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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Theaterreformen

vor allem; mit Gießkannen und Okulirmesser zieht man Gewächshauspflanzen,
aber keine mächtigen, festen Stämme. Gewiß wird es auch in der drama¬
tischen Dichtung immer Werke geben, die uur in dem engen Kreise der Lieb¬
haber nach Gebühr gewürdigt werden können. Das Reich der Kunst ist weit,
und neben dem Großen und Erhabnen, das alle ergreift, hat auch das Idyl¬
lische, das Genre und sogar das Absonderliche sein Dnseinsrecht. Für die
Entwicklung und den Fortschritt aber kommt ein Werk der letztern Art nicht
in Betracht.

Die eigentliche Lebenslust der Kunst ist die Allgemeinheit. An diese wenden
sich die Volksbühnen, die in dem letzten Jahrzehnt uoch weit mehr von sich
haben reden machen als die freien Bühnen. Neben den dnrch die Namen
Herrig und Devrient deutlich genug bezeichneten Versuchen auf diesem Ge¬
biete fordert hier auch das meist aus älterer Zeit überlieferte Volksschauspiel
und die in Berlin begründete freie Volksbühne mit ausgesprochen sozialdemo¬
kratischen Charakter Beachtung. Den eben genannten theatralischen Versuchen
ist mit Ausnahme des letzten, der einen besondern Platz beansprucht, neben
dem erweiterten Kreis der Zuschauer die Mitwirkung oder die ausschließliche
schauspielerische Thätigkeit von Dilettanten und das besondre festliche Gepräge
der jedesmaligen Aufführungen eigentümlich. Den durch Herrigs Lutherfest¬
spiel vor allem bekannt gewordnen Versuchen, dem Schauspiel in den weitesten
Kreisen des Volks eine regere und vor allem ernstere Teilnahme zuzuwenden,
kann und soll nun ihr Verdienst nicht abgesprochen werden. Allein der feier¬
liche Charakter, der allen diesen Volksanfführnugen schon dnrch den Umstand,
daß sie auf eine kurze Zeit beschränkt waren und werden mußten, aufgeprägt
war, ließ sie ueben den üblichen Schauspielen stündiger Theater als etwas
außergewöhnliches, darum zu eingehenderer Würdigung herausforderndes er¬
scheinen. Zur Erhöhung dieses Eindruckes trug es nicht wenig bei, daß man,
um die Aufführungen zu ermöglichen, vielfach besondre Stätten errichten mußte.
Kurz, die ganze Form, wie diese Volksschauspielc auftreten und auftraten,
macht sie zu etwas außergewöhnlichem. Hierin liegt aber auch die Schranke
dieser Aufführungen: ihr Wert besteht fo lange, als ihnen der Reiz des Ab¬
sonderlichem bleibt. Auf die Dauer ist von ihnen eine Befruchtung des öffent¬
lichen Geschmacks nicht zu erwarten. So sind denn in der That die Herrigschen
Lntheraufführungen nicht viel mehr als eine Modesache gewesen, deren Wert durch
den Reiz der Altertümlichkeit für den Augenblick erhöht wurde, die aber um so
vergänglicher war, als vieles daran Talmigold ist. Sie haben sich überlebt, die
Lutherfestspiele, und werden sich noch mehr überleben, und ebenso ihre zum
Teil recht schwächlichen Nachahmungen. Ein Kern des Herrigschen Gedankens
war gesund und lebenskräftig: der, das Ansehen der Bühnenanfführungeu
zu heben und das ganze große Volk zu Gaste zu laden; aber dieser Kern war
mit so viel Flitter, mit so vielem Aufwand von Geschraubtem und Reaktiv-


Theaterreformen

vor allem; mit Gießkannen und Okulirmesser zieht man Gewächshauspflanzen,
aber keine mächtigen, festen Stämme. Gewiß wird es auch in der drama¬
tischen Dichtung immer Werke geben, die uur in dem engen Kreise der Lieb¬
haber nach Gebühr gewürdigt werden können. Das Reich der Kunst ist weit,
und neben dem Großen und Erhabnen, das alle ergreift, hat auch das Idyl¬
lische, das Genre und sogar das Absonderliche sein Dnseinsrecht. Für die
Entwicklung und den Fortschritt aber kommt ein Werk der letztern Art nicht
in Betracht.

