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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die Philosophie vom Übermenschen

mit vulkanischer Gewalt schleudert er seine Gednnkenblöcke aus der Seele
heraus, und erhaben, überwältigend steigen seine Gedankenbilder auf. Aber es
ist eine Erhabenheit des Grauens, ein vulkanisches Schlackenfeld der schlimmsten
menschlichen Leidenschaften, aus das wir blicken.

Nietzsche ist der Prophet eines krassen Individualismus. Der Aus¬
gangspunkt seines Denkens ist das Ich, die Welt seiner subjektiven Empfin¬
dungen, Gedanken und Triebe, sie liefert ihm das Maß für die Beurteilung
der Welterscheinungen. "Gesetzt, sagt er, daß nichts andres als real "gegeben"
ist, als unsre Welt der Begierden und Leidenschaften, daß wir zu keiner an-
dern "Realität" hinab "der hinauf können, als gerade zur Realität unsrer
Triebe - denn Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zu einander --, ist
es nicht erlaubt, die Frage zu fragen, ob dies Gegebene nicht ausreicht, um
aus seinesgleichen auch die sogenannte materielle Welt zu verstehen?" Damit
wird die innere Erfahrung, die in Nietzsche selbst eine sehr starke Trübung
erlitten hatte und ihm natürlich infolgedessen ein sehr verworrenes Bild von
den innern und äußern Lebensprvzessen liefern mußte, als einzige Quelle
unsers Wissens und alleinige Offenbarung von "Realität" anerkannt. Wenn
er um diese innere Erfahrung sofort begrenzt auf "unsre Welt der Begierde"
und Leidenschaften," so leuchtet ein, daß sein Ausgangspunkt von vornherein
nicht der richtige ist. Denn unsre Begierden und Leidenschaften erschöpfen
den vollen Inhalt dieser innern Erfahrung keineswegs. Es fehlt nicht nur
die thatsächlich sich bewahrende Kraft der Seele, die die Leidenschaften und
Begierden zu beherrschen und zu regeln hat, der Wille, den er lediglich als
"herrschenden Trieb," als "Überlegcnheitsaffekt" faßt, dem die andern Affekte
gehorchen müssen, während die Erfahrung des innerlich gesunden Menschen
alle Affekte unter die -- freilich nicht immer wirksame -- Herrschaft des
Willens nimmt und jeder, der will, gerade insoweit nicht affizirt ist --
sondern es bleibt auch die gnuze innere Welt der objektiven Wahrnehmung, der
freien Vorstellung und des Denkens unberücksichtigt. Wenn dann das Denken,
der die Affekte beherrschende Trieb uur als "Verhalten dieser Triebe zu einander"
gefaßt wird, so ist auch das unrichtig; man muß vielmehr sagen, daß die
Triebe in uns unser Denken störend beeinflussen, und wir, wenn wir etwas
Rechtes denken wollen, vor alleu die Triebe in uns zum Schweigen bringen
müssen. Der Satz also, von dem Nietzsche ausgeht, daß unser ganzes Geistes¬
leben lediglich das Ergebnis der Affekte und ihres Verhaltens zu einander sei,
stimmt nicht mit der Erfahrung; er ist, wie schon Schellwieu nachgewiesen
hat, weil es unmöglich ist, Wollen und Denken als Wirkung der Affekte zu
beweisen, mindestens dogmatische Annahme. Dann aber muß auch der übrige
Aufbau auf diesem Satze als dogmatisch angesehen werden, insbesondre der
unter dem Namen "Wille zur Macht," "Instinkt der Freiheit" zum Lebens¬
prinzip erhobne Trieb.


Die Philosophie vom Übermenschen

mit vulkanischer Gewalt schleudert er seine Gednnkenblöcke aus der Seele
heraus, und erhaben, überwältigend steigen seine Gedankenbilder auf. Aber es
ist eine Erhabenheit des Grauens, ein vulkanisches Schlackenfeld der schlimmsten
menschlichen Leidenschaften, aus das wir blicken.

Nietzsche ist der Prophet eines krassen Individualismus. Der Aus¬
gangspunkt seines Denkens ist das Ich, die Welt seiner subjektiven Empfin¬
dungen, Gedanken und Triebe, sie liefert ihm das Maß für die Beurteilung
der Welterscheinungen. „Gesetzt, sagt er, daß nichts andres als real »gegeben«
ist, als unsre Welt der Begierden und Leidenschaften, daß wir zu keiner an-
dern »Realität« hinab »der hinauf können, als gerade zur Realität unsrer
Triebe - denn Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zu einander —, ist
es nicht erlaubt, die Frage zu fragen, ob dies Gegebene nicht ausreicht, um
aus seinesgleichen auch die sogenannte materielle Welt zu verstehen?" Damit
wird die innere Erfahrung, die in Nietzsche selbst eine sehr starke Trübung
erlitten hatte und ihm natürlich infolgedessen ein sehr verworrenes Bild von
den innern und äußern Lebensprvzessen liefern mußte, als einzige Quelle
unsers Wissens und alleinige Offenbarung von „Realität" anerkannt. Wenn
er um diese innere Erfahrung sofort begrenzt auf „unsre Welt der Begierde»
und Leidenschaften," so leuchtet ein, daß sein Ausgangspunkt von vornherein
nicht der richtige ist. Denn unsre Begierden und Leidenschaften erschöpfen
den vollen Inhalt dieser innern Erfahrung keineswegs. Es fehlt nicht nur
die thatsächlich sich bewahrende Kraft der Seele, die die Leidenschaften und
Begierden zu beherrschen und zu regeln hat, der Wille, den er lediglich als
„herrschenden Trieb," als „Überlegcnheitsaffekt" faßt, dem die andern Affekte
gehorchen müssen, während die Erfahrung des innerlich gesunden Menschen
alle Affekte unter die — freilich nicht immer wirksame — Herrschaft des
Willens nimmt und jeder, der will, gerade insoweit nicht affizirt ist —
sondern es bleibt auch die gnuze innere Welt der objektiven Wahrnehmung, der
freien Vorstellung und des Denkens unberücksichtigt. Wenn dann das Denken,
der die Affekte beherrschende Trieb uur als „Verhalten dieser Triebe zu einander"
gefaßt wird, so ist auch das unrichtig; man muß vielmehr sagen, daß die
Triebe in uns unser Denken störend beeinflussen, und wir, wenn wir etwas
Rechtes denken wollen, vor alleu die Triebe in uns zum Schweigen bringen
müssen. Der Satz also, von dem Nietzsche ausgeht, daß unser ganzes Geistes¬
leben lediglich das Ergebnis der Affekte und ihres Verhaltens zu einander sei,
stimmt nicht mit der Erfahrung; er ist, wie schon Schellwieu nachgewiesen
hat, weil es unmöglich ist, Wollen und Denken als Wirkung der Affekte zu
beweisen, mindestens dogmatische Annahme. Dann aber muß auch der übrige
Aufbau auf diesem Satze als dogmatisch angesehen werden, insbesondre der
unter dem Namen „Wille zur Macht," „Instinkt der Freiheit" zum Lebens¬
prinzip erhobne Trieb.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/37>, abgerufen am 22.12.2024.