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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die Philosophie vom Übermenschen

Den Welt- und Lebensprozeß definirt Nietzsche als die Entwicklung des
Willens zur Macht. Er ist einseitig genug, zu meinen, daß Philosophie,
Psychologie und Ethik sich auf die Entwicklungslehre des Willens zu beschränken
hatten. Was Schopenhauer "Willen zum Leben" nennt, ist bei Nietzsche Wille
zur Macht geworden; beides ist in der Sache dasselbe. Das absolut
Herrschende in der Welt der Erscheinungen, sagt Nietzsche, ist das Ich des
Menschen, seine Persönlichkeit, die wilden Triebe seiner Natur. Das Ich ver¬
langt nach Erweiterung seiner Machtsphäre. Ihr werdet sein wie Gott, darin
ist ihm das Ziel gegeben. Den wirklichen Forderungen des Lebens wird
Darwins Formel vom Kampf ums Dasei,: nicht gerecht; denn das Leben ist
mehr als Wille zur Selbsterhaltung im Kampfe gegen den Lebensfeind. Leben
ist nicht Verteidigung, nicht Schutz, nicht Anbequemung, es ist Streben nach
Mehrung des eignen Seins durch Ernährung, Wachstum und Zeugung. Leben
ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Schwächern und
Fremden, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung der eignen Formen zur Steige¬
rung des eignen Kraftgefühls, Einverleibung und mindestens, mildestens Aus¬
beutung. Die Ausbeutung gehört nicht einer verderbten oder unvoll-
kommnen und primitiven Gesellschaft an, sie gehört ins Wesen des Leben¬
digen, als organische Grundfunktion, sie ist eine Folge des eigentlichen Willens
zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist.'") Gesetzt, dies sei als Theorie
eine Neuerung -- als Realität ist es das Urfaktum aller Geschichte. Wie
hat bisher jede höhere Kultur auf Erden angefangen? Meuschen mit einer
noch natürlichen Natur, Barbaren in jedem furchtbaren Verständnis des
Wortes, Naubmenschen, noch im Besitz ungebrochner Willenskräfte und Macht-
begierden, warfen sich auf schwächlichere, gesittetere, friedlichere, vielleicht handel¬
treibende oder viehzüchtende Nassen oder aus alte mürbe Kulturen, in denen
eben die letzte Lebenskraft in glänzenden Feuerwerken von Geist und Verderbnis
verflackerte. Die vornehme Kaste war im Anfang immer die Varbarenkaste.
Ihr Übergewicht lag vorerst nicht in der physischen Kraft, sondern in der see¬
lischen: es waren die ,.ganzem Menschen," was auf jeder Stufe auch soviel
mit bedeutet als die "ganzem Bestien." Aus dein Grunde (?) der vornehmen
Rassen ist das Raubtier, die prachtvolle, nach Beute und Sieg lüstern schwei¬
fende blonde Bestie nicht zu verkennen. Es bedarf von Zeit zu Zeit der Ent¬
ladung, das Tier muß wieder heraus: römischer, arabischer, germanischer,
jnpanesischer Adel, homerische Helden, skandinavische Wikinger, in diesem Be¬
dürfnis sind sie einander alle gleich. Gesetzt, es wäre wahr, was jetzt jeden¬
falls als Wahrheit geglaubt wird, daß es eben der Sinn aller Kultur sei,
aus dem Raubtiere Mensch ein zahmes, zivilisirtes Tier, ein Haustier heran-



*) An diesem ausschlaggebenden Punkte gesteht also Nietzsche selbst seine Abhängigkeit
von Schopenhauer.
Die Philosophie vom Übermenschen