Die eigentliche Lebenslust der Kunst ist die Allgemeinheit. An diese wenden
sich die Volksbühnen, die in dem letzten Jahrzehnt uoch weit mehr von sich
haben reden machen als die freien Bühnen. Neben den dnrch die Namen
Herrig und Devrient deutlich genug bezeichneten Versuchen auf diesem Ge¬
biete fordert hier auch das meist aus älterer Zeit überlieferte Volksschauspiel
und die in Berlin begründete freie Volksbühne mit ausgesprochen sozialdemo¬
kratischen Charakter Beachtung. Den eben genannten theatralischen Versuchen
ist mit Ausnahme des letzten, der einen besondern Platz beansprucht, neben
dem erweiterten Kreis der Zuschauer die Mitwirkung oder die ausschließliche
schauspielerische Thätigkeit von Dilettanten und das besondre festliche Gepräge
der jedesmaligen Aufführungen eigentümlich. Den durch Herrigs Lutherfest¬
spiel vor allem bekannt gewordnen Versuchen, dem Schauspiel in den weitesten
Kreisen des Volks eine regere und vor allem ernstere Teilnahme zuzuwenden,
kann und soll nun ihr Verdienst nicht abgesprochen werden. Allein der feier¬
liche Charakter, der allen diesen Volksanfführnugen schon dnrch den Umstand,
daß sie auf eine kurze Zeit beschränkt waren und werden mußten, aufgeprägt
war, ließ sie ueben den üblichen Schauspielen stündiger Theater als etwas
außergewöhnliches, darum zu eingehenderer Würdigung herausforderndes er¬
scheinen. Zur Erhöhung dieses Eindruckes trug es nicht wenig bei, daß man,
um die Aufführungen zu ermöglichen, vielfach besondre Stätten errichten mußte.
Kurz, die ganze Form, wie diese Volksschauspielc auftreten und auftraten,
macht sie zu etwas außergewöhnlichem. Hierin liegt aber auch die Schranke
dieser Aufführungen: ihr Wert besteht fo lange, als ihnen der Reiz des Ab¬
sonderlichem bleibt. Auf die Dauer ist von ihnen eine Befruchtung des öffent¬
lichen Geschmacks nicht zu erwarten. So sind denn in der That die Herrigschen
Lntheraufführungen nicht viel mehr als eine Modesache gewesen, deren Wert durch
den Reiz der Altertümlichkeit für den Augenblick erhöht wurde, die aber um so
vergänglicher war, als vieles daran Talmigold ist. Sie haben sich überlebt, die
Lutherfestspiele, und werden sich noch mehr überleben, und ebenso ihre zum
Teil recht schwächlichen Nachahmungen. Ein Kern des Herrigschen Gedankens
war gesund und lebenskräftig: der, das Ansehen der Bühnenanfführungeu
zu heben und das ganze große Volk zu Gaste zu laden; aber dieser Kern war
mit so viel Flitter, mit so vielem Aufwand von Geschraubtem und Reaktiv-


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[0381] Theaterreformen vor allem; mit Gießkannen und Okulirmesser zieht man Gewächshauspflanzen, aber keine mächtigen, festen Stämme. Gewiß wird es auch in der drama¬ tischen Dichtung immer Werke geben, die uur in dem engen Kreise der Lieb¬ haber nach Gebühr gewürdigt werden können. Das Reich der Kunst ist weit, und neben dem Großen und Erhabnen, das alle ergreift, hat auch das Idyl¬ lische, das Genre und sogar das Absonderliche sein Dnseinsrecht. Für die Entwicklung und den Fortschritt aber kommt ein Werk der letztern Art nicht in Betracht. Die eigentliche Lebenslust der Kunst ist die Allgemeinheit. An diese wenden sich die Volksbühnen, die in dem letzten Jahrzehnt uoch weit mehr von sich haben reden machen als die freien Bühnen. Neben den dnrch die Namen Herrig und Devrient deutlich genug bezeichneten Versuchen auf diesem Ge¬ biete fordert hier auch das meist aus älterer Zeit überlieferte Volksschauspiel und die in Berlin begründete freie Volksbühne mit ausgesprochen sozialdemo¬ kratischen Charakter Beachtung. Den eben genannten theatralischen Versuchen ist mit Ausnahme des letzten, der einen besondern Platz beansprucht, neben dem erweiterten Kreis der Zuschauer die Mitwirkung oder die ausschließliche schauspielerische Thätigkeit von Dilettanten und das besondre festliche Gepräge der jedesmaligen Aufführungen eigentümlich. Den durch Herrigs Lutherfest¬ spiel vor allem bekannt gewordnen Versuchen, dem Schauspiel in den weitesten Kreisen des Volks eine regere und vor allem ernstere Teilnahme zuzuwenden, kann und soll nun ihr Verdienst nicht abgesprochen werden. Allein der feier¬ liche Charakter, der allen diesen Volksanfführnugen schon dnrch den Umstand, daß sie auf eine kurze Zeit beschränkt waren und werden mußten, aufgeprägt war, ließ sie ueben den üblichen Schauspielen stündiger Theater als etwas außergewöhnliches, darum zu eingehenderer Würdigung herausforderndes er¬ scheinen. Zur Erhöhung dieses Eindruckes trug es nicht wenig bei, daß man, um die Aufführungen zu ermöglichen, vielfach besondre Stätten errichten mußte. Kurz, die ganze Form, wie diese Volksschauspielc auftreten und auftraten, macht sie zu etwas außergewöhnlichem. Hierin liegt aber auch die Schranke dieser Aufführungen: ihr Wert besteht fo lange, als ihnen der Reiz des Ab¬ sonderlichem bleibt. Auf die Dauer ist von ihnen eine Befruchtung des öffent¬ lichen Geschmacks nicht zu erwarten. So sind denn in der That die Herrigschen Lntheraufführungen nicht viel mehr als eine Modesache gewesen, deren Wert durch den Reiz der Altertümlichkeit für den Augenblick erhöht wurde, die aber um so vergänglicher war, als vieles daran Talmigold ist. Sie haben sich überlebt, die Lutherfestspiele, und werden sich noch mehr überleben, und ebenso ihre zum Teil recht schwächlichen Nachahmungen. Ein Kern des Herrigschen Gedankens war gesund und lebenskräftig: der, das Ansehen der Bühnenanfführungeu zu heben und das ganze große Volk zu Gaste zu laden; aber dieser Kern war mit so viel Flitter, mit so vielem Aufwand von Geschraubtem und Reaktiv-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/381>, abgerufen am 22.12.2024.