Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Allmählich verlor die Landschaft ihren einförmigen Charakter, und je
tiefer der Zug in den baltischen Höhenrücken eindrang, desto anmutiger wurde
sie. Ansehnliche Hügel, meist mit Laubwald im bunten Herbstschmuck bekleidet,
gaben ihr beinahe ein gebirgiges Ansehen, und ähnliche bläuliche Höhen tauchten
in der Ferne auf. Das also war die Gegend, die Fürst Bismcirck seit fünf¬
undzwanzig Jahren zu seinem Sommerhitze erkoren hatte, und wo er jetzt,
nachdem er einer zerspaltnen Nation die Einheit, seinem Herrscherhause die
Kaiserkrone errungen und einer Welt Gesetze vorgeschrieben hat, wieder als
schlichter pommerscher Edelmann lebt wie in seiner brausenden Jugend.

Die letzten Stationen glitten vorüber. Da zeigte sich in einem breiten
Waldthüle eine kleine Gruppe ansehnlicher roter Ziegelbauten: es war Hcunmcr-
mühle, die Station für Varzin. Kurz vor halb ein Uhr lief der Zug dort
ein. Mir schlug das Herz, als ich schon bei der Einfahrt links von dem
kleinen Bahnhofsgebäude einen leichten offnen Wagen halten sah und einen
Kutscher in einfacher dunkelblauer Livree mit dem Tressenhut erkannte. Es
war das Geschirr, das mir der Fürst entgegengesaudt hatte. Noch als ich
eingestiegen war und die beiden kräftigen Braunen zu scharfem Trabe aus¬
griffen, war es mir wie ein Traum, und wenn ich nicht beständig die silbernen
Wappenknöpfe auf dem breiten Rücken des biedern Pommern vor mir gesehen
hätte, ich hätte es beinahe selber nicht geglaubt, daß ich in wenigen Minuten
vor dem größten deutscheu Manne seit Luther stehen sollte.

Auf guter, fast geradliniger, etwas ansteigender Straße flog der Wagen
dahin, durch niedrige Waldbestände eine Landwelle hinauf. Dahinter mußte
Varzin liegen. Und wirklich, als die Höhe erreicht war, tauchten die ersten
Häuser des Dorfes auf. Angeschmiegt an einen ansehnlichen Höhenzug, der
von West nach Ost etwas ansteigt und mit dichtem, hochstämmigen Laubwalde
bedeckt ist, ziehen sich die kleinen weißgetünchten Häuser des Ortes unter
roten Ziegeldächern hin, und links, etwas abseits, stieg aus hohen Baum-
Wipfeln das steile Dach eines Herrenhauses empor; ich wußte es, ohne zu
fragen: das war Fürst Vismarcks Landsitz. Am blaßblauen Himmel, an dein
nur leichtes Gewölk schwebte, glänzte darüber die helle Oktobersonne. Bald
rasselte der Wagen über das holprige Pflaster der Dorfstraße, die Männer
und Knaben, die vor den Häusern standen, zogen die Mützen, und die Mäd¬
chen knixten, als sie die fürstliche Livree erkannten. Dann ging es an dem
etwas tiefer liegenden Wirtschaftshofe vorüber, in scharfer Biegung rechts
hinauf, und eine Viertelstunde vor ein Uhr knirschten die Räder auf dein
Sande des Hofes, und der Wagen hielt vor einem schlichten Herrenhause. Ich
war in Varziu.

An der Thür auf der kleinen Terrasse des Hauses empfing mich Dr. Chry-
sander, der Leibarzt und Privatsekretär des Fürsten, ein noch junger Herr,
mit einem altern Diener und einem schlanken Knaben, der mir zutraulich die


Grenzboten IV 1LV2 48

Allmählich verlor die Landschaft ihren einförmigen Charakter, und je
tiefer der Zug in den baltischen Höhenrücken eindrang, desto anmutiger wurde
sie. Ansehnliche Hügel, meist mit Laubwald im bunten Herbstschmuck bekleidet,
gaben ihr beinahe ein gebirgiges Ansehen, und ähnliche bläuliche Höhen tauchten
in der Ferne auf. Das also war die Gegend, die Fürst Bismcirck seit fünf¬
undzwanzig Jahren zu seinem Sommerhitze erkoren hatte, und wo er jetzt,
nachdem er einer zerspaltnen Nation die Einheit, seinem Herrscherhause die
Kaiserkrone errungen und einer Welt Gesetze vorgeschrieben hat, wieder als
schlichter pommerscher Edelmann lebt wie in seiner brausenden Jugend.

Die letzten Stationen glitten vorüber. Da zeigte sich in einem breiten
Waldthüle eine kleine Gruppe ansehnlicher roter Ziegelbauten: es war Hcunmcr-
mühle, die Station für Varzin. Kurz vor halb ein Uhr lief der Zug dort
ein. Mir schlug das Herz, als ich schon bei der Einfahrt links von dem
kleinen Bahnhofsgebäude einen leichten offnen Wagen halten sah und einen
Kutscher in einfacher dunkelblauer Livree mit dem Tressenhut erkannte. Es
war das Geschirr, das mir der Fürst entgegengesaudt hatte. Noch als ich
eingestiegen war und die beiden kräftigen Braunen zu scharfem Trabe aus¬
griffen, war es mir wie ein Traum, und wenn ich nicht beständig die silbernen
Wappenknöpfe auf dem breiten Rücken des biedern Pommern vor mir gesehen
hätte, ich hätte es beinahe selber nicht geglaubt, daß ich in wenigen Minuten
vor dem größten deutscheu Manne seit Luther stehen sollte.

