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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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raren umgeben, daß er darunter zu ersticken drohte und wohl auch völlig er¬
sticken wird, wenn er nicht rechtzeitig von den Schalen befreit wird. Eng be¬
grenzt in der Auswahl der Stoffe und ohne innere Begründung auf veraltete
Formen zurückgreifend, sündigte das Herrigschc Volksfestspiel auch durch eine
ins Maßlose übertriebne Geringschätzung der in neuerer Zeit gewonnenen
szenischen Mittel und trachtete im allgemeinen nach einer Wiederbelebung mittel¬
alterlicher Überlieferungen, denen kaum noch ein Hauch von Lebenskraft inne-
wohnt. Wir können uns in der Erörterung des Wertes der Herrigschen Ge¬
danken an dieser Stelle um so kürzer fassen, als sie bereits an verschiednen
Orten, zuletzt von G. A. Erdmann"), in sachlich meist zutreffender Weise auf ihre
geringe Bedeutung zurückgeführt worden sind.

Nicht viel hoher mochten wir die Bedeutung der noch aus älterer Zeit
überlieferten Volksaufführungen, der Pnssions- und historischen Festspiele für
die Entwicklung der gegenwärtigen Bühne anschlagen. Es sind Überbleibsel
einer alten Zeit, die mit Pietät zu hüten oder zu pflegen die mannichfaltigsten
Gründe auffordern, denen namentlich, fo lange sie in dem Kreise des ihnen
durch Ort und Gelegenheit zugewiesenen Publikums bleiben, eine volksbildcnde
Kraft innewohnen mag. Dem breiten Strome der aus aller Herren Ländern
herbeieilenden Neu- und Wißbegierigen zugänglich, werden aber solche volks¬
tümliche Aufführungen oft zu Mittelpunkten gewinnsüchtiger Bestrebungen, die
mit der Kunst nichts gemein haben, und verlieren nur zu bald an volks¬
tümlicher Frische und Unmittelbarkeit, ein Verlust, den keine noch so glän¬
zende Ausstattung, keine uoch so gewandte Darstellung ersetzen kaun. Der
fröhliche, weil nur der Sache dienende Dilettantismus verschwindet, ohne
durch die Leistungen wirklicher Verufsschauspieler ersetzt zu werden, die auch
nicht am Platze wären.

Die Mitwirkung des Dilettantismus, die sowohl bei den letztgenannten
Spielen wie bei deu Festspielen neuesten Ursprunges ein wesentlicher Zug ist, er¬
schien vielen gewissermaßen das Ideal einer Volkskunst zu verkörpern, einer Kunst
für und dnrch das Volk. Man hat allen Grund, gerade diesen Hoffnungen
etwas zweifelhaft gegenüberzustehen. So wenig bestritten werden soll, daß das
Einsetzen der persönlichen geistigen und gemütlichen Kraft, um eine Dichtung
zur Darstellung zu bringen, geeignet sein kann, das Verständnis nicht nur
für den Gegenstand der künstlerischen Ausprägung, sondern auch für die Mittel,
durch die diese erreicht wird, d. h. für das Schauspielerische bei dem Beteiligten
zu erhöhen und somit den Sinn, die Empfänglichkeit und das Urteil für ähn¬
liche Leistungen andrer, sei es die mitstrebender Liebhaber, sei es die von
Berufssthcmspielern zu stärken, so wenig dürfen und werden die Gefahren, die
jeder Dilettantismus in sich birgt, auch auf diesem Gebiete verkannt werden.



Vergl. G. A. Erdmann, Theaterreformen? Berlin, E, Rentzcl, 1892.
Cheaterreformen

raren umgeben, daß er darunter zu ersticken drohte und wohl auch völlig er¬
sticken wird, wenn er nicht rechtzeitig von den Schalen befreit wird. Eng be¬
grenzt in der Auswahl der Stoffe und ohne innere Begründung auf veraltete
Formen zurückgreifend, sündigte das Herrigschc Volksfestspiel auch durch eine
ins Maßlose übertriebne Geringschätzung der in neuerer Zeit gewonnenen
szenischen Mittel und trachtete im allgemeinen nach einer Wiederbelebung mittel¬
alterlicher Überlieferungen, denen kaum noch ein Hauch von Lebenskraft inne-
wohnt. Wir können uns in der Erörterung des Wertes der Herrigschen Ge¬
danken an dieser Stelle um so kürzer fassen, als sie bereits an verschiednen
Orten, zuletzt von G. A. Erdmann"), in sachlich meist zutreffender Weise auf ihre
geringe Bedeutung zurückgeführt worden sind.

Nicht viel hoher mochten wir die Bedeutung der noch aus älterer Zeit
überlieferten Volksaufführungen, der Pnssions- und historischen Festspiele für
die Entwicklung der gegenwärtigen Bühne anschlagen. Es sind Überbleibsel
einer alten Zeit, die mit Pietät zu hüten oder zu pflegen die mannichfaltigsten
Gründe auffordern, denen namentlich, fo lange sie in dem Kreise des ihnen
durch Ort und Gelegenheit zugewiesenen Publikums bleiben, eine volksbildcnde
Kraft innewohnen mag. Dem breiten Strome der aus aller Herren Ländern
herbeieilenden Neu- und Wißbegierigen zugänglich, werden aber solche volks¬
tümliche Aufführungen oft zu Mittelpunkten gewinnsüchtiger Bestrebungen, die
mit der Kunst nichts gemein haben, und verlieren nur zu bald an volks¬
tümlicher Frische und Unmittelbarkeit, ein Verlust, den keine noch so glän¬
zende Ausstattung, keine uoch so gewandte Darstellung ersetzen kaun. Der
fröhliche, weil nur der Sache dienende Dilettantismus verschwindet, ohne
durch die Leistungen wirklicher Verufsschauspieler ersetzt zu werden, die auch
nicht am Platze wären.

