession. Die Genossen hier und dort verpflichten sich nur, gewisse allgemeine Grundsätze zu bekennen, die ihr „Programm" bilden; Henry Drummond ist dadurch offenbar beeinflußt worden, ein „Programm des Christentums" auf¬ zustellen. Nur die Organisation der Heilsarmee ist militärisch, sogar bis auf abgeschmackte Äußerlichkeiten, aber ihre Zwecke sind sozialpolitisch. Die Art, wie die Heilsarmee die Sozialpolitik betreibt, ist englisch, die Art, wie es die Sozialdemokratie thut, ist deutsch. Was nennt man nicht alles Frieden, und wie viel Krieg ist unter der Decke des friedlichen Zusammenlebens der Menschen verborgen! Alle jene hochtönenden Kriegsworte sind kein bloßer Spaß, der Wortstreit lehnt sich an den Widerstreit der Interessen an. Niemand kann den bittern Ernst der wirt¬ schaftlichen Kämpfe verkennen. Dieser bittre Ernst ist so alt wie die Menschen¬ welt und besteht, seitdem dein Menschen das Urteil gesprochen wurde! „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen." Die Sozialdemokratie leugnet nicht, daß die soziale Bewegung unsrer Tage Krieg bedeutet. Wie oft sind uicht die Vereinigungen von Facharbeitern, die eine Besserung ihrer wirtschaftliche» Lage erzielen wollen, Kampforganisationen genannt worden, Arbeiter u»d Arbeiter schließen sich zusammen, um durch die Bereinigung ihrer Kräfte zu erreichen, was dem einzelnen durchzusetzen nie gelingen würde. Nur die Organisation, die Gesamtheit kann mit Aussicht auf Erfolg der Über¬ macht des Besitzes und des Kapitals Widerstand entgegensetzen. Die Gewalt, das „Faustrecht" aus diesem Gebiete nennt sich Streik. „Der Streik ist eine Kriegsmaßregel." „Wie Krieg das letzte Argument der Könige ist oder eines unterjochten Volks, so ist der Streik die rcktimg, ratio (das letzte Beweismittel) der Arbeiter." „Die Streiks werden seltner werden, wie denn much die eng¬ lische Arbeitergeschichte zeigt, daß die Zahl der Streiks von Jahr zu Jahr geringer wird; aber waren es früher wirtschaftliche Vorpostengefechte, so sind es jetzt wirtschaftliche Schlachten." Beim Streik wie im Kriege ist die Haupt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/412>, abgerufen am 23.07.2024.