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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Goethe und die Brüder Grimm

letzter" Besuches kurz nach dem Tode von Goethes Frau trat Goethe den
Brüdern und ihren Bestrebungen noch vertraulicher als vorher gegenüber.
"Von der altdeutschen Litteratur fing Goethe ausführlich zu reden an und billigte
die Art, wie die Grimm sie betrieben. Ihren Prosaübersetzungen zollte er
wieder seinen Beifall: sie wären mehr nach seinem Sinne, als Wilhelm viel¬
leicht glaube. Er setzte seine Ansichten darüber näher aus einander und fügte
ähnlich wie später zum Divan hinzu, es gebe auf dem Gebiete der Über¬
setzungen so verschiedne Parteien, die alle ihr Publikum hätten, daß man in
jeder ohne Gefahr arbeiten könne. In den Prosaübersetzuugen komme das
rein Menschliche ohne weitere Anmaßung am besten zu seinem Rechte. Beim
Abschied drückte er Wilhelm noch den Wunsch aus, seine und Jakobs Bücher,
an deuen er immer Anteil genommen Hütte, vollständig zu besitzen. Für den
Nachmittag trug er in sein Tagebuch ein: Bibliothekar Grimm mit Nachricht von
Arnims. Goethes deutsche Gesinnung enthüllte sich hier in ihrer ganzen Reinheit
und Stärke, ungestört von anmaßlicher Zudringlichkeit, wie er sich deren gar
oft erwehren mußte. Was Goethe zutraulich, gegen Wilhelm und seinen Bruder
machte, war ihr "akatholischer" ^Betrieb der ältern deutscher, Litteratur. Dieser
für den großen Zusammenhang der Dinge bestehende Einklang der Ansichten rief
natürlich auch im einzelnen Falle übereinstimmende Beurteilung hervor. Puukt
für Punkt war Grimm in der Lage, Goethes Äußerungen beizupflichten. Wie
sein Bruder hatte er immer die Empfindung gehabt, daß sich durch Adam
Müllers Schriften eine gewisse Lüge verbreite, indem er einen richtigen Punkt
auffinde, von diesem aber aus das Ganze überdecke, sodaß der Grundton und
das einfach Wahre verschwinde. Die Brüder Schlegel mochte Wilhelm noch
weniger als Jakob, der die anregende Kraft ihres Wirkens anzuerkennen eher
bereit war. Religiöse Unduldsamkeit aber fand in Grimms Herzen keine
Stätte. "Das, was alle Christen vereinigt, worin sie glückselig neben einander
vereinigt wandeln, was sie in diesem Sinn thun und vollbringen" das war
Wilhelm das Rechte; und Jakob bekannte einmal: "Die Proselytenmacherei ist
mir bis in den Tod verhaßt, sie ist der ärgste Diebstahl, den einer am andern
verüben kann." Die Brüder Grimm mußten Goethes Verhalten gegen sie wie
eine Kräftigung ihrer Position betrachten. Diese Auffassung herrschte auch in
ihrem Freundeskreise vor. Und doch wäre es ein Fehler gewesen, wenn sie
mehr von ihm erwartet hätten, als er gewähren konnte. An ein fachmännisches
Eingehen Goethes auf die Grimmschen Bücher war nicht zu denken." Gewiß
nicht, und Goethe wußte das selbst gut genug, wie der Schluß seines Briefes
an Jakob Grimm vom 30. August 1824 deutlich bezeugt: "Lassen Sie mich
von Zeit zu Zeit an Ihren Bemühungen teil nehmen, die ich, wenn gleich
nur aus einer gewissen Ferne, zu schützen weiß, auch in dem mir übersehbaren
Umfang wahrhaft zu bewundern die Freude habe."

Während es ganz natürlich erscheint, daß Goethe nicht als "Fachmann"


Goethe und die Brüder Grimm

letzter» Besuches kurz nach dem Tode von Goethes Frau trat Goethe den
Brüdern und ihren Bestrebungen noch vertraulicher als vorher gegenüber.
„Von der altdeutschen Litteratur fing Goethe ausführlich zu reden an und billigte
die Art, wie die Grimm sie betrieben. Ihren Prosaübersetzungen zollte er
wieder seinen Beifall: sie wären mehr nach seinem Sinne, als Wilhelm viel¬
leicht glaube. Er setzte seine Ansichten darüber näher aus einander und fügte
ähnlich wie später zum Divan hinzu, es gebe auf dem Gebiete der Über¬
setzungen so verschiedne Parteien, die alle ihr Publikum hätten, daß man in
jeder ohne Gefahr arbeiten könne. In den Prosaübersetzuugen komme das
rein Menschliche ohne weitere Anmaßung am besten zu seinem Rechte. Beim
Abschied drückte er Wilhelm noch den Wunsch aus, seine und Jakobs Bücher,
an deuen er immer Anteil genommen Hütte, vollständig zu besitzen. Für den
Nachmittag trug er in sein Tagebuch ein: Bibliothekar Grimm mit Nachricht von
Arnims. Goethes deutsche Gesinnung enthüllte sich hier in ihrer ganzen Reinheit
und Stärke, ungestört von anmaßlicher Zudringlichkeit, wie er sich deren gar
oft erwehren mußte. Was Goethe zutraulich, gegen Wilhelm und seinen Bruder
machte, war ihr »akatholischer« ^Betrieb der ältern deutscher, Litteratur. Dieser
für den großen Zusammenhang der Dinge bestehende Einklang der Ansichten rief
natürlich auch im einzelnen Falle übereinstimmende Beurteilung hervor. Puukt
für Punkt war Grimm in der Lage, Goethes Äußerungen beizupflichten. Wie
sein Bruder hatte er immer die Empfindung gehabt, daß sich durch Adam
Müllers Schriften eine gewisse Lüge verbreite, indem er einen richtigen Punkt
auffinde, von diesem aber aus das Ganze überdecke, sodaß der Grundton und
das einfach Wahre verschwinde. Die Brüder Schlegel mochte Wilhelm noch
weniger als Jakob, der die anregende Kraft ihres Wirkens anzuerkennen eher
bereit war. Religiöse Unduldsamkeit aber fand in Grimms Herzen keine
Stätte. »Das, was alle Christen vereinigt, worin sie glückselig neben einander
vereinigt wandeln, was sie in diesem Sinn thun und vollbringen« das war
Wilhelm das Rechte; und Jakob bekannte einmal: »Die Proselytenmacherei ist
mir bis in den Tod verhaßt, sie ist der ärgste Diebstahl, den einer am andern
verüben kann.« Die Brüder Grimm mußten Goethes Verhalten gegen sie wie
eine Kräftigung ihrer Position betrachten. Diese Auffassung herrschte auch in
ihrem Freundeskreise vor. Und doch wäre es ein Fehler gewesen, wenn sie
mehr von ihm erwartet hätten, als er gewähren konnte. An ein fachmännisches
Eingehen Goethes auf die Grimmschen Bücher war nicht zu denken." Gewiß
nicht, und Goethe wußte das selbst gut genug, wie der Schluß seines Briefes
an Jakob Grimm vom 30. August 1824 deutlich bezeugt: „Lassen Sie mich
von Zeit zu Zeit an Ihren Bemühungen teil nehmen, die ich, wenn gleich
nur aus einer gewissen Ferne, zu schützen weiß, auch in dem mir übersehbaren
Umfang wahrhaft zu bewundern die Freude habe."