Auf guter, fast geradliniger, etwas ansteigender Straße flog der Wagen
dahin, durch niedrige Waldbestände eine Landwelle hinauf. Dahinter mußte
Varzin liegen. Und wirklich, als die Höhe erreicht war, tauchten die ersten
Häuser des Dorfes auf. Angeschmiegt an einen ansehnlichen Höhenzug, der
von West nach Ost etwas ansteigt und mit dichtem, hochstämmigen Laubwalde
bedeckt ist, ziehen sich die kleinen weißgetünchten Häuser des Ortes unter
roten Ziegeldächern hin, und links, etwas abseits, stieg aus hohen Baum-
Wipfeln das steile Dach eines Herrenhauses empor; ich wußte es, ohne zu
fragen: das war Fürst Vismarcks Landsitz. Am blaßblauen Himmel, an dein
nur leichtes Gewölk schwebte, glänzte darüber die helle Oktobersonne. Bald
rasselte der Wagen über das holprige Pflaster der Dorfstraße, die Männer
und Knaben, die vor den Häusern standen, zogen die Mützen, und die Mäd¬
chen knixten, als sie die fürstliche Livree erkannten. Dann ging es an dem
etwas tiefer liegenden Wirtschaftshofe vorüber, in scharfer Biegung rechts
hinauf, und eine Viertelstunde vor ein Uhr knirschten die Räder auf dein
Sande des Hofes, und der Wagen hielt vor einem schlichten Herrenhause. Ich
war in Varziu.

An der Thür auf der kleinen Terrasse des Hauses empfing mich Dr. Chry-
sander, der Leibarzt und Privatsekretär des Fürsten, ein noch junger Herr,
mit einem altern Diener und einem schlanken Knaben, der mir zutraulich die