Den Welt- und Lebensprozeß definirt Nietzsche als die Entwicklung des
Willens zur Macht. Er ist einseitig genug, zu meinen, daß Philosophie,
Psychologie und Ethik sich auf die Entwicklungslehre des Willens zu beschränken
hatten. Was Schopenhauer „Willen zum Leben" nennt, ist bei Nietzsche Wille
zur Macht geworden; beides ist in der Sache dasselbe. Das absolut
Herrschende in der Welt der Erscheinungen, sagt Nietzsche, ist das Ich des
Menschen, seine Persönlichkeit, die wilden Triebe seiner Natur. Das Ich ver¬
langt nach Erweiterung seiner Machtsphäre. Ihr werdet sein wie Gott, darin
ist ihm das Ziel gegeben. Den wirklichen Forderungen des Lebens wird
Darwins Formel vom Kampf ums Dasei,: nicht gerecht; denn das Leben ist
mehr als Wille zur Selbsterhaltung im Kampfe gegen den Lebensfeind. Leben
ist nicht Verteidigung, nicht Schutz, nicht Anbequemung, es ist Streben nach
Mehrung des eignen Seins durch Ernährung, Wachstum und Zeugung. Leben
ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Schwächern und
Fremden, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung der eignen Formen zur Steige¬
rung des eignen Kraftgefühls, Einverleibung und mindestens, mildestens Aus¬
beutung. Die Ausbeutung gehört nicht einer verderbten oder unvoll-
kommnen und primitiven Gesellschaft an, sie gehört ins Wesen des Leben¬
digen, als organische Grundfunktion, sie ist eine Folge des eigentlichen Willens
zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist.'") Gesetzt, dies sei als Theorie
eine Neuerung — als Realität ist es das Urfaktum aller Geschichte. Wie
hat bisher jede höhere Kultur auf Erden angefangen? Meuschen mit einer
noch natürlichen Natur, Barbaren in jedem furchtbaren Verständnis des
Wortes, Naubmenschen, noch im Besitz ungebrochner Willenskräfte und Macht-
begierden, warfen sich auf schwächlichere, gesittetere, friedlichere, vielleicht handel¬
treibende oder viehzüchtende Nassen oder aus alte mürbe Kulturen, in denen
eben die letzte Lebenskraft in glänzenden Feuerwerken von Geist und Verderbnis
verflackerte. Die vornehme Kaste war im Anfang immer die Varbarenkaste.
Ihr Übergewicht lag vorerst nicht in der physischen Kraft, sondern in der see¬
lischen: es waren die ,.ganzem Menschen," was auf jeder Stufe auch soviel
mit bedeutet als die „ganzem Bestien." Aus dein Grunde (?) der vornehmen
Rassen ist das Raubtier, die prachtvolle, nach Beute und Sieg lüstern schwei¬
fende blonde Bestie nicht zu verkennen. Es bedarf von Zeit zu Zeit der Ent¬
ladung, das Tier muß wieder heraus: römischer, arabischer, germanischer,
jnpanesischer Adel, homerische Helden, skandinavische Wikinger, in diesem Be¬
dürfnis sind sie einander alle gleich. Gesetzt, es wäre wahr, was jetzt jeden¬
falls als Wahrheit geglaubt wird, daß es eben der Sinn aller Kultur sei,
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*) An diesem ausschlaggebenden Punkte gesteht also Nietzsche selbst seine Abhängigkeit
von Schopenhauer.
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[0038] Die Philosophie vom Übermenschen Den Welt- und Lebensprozeß definirt Nietzsche als die Entwicklung des Willens zur Macht. Er ist einseitig genug, zu meinen, daß Philosophie, Psychologie und Ethik sich auf die Entwicklungslehre des Willens zu beschränken hatten. Was Schopenhauer „Willen zum Leben" nennt, ist bei Nietzsche Wille zur Macht geworden; beides ist in der Sache dasselbe. Das absolut Herrschende in der Welt der Erscheinungen, sagt Nietzsche, ist das Ich des Menschen, seine Persönlichkeit, die wilden Triebe seiner Natur. Das Ich ver¬ langt nach Erweiterung seiner Machtsphäre. Ihr werdet sein wie Gott, darin ist ihm das Ziel gegeben. Den wirklichen Forderungen des Lebens wird Darwins Formel vom Kampf ums Dasei,: nicht gerecht; denn das Leben ist mehr als Wille zur Selbsterhaltung im Kampfe gegen den Lebensfeind. Leben ist nicht Verteidigung, nicht Schutz, nicht Anbequemung, es ist Streben nach Mehrung des eignen Seins durch Ernährung, Wachstum und Zeugung. Leben ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Schwächern und Fremden, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung der eignen Formen zur Steige¬ rung des eignen Kraftgefühls, Einverleibung und mindestens, mildestens Aus¬ beutung. Die Ausbeutung gehört nicht einer verderbten oder unvoll- kommnen und primitiven Gesellschaft an, sie gehört ins Wesen des Leben¬ digen, als organische Grundfunktion, sie ist eine Folge des eigentlichen Willens zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist.'") Gesetzt, dies sei als Theorie eine Neuerung — als Realität ist es das Urfaktum aller Geschichte. Wie hat bisher jede höhere Kultur auf Erden angefangen? Meuschen mit einer noch natürlichen Natur, Barbaren in jedem furchtbaren Verständnis des Wortes, Naubmenschen, noch im Besitz ungebrochner Willenskräfte und Macht- begierden, warfen sich auf schwächlichere, gesittetere, friedlichere, vielleicht handel¬ treibende oder viehzüchtende Nassen oder aus alte mürbe Kulturen, in denen eben die letzte Lebenskraft in glänzenden Feuerwerken von Geist und Verderbnis verflackerte. Die vornehme Kaste war im Anfang immer die Varbarenkaste. Ihr Übergewicht lag vorerst nicht in der physischen Kraft, sondern in der see¬ lischen: es waren die ,.ganzem Menschen," was auf jeder Stufe auch soviel mit bedeutet als die „ganzem Bestien." Aus dein Grunde (?) der vornehmen Rassen ist das Raubtier, die prachtvolle, nach Beute und Sieg lüstern schwei¬ fende blonde Bestie nicht zu verkennen. Es bedarf von Zeit zu Zeit der Ent¬ ladung, das Tier muß wieder heraus: römischer, arabischer, germanischer, jnpanesischer Adel, homerische Helden, skandinavische Wikinger, in diesem Be¬ dürfnis sind sie einander alle gleich. Gesetzt, es wäre wahr, was jetzt jeden¬ falls als Wahrheit geglaubt wird, daß es eben der Sinn aller Kultur sei, aus dem Raubtiere Mensch ein zahmes, zivilisirtes Tier, ein Haustier heran- *) An diesem ausschlaggebenden Punkte gesteht also Nietzsche selbst seine Abhängigkeit von Schopenhauer.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/38>, abgerufen am 23.07.2024.