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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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mir nicht verständlich, noch erfreulich, besonders, da er mit seiner Ruhe Mi߬
verständnisse, die wohl andre befangen können, leichter zu ebnen und zu über¬
schauen imstande ist. Daß er viele herrliche Sachen nicht anerkennt oder nicht
genug und seine Herrlichkeiten darüber setzt, heißt nichts anders, als das Ge¬
wöhnliche, daß kein Mensch alles zusammen begreifen und lieben kann. Schützt
er also meiner Meinung nach die altdeutsche Poesie, die deutsche Geschichte zu
wenig, so betrübt mich das insofern gar nicht, als es meine andre Überzeugung
davon nicht widerlegt; ja ich fühle, daß ich die römischen Paften und antiken
Monumente ebenfalls viel höher achten würde, wenn ich sie genauer studirte,
denn in allein einzelnen ist Liebe und Segen möglich, allein nicht in allem
zusammen genommen, wo er sich zerstreuen würde."

Wie abweichend sich zu dieser warmen Pietät und dieser männlichen
Selbstbescheidung die Polyphemgesinuung des Tages verhält -- nichts ja
fragt ein Khklop nach dem ägisbegabten Kronion, nichts nach den seligen
Götter,,, da stärker um vieles wir selbst sind --, gewahrt der aufmerksame Leser
des Steigschen Buches von Seite zu Seite. Nicht nur im Privatleben und
in ihren vertrauten Briefen bekannten sich beide Grimm zu Goethe, auch
öffentlich gaben sie ihrer innersten Überzeugung Ausdruck, und als Wilhelm
Grimm 1812 das Buch "Die schöne Litteratur Deutschlands im achtzehnten
Jahrhundert" vou dem Berliner Franz Horn in den Heidelberger Jahrbüchern
besprach, ein Buch, worin schon damals die Banansenfabel von der unfreien,
knechtischen Verehrung Goethes, noch dazu im weinerlichsten Tone vorgetragen
wurde, schrieb er die schönen Worte: "Der Enthusiasmus eines Volks, seine
Liebe zu einem großen Dichter ist das Herrlichste, was wir erblicken können,
knechtische Gesinnung entsteht durch Strenge tyrannische Herrschaft, wer aber
ist milder und anerkennender gegen jegliches Talent als Goethe? Alle Par-
teiung hat sich in ihm vereinigt, und alle haben vor diesem Stern mit Ehr¬
furcht sich geneigt. Nur bei denen haben wir blinde Anhänger und eine er¬
tötende Einseitigkeit bemerkt, die nichts außer sich achten und jedes eigne
Bestreben niederdrücken wollten. Der Enthusiasmus aber hat niemals Unrecht."

War aber auch der Enthusiasmus der Brüder Grimm für Goethe ein
gemeinsamer, so stand doch Wilhelm Grimm dem Dichter innerlich näher als
Jakob. "Denn Wilhelm wollte die ältern Stoffe in die Gegenwart einführen
und mußte daher ihre Form verändern; Jakob aber wollte die Gegenwart zu
den ältern Stoffen hinführen und mußte daher ihre Formen ungemildert
lassen. Jenes Verfahren erheischt vorwiegend ein poetisch produktives Talent;
dieses vorwiegend ein wissenschaftlich receptives." Diesem geistigen Verhältnis
entsprechend, trat Wilhelm Grimm auch zu Goethe in häufigere äußerliche
Beziehungen. Seine Begegnungen mit Goethe in Weimar (1809), Frankfurt
und Heidelberg (1815), Weimar (1810) sind natürlich in dem Buche mit aller
Ausführlichkeit geschildert, die die Quellen gestatten. Bei Gelegenheit des


mir nicht verständlich, noch erfreulich, besonders, da er mit seiner Ruhe Mi߬
verständnisse, die wohl andre befangen können, leichter zu ebnen und zu über¬
schauen imstande ist. Daß er viele herrliche Sachen nicht anerkennt oder nicht
genug und seine Herrlichkeiten darüber setzt, heißt nichts anders, als das Ge¬
wöhnliche, daß kein Mensch alles zusammen begreifen und lieben kann. Schützt
er also meiner Meinung nach die altdeutsche Poesie, die deutsche Geschichte zu
wenig, so betrübt mich das insofern gar nicht, als es meine andre Überzeugung
davon nicht widerlegt; ja ich fühle, daß ich die römischen Paften und antiken
Monumente ebenfalls viel höher achten würde, wenn ich sie genauer studirte,
denn in allein einzelnen ist Liebe und Segen möglich, allein nicht in allem
zusammen genommen, wo er sich zerstreuen würde."

Wie abweichend sich zu dieser warmen Pietät und dieser männlichen
Selbstbescheidung die Polyphemgesinuung des Tages verhält — nichts ja
fragt ein Khklop nach dem ägisbegabten Kronion, nichts nach den seligen
Götter,,, da stärker um vieles wir selbst sind —, gewahrt der aufmerksame Leser
des Steigschen Buches von Seite zu Seite. Nicht nur im Privatleben und
in ihren vertrauten Briefen bekannten sich beide Grimm zu Goethe, auch
öffentlich gaben sie ihrer innersten Überzeugung Ausdruck, und als Wilhelm
Grimm 1812 das Buch „Die schöne Litteratur Deutschlands im achtzehnten
Jahrhundert" vou dem Berliner Franz Horn in den Heidelberger Jahrbüchern
besprach, ein Buch, worin schon damals die Banansenfabel von der unfreien,
knechtischen Verehrung Goethes, noch dazu im weinerlichsten Tone vorgetragen
wurde, schrieb er die schönen Worte: „Der Enthusiasmus eines Volks, seine
Liebe zu einem großen Dichter ist das Herrlichste, was wir erblicken können,
knechtische Gesinnung entsteht durch Strenge tyrannische Herrschaft, wer aber
ist milder und anerkennender gegen jegliches Talent als Goethe? Alle Par-
teiung hat sich in ihm vereinigt, und alle haben vor diesem Stern mit Ehr¬
furcht sich geneigt. Nur bei denen haben wir blinde Anhänger und eine er¬
tötende Einseitigkeit bemerkt, die nichts außer sich achten und jedes eigne
Bestreben niederdrücken wollten. Der Enthusiasmus aber hat niemals Unrecht."

War aber auch der Enthusiasmus der Brüder Grimm für Goethe ein
gemeinsamer, so stand doch Wilhelm Grimm dem Dichter innerlich näher als
Jakob. „Denn Wilhelm wollte die ältern Stoffe in die Gegenwart einführen
und mußte daher ihre Form verändern; Jakob aber wollte die Gegenwart zu
den ältern Stoffen hinführen und mußte daher ihre Formen ungemildert
lassen. Jenes Verfahren erheischt vorwiegend ein poetisch produktives Talent;
dieses vorwiegend ein wissenschaftlich receptives." Diesem geistigen Verhältnis
entsprechend, trat Wilhelm Grimm auch zu Goethe in häufigere äußerliche
Beziehungen. Seine Begegnungen mit Goethe in Weimar (1809), Frankfurt
und Heidelberg (1815), Weimar (1810) sind natürlich in dem Buche mit aller
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/370>, abgerufen am 22.12.2024.