Während es ganz natürlich erscheint, daß Goethe nicht als „Fachmann"


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[0371] Goethe und die Brüder Grimm letzter» Besuches kurz nach dem Tode von Goethes Frau trat Goethe den Brüdern und ihren Bestrebungen noch vertraulicher als vorher gegenüber. „Von der altdeutschen Litteratur fing Goethe ausführlich zu reden an und billigte die Art, wie die Grimm sie betrieben. Ihren Prosaübersetzungen zollte er wieder seinen Beifall: sie wären mehr nach seinem Sinne, als Wilhelm viel¬ leicht glaube. Er setzte seine Ansichten darüber näher aus einander und fügte ähnlich wie später zum Divan hinzu, es gebe auf dem Gebiete der Über¬ setzungen so verschiedne Parteien, die alle ihr Publikum hätten, daß man in jeder ohne Gefahr arbeiten könne. In den Prosaübersetzuugen komme das rein Menschliche ohne weitere Anmaßung am besten zu seinem Rechte. Beim Abschied drückte er Wilhelm noch den Wunsch aus, seine und Jakobs Bücher, an deuen er immer Anteil genommen Hütte, vollständig zu besitzen. Für den Nachmittag trug er in sein Tagebuch ein: Bibliothekar Grimm mit Nachricht von Arnims. Goethes deutsche Gesinnung enthüllte sich hier in ihrer ganzen Reinheit und Stärke, ungestört von anmaßlicher Zudringlichkeit, wie er sich deren gar oft erwehren mußte. Was Goethe zutraulich, gegen Wilhelm und seinen Bruder machte, war ihr »akatholischer« ^Betrieb der ältern deutscher, Litteratur. Dieser für den großen Zusammenhang der Dinge bestehende Einklang der Ansichten rief natürlich auch im einzelnen Falle übereinstimmende Beurteilung hervor. Puukt für Punkt war Grimm in der Lage, Goethes Äußerungen beizupflichten. Wie sein Bruder hatte er immer die Empfindung gehabt, daß sich durch Adam Müllers Schriften eine gewisse Lüge verbreite, indem er einen richtigen Punkt auffinde, von diesem aber aus das Ganze überdecke, sodaß der Grundton und das einfach Wahre verschwinde. Die Brüder Schlegel mochte Wilhelm noch weniger als Jakob, der die anregende Kraft ihres Wirkens anzuerkennen eher bereit war. Religiöse Unduldsamkeit aber fand in Grimms Herzen keine Stätte. »Das, was alle Christen vereinigt, worin sie glückselig neben einander vereinigt wandeln, was sie in diesem Sinn thun und vollbringen« das war Wilhelm das Rechte; und Jakob bekannte einmal: »Die Proselytenmacherei ist mir bis in den Tod verhaßt, sie ist der ärgste Diebstahl, den einer am andern verüben kann.« Die Brüder Grimm mußten Goethes Verhalten gegen sie wie eine Kräftigung ihrer Position betrachten. Diese Auffassung herrschte auch in ihrem Freundeskreise vor. Und doch wäre es ein Fehler gewesen, wenn sie mehr von ihm erwartet hätten, als er gewähren konnte. An ein fachmännisches Eingehen Goethes auf die Grimmschen Bücher war nicht zu denken." Gewiß nicht, und Goethe wußte das selbst gut genug, wie der Schluß seines Briefes an Jakob Grimm vom 30. August 1824 deutlich bezeugt: „Lassen Sie mich von Zeit zu Zeit an Ihren Bemühungen teil nehmen, die ich, wenn gleich nur aus einer gewissen Ferne, zu schützen weiß, auch in dem mir übersehbaren Umfang wahrhaft zu bewundern die Freude habe." Während es ganz natürlich erscheint, daß Goethe nicht als „Fachmann"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/371>, abgerufen am 22.12.2024.