Grenzboten IV 1LV2 48
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0385" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/213499"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1169"> Allmählich verlor die Landschaft ihren einförmigen Charakter, und je<lb/>
tiefer der Zug in den baltischen Höhenrücken eindrang, desto anmutiger wurde<lb/>
sie. Ansehnliche Hügel, meist mit Laubwald im bunten Herbstschmuck bekleidet,<lb/>
gaben ihr beinahe ein gebirgiges Ansehen, und ähnliche bläuliche Höhen tauchten<lb/>
in der Ferne auf. Das also war die Gegend, die Fürst Bismcirck seit fünf¬<lb/>
undzwanzig Jahren zu seinem Sommerhitze erkoren hatte, und wo er jetzt,<lb/>
nachdem er einer zerspaltnen Nation die Einheit, seinem Herrscherhause die<lb/>
Kaiserkrone errungen und einer Welt Gesetze vorgeschrieben hat, wieder als<lb/>
schlichter pommerscher Edelmann lebt wie in seiner brausenden Jugend.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1170"> Die letzten Stationen glitten vorüber. Da zeigte sich in einem breiten<lb/>
Waldthüle eine kleine Gruppe ansehnlicher roter Ziegelbauten: es war Hcunmcr-<lb/>
mühle, die Station für Varzin. Kurz vor halb ein Uhr lief der Zug dort<lb/>
ein. Mir schlug das Herz, als ich schon bei der Einfahrt links von dem<lb/>
kleinen Bahnhofsgebäude einen leichten offnen Wagen halten sah und einen<lb/>
Kutscher in einfacher dunkelblauer Livree mit dem Tressenhut erkannte. Es<lb/>
war das Geschirr, das mir der Fürst entgegengesaudt hatte. Noch als ich<lb/>
eingestiegen war und die beiden kräftigen Braunen zu scharfem Trabe aus¬<lb/>
griffen, war es mir wie ein Traum, und wenn ich nicht beständig die silbernen<lb/>
Wappenknöpfe auf dem breiten Rücken des biedern Pommern vor mir gesehen<lb/>
hätte, ich hätte es beinahe selber nicht geglaubt, daß ich in wenigen Minuten<lb/>
vor dem größten deutscheu Manne seit Luther stehen sollte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1171"> Auf guter, fast geradliniger, etwas ansteigender Straße flog der Wagen<lb/>
dahin, durch niedrige Waldbestände eine Landwelle hinauf. Dahinter mußte<lb/>
Varzin liegen. Und wirklich, als die Höhe erreicht war, tauchten die ersten<lb/>
Häuser des Dorfes auf. Angeschmiegt an einen ansehnlichen Höhenzug, der<lb/>
von West nach Ost etwas ansteigt und mit dichtem, hochstämmigen Laubwalde<lb/>
bedeckt ist, ziehen sich die kleinen weißgetünchten Häuser des Ortes unter<lb/>
roten Ziegeldächern hin, und links, etwas abseits, stieg aus hohen Baum-<lb/>
Wipfeln das steile Dach eines Herrenhauses empor; ich wußte es, ohne zu<lb/>
fragen: das war Fürst Vismarcks Landsitz. Am blaßblauen Himmel, an dein<lb/>
nur leichtes Gewölk schwebte, glänzte darüber die helle Oktobersonne. Bald<lb/>
rasselte der Wagen über das holprige Pflaster der Dorfstraße, die Männer<lb/>
und Knaben, die vor den Häusern standen, zogen die Mützen, und die Mäd¬<lb/>
chen knixten, als sie die fürstliche Livree erkannten. Dann ging es an dem<lb/>
etwas tiefer liegenden Wirtschaftshofe vorüber, in scharfer Biegung rechts<lb/>
hinauf, und eine Viertelstunde vor ein Uhr knirschten die Räder auf dein<lb/>
Sande des Hofes, und der Wagen hielt vor einem schlichten Herrenhause. Ich<lb/>
war in Varziu.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1172" next="#ID_1173"> An der Thür auf der kleinen Terrasse des Hauses empfing mich Dr. Chry-<lb/>
sander, der Leibarzt und Privatsekretär des Fürsten, ein noch junger Herr,<lb/>
mit einem altern Diener und einem schlanken Knaben, der mir zutraulich die</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1LV2 48</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0385] Allmählich verlor die Landschaft ihren einförmigen Charakter, und je tiefer der Zug in den baltischen Höhenrücken eindrang, desto anmutiger wurde sie. Ansehnliche Hügel, meist mit Laubwald im bunten Herbstschmuck bekleidet, gaben ihr beinahe ein gebirgiges Ansehen, und ähnliche bläuliche Höhen tauchten in der Ferne auf. Das also war die Gegend, die Fürst Bismcirck seit fünf¬ undzwanzig Jahren zu seinem Sommerhitze erkoren hatte, und wo er jetzt, nachdem er einer zerspaltnen Nation die Einheit, seinem Herrscherhause die Kaiserkrone errungen und einer Welt Gesetze vorgeschrieben hat, wieder als schlichter pommerscher Edelmann lebt wie in seiner brausenden Jugend. Die letzten Stationen glitten vorüber. Da zeigte sich in einem breiten Waldthüle eine kleine Gruppe ansehnlicher roter Ziegelbauten: es war Hcunmcr- mühle, die Station für Varzin. Kurz vor halb ein Uhr lief der Zug dort ein. Mir schlug das Herz, als ich schon bei der Einfahrt links von dem kleinen Bahnhofsgebäude einen leichten offnen Wagen halten sah und einen Kutscher in einfacher dunkelblauer Livree mit dem Tressenhut erkannte. Es war das Geschirr, das mir der Fürst entgegengesaudt hatte. Noch als ich eingestiegen war und die beiden kräftigen Braunen zu scharfem Trabe aus¬ griffen, war es mir wie ein Traum, und wenn ich nicht beständig die silbernen Wappenknöpfe auf dem breiten Rücken des biedern Pommern vor mir gesehen hätte, ich hätte es beinahe selber nicht geglaubt, daß ich in wenigen Minuten vor dem größten deutscheu Manne seit Luther stehen sollte. Auf guter, fast geradliniger, etwas ansteigender Straße flog der Wagen dahin, durch niedrige Waldbestände eine Landwelle hinauf. Dahinter mußte Varzin liegen. Und wirklich, als die Höhe erreicht war, tauchten die ersten Häuser des Dorfes auf. Angeschmiegt an einen ansehnlichen Höhenzug, der von West nach Ost etwas ansteigt und mit dichtem, hochstämmigen Laubwalde bedeckt ist, ziehen sich die kleinen weißgetünchten Häuser des Ortes unter roten Ziegeldächern hin, und links, etwas abseits, stieg aus hohen Baum- Wipfeln das steile Dach eines Herrenhauses empor; ich wußte es, ohne zu fragen: das war Fürst Vismarcks Landsitz. Am blaßblauen Himmel, an dein nur leichtes Gewölk schwebte, glänzte darüber die helle Oktobersonne. Bald rasselte der Wagen über das holprige Pflaster der Dorfstraße, die Männer und Knaben, die vor den Häusern standen, zogen die Mützen, und die Mäd¬ chen knixten, als sie die fürstliche Livree erkannten. Dann ging es an dem etwas tiefer liegenden Wirtschaftshofe vorüber, in scharfer Biegung rechts hinauf, und eine Viertelstunde vor ein Uhr knirschten die Räder auf dein Sande des Hofes, und der Wagen hielt vor einem schlichten Herrenhause. Ich war in Varziu. An der Thür auf der kleinen Terrasse des Hauses empfing mich Dr. Chry- sander, der Leibarzt und Privatsekretär des Fürsten, ein noch junger Herr, mit einem altern Diener und einem schlanken Knaben, der mir zutraulich die Grenzboten IV 1LV2 48

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/385
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/385>, abgerufen am 22.12.2024.