Die Mitwirkung des Dilettantismus, die sowohl bei den letztgenannten
Spielen wie bei deu Festspielen neuesten Ursprunges ein wesentlicher Zug ist, er¬
schien vielen gewissermaßen das Ideal einer Volkskunst zu verkörpern, einer Kunst
für und dnrch das Volk. Man hat allen Grund, gerade diesen Hoffnungen
etwas zweifelhaft gegenüberzustehen. So wenig bestritten werden soll, daß das
Einsetzen der persönlichen geistigen und gemütlichen Kraft, um eine Dichtung
zur Darstellung zu bringen, geeignet sein kann, das Verständnis nicht nur
für den Gegenstand der künstlerischen Ausprägung, sondern auch für die Mittel,
durch die diese erreicht wird, d. h. für das Schauspielerische bei dem Beteiligten
zu erhöhen und somit den Sinn, die Empfänglichkeit und das Urteil für ähn¬
liche Leistungen andrer, sei es die mitstrebender Liebhaber, sei es die von
Berufssthcmspielern zu stärken, so wenig dürfen und werden die Gefahren, die
jeder Dilettantismus in sich birgt, auch auf diesem Gebiete verkannt werden.



Vergl. G. A. Erdmann, Theaterreformen? Berlin, E, Rentzcl, 1892.
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[0382] Cheaterreformen raren umgeben, daß er darunter zu ersticken drohte und wohl auch völlig er¬ sticken wird, wenn er nicht rechtzeitig von den Schalen befreit wird. Eng be¬ grenzt in der Auswahl der Stoffe und ohne innere Begründung auf veraltete Formen zurückgreifend, sündigte das Herrigschc Volksfestspiel auch durch eine ins Maßlose übertriebne Geringschätzung der in neuerer Zeit gewonnenen szenischen Mittel und trachtete im allgemeinen nach einer Wiederbelebung mittel¬ alterlicher Überlieferungen, denen kaum noch ein Hauch von Lebenskraft inne- wohnt. Wir können uns in der Erörterung des Wertes der Herrigschen Ge¬ danken an dieser Stelle um so kürzer fassen, als sie bereits an verschiednen Orten, zuletzt von G. A. Erdmann"), in sachlich meist zutreffender Weise auf ihre geringe Bedeutung zurückgeführt worden sind. Nicht viel hoher mochten wir die Bedeutung der noch aus älterer Zeit überlieferten Volksaufführungen, der Pnssions- und historischen Festspiele für die Entwicklung der gegenwärtigen Bühne anschlagen. Es sind Überbleibsel einer alten Zeit, die mit Pietät zu hüten oder zu pflegen die mannichfaltigsten Gründe auffordern, denen namentlich, fo lange sie in dem Kreise des ihnen durch Ort und Gelegenheit zugewiesenen Publikums bleiben, eine volksbildcnde Kraft innewohnen mag. Dem breiten Strome der aus aller Herren Ländern herbeieilenden Neu- und Wißbegierigen zugänglich, werden aber solche volks¬ tümliche Aufführungen oft zu Mittelpunkten gewinnsüchtiger Bestrebungen, die mit der Kunst nichts gemein haben, und verlieren nur zu bald an volks¬ tümlicher Frische und Unmittelbarkeit, ein Verlust, den keine noch so glän¬ zende Ausstattung, keine uoch so gewandte Darstellung ersetzen kaun. Der fröhliche, weil nur der Sache dienende Dilettantismus verschwindet, ohne durch die Leistungen wirklicher Verufsschauspieler ersetzt zu werden, die auch nicht am Platze wären. Die Mitwirkung des Dilettantismus, die sowohl bei den letztgenannten Spielen wie bei deu Festspielen neuesten Ursprunges ein wesentlicher Zug ist, er¬ schien vielen gewissermaßen das Ideal einer Volkskunst zu verkörpern, einer Kunst für und dnrch das Volk. Man hat allen Grund, gerade diesen Hoffnungen etwas zweifelhaft gegenüberzustehen. So wenig bestritten werden soll, daß das Einsetzen der persönlichen geistigen und gemütlichen Kraft, um eine Dichtung zur Darstellung zu bringen, geeignet sein kann, das Verständnis nicht nur für den Gegenstand der künstlerischen Ausprägung, sondern auch für die Mittel, durch die diese erreicht wird, d. h. für das Schauspielerische bei dem Beteiligten zu erhöhen und somit den Sinn, die Empfänglichkeit und das Urteil für ähn¬ liche Leistungen andrer, sei es die mitstrebender Liebhaber, sei es die von Berufssthcmspielern zu stärken, so wenig dürfen und werden die Gefahren, die jeder Dilettantismus in sich birgt, auch auf diesem Gebiete verkannt werden. Vergl. G. A. Erdmann, Theaterreformen? Berlin, E, Rentzcl, 1892.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/382>, abgerufen am 03.07.2024.