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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die Fehler der nationalliberalen Partei

Schmach des Jahrhunderts, und Führer der nationalliberalen Partei setzen ihre
Namen unter Aufrufe zur Abwehr des Antisemitismus, anstatt daß man, was
doch bei ihrer unbestreitbar nicht philvsemitischen Gesinnung mindestens ge¬
fordert werden könnte, wenigstens neutral bliebe und die Verteidigung des
Judentums den Juden selbst überließe, denen es ja dazu weder an geistigen
Waffen noch an Geld fehlt. Dadurch, daß die Führer der Partei an die
Spitze der ganz überflüssigen "arti-antisemitischen" Bewegung treten, ent¬
fremden sie sich dem Volke vollkommen. Die Folge wird denn auch nicht
ausbleiben. Schon jetzt kam? man mit ziemlicher Gewißheit voraussagen, daß
in dem ehemaligen Kurhessen, namentlich so weit Buckels Einfluß in Marburg
reicht, und nicht minder in Hessen-Darmstadt der Antisemitismus den National-
liberalen bei deu nächsten Reichstagswahlen ernstlich zu schaffen machen, ja
vielleicht sie gar aus den Mandaten verdrängen wird. Dies würde nicht ge¬
schehen, wenn die Nationalliberalen der antisemitischen Vewegnng gegenüber
eine neutrale Haltung bewahrten, wenn sie sich ferner nicht scheuten, der Wahr¬
heit die Ehre zu geben und die wirtschaftlichen Schädigungen, die durch bäuer¬
lichen Wucher (Viehleihe u. s. w.) hervorgerufen werden, zuzugestehen, und sich
ernsthaft an der Arbeit beteiligten, durch Gründung bäuerlicher Kreditkasscn
(natürlich nach Raiffeisen) das Landvolk von den blutsaugerischen Elementen
zu befreien. Sie hätten da ein schönes Vorbild in der eignen Partei: der
nationallibernle Landrat und Abgeordnete I)r. Knebel in Merzig bei Trier hat,
ohne irgendwie mit antisemitischen Schlngworten um sich zu werfen, durch
stille und stetige Arbeit im Verein mit gleichgesinnten Männern seinen Kreis
und die nächste Nachbarschaft von den Viehwucherern und den Wucherern
überhaupt vollkommen befreit. Sicherlich ist es durchaus löblich, daß man
die verfassungsmäßige!! Einrichtungen hochhält, und wir wollen den National-
liberalen in keiner Weise zureden, die staatsrechtliche Stellung der Juden an¬
zugreifen, aber die Zaghaftigkeit, die darin liegt, daß man Schäden, die man
im stillen als vorhanden anerkennt, öffentlich ableugnet und die, die auf sie
hinweisen, bekämpft, wird sich bitter rächen. Leider ist nur wenig Aussicht
vorhanden, daß sich in dieser Beziehung bald eine Besserung zeigen wird, denn
ihre wohl kaum mehr zu vermeidende Annäherung an die Freisinnigen wird
die Nationalliberalen mehr oder minder auch unter den Einfluß der Richterschen
Schlagwörter und in den Bann ihres erheuchelten Philosemitismus bringen.
Doch ist das nur von den eigentlichen "Politikern" anzunehmen, der Wähler
wird sich dadurch nicht ins Bockshorn jagen lassen, sondern sich einfach nach
einer Partei umsehen, die seine Ansichten besser und thatkräftiger vertritt.

Vergeblich ist es beklagt worden, daß die nationalliberale Partei trotz
der Heidelberger Erklärung, mit der sie die Schutzzollpolitik des Fürsten Bis-
marck anerkannte, in wirtschaftlicher Beziehung ihre schwankende Haltung nicht
aufgegeben hat. Es ist zwar richtig, daß sich an der Heidelberger Erklärung


Die Fehler der nationalliberalen Partei

Schmach des Jahrhunderts, und Führer der nationalliberalen Partei setzen ihre
Namen unter Aufrufe zur Abwehr des Antisemitismus, anstatt daß man, was
doch bei ihrer unbestreitbar nicht philvsemitischen Gesinnung mindestens ge¬
fordert werden könnte, wenigstens neutral bliebe und die Verteidigung des
Judentums den Juden selbst überließe, denen es ja dazu weder an geistigen
Waffen noch an Geld fehlt. Dadurch, daß die Führer der Partei an die
Spitze der ganz überflüssigen „arti-antisemitischen" Bewegung treten, ent¬
fremden sie sich dem Volke vollkommen. Die Folge wird denn auch nicht
ausbleiben. Schon jetzt kam? man mit ziemlicher Gewißheit voraussagen, daß
in dem ehemaligen Kurhessen, namentlich so weit Buckels Einfluß in Marburg
reicht, und nicht minder in Hessen-Darmstadt der Antisemitismus den National-
liberalen bei deu nächsten Reichstagswahlen ernstlich zu schaffen machen, ja
vielleicht sie gar aus den Mandaten verdrängen wird. Dies würde nicht ge¬
schehen, wenn die Nationalliberalen der antisemitischen Vewegnng gegenüber
eine neutrale Haltung bewahrten, wenn sie sich ferner nicht scheuten, der Wahr¬
heit die Ehre zu geben und die wirtschaftlichen Schädigungen, die durch bäuer¬
lichen Wucher (Viehleihe u. s. w.) hervorgerufen werden, zuzugestehen, und sich
ernsthaft an der Arbeit beteiligten, durch Gründung bäuerlicher Kreditkasscn
(natürlich nach Raiffeisen) das Landvolk von den blutsaugerischen Elementen
zu befreien. Sie hätten da ein schönes Vorbild in der eignen Partei: der
nationallibernle Landrat und Abgeordnete I)r. Knebel in Merzig bei Trier hat,
ohne irgendwie mit antisemitischen Schlngworten um sich zu werfen, durch
stille und stetige Arbeit im Verein mit gleichgesinnten Männern seinen Kreis
und die nächste Nachbarschaft von den Viehwucherern und den Wucherern
überhaupt vollkommen befreit. Sicherlich ist es durchaus löblich, daß man
die verfassungsmäßige!! Einrichtungen hochhält, und wir wollen den National-
liberalen in keiner Weise zureden, die staatsrechtliche Stellung der Juden an¬
zugreifen, aber die Zaghaftigkeit, die darin liegt, daß man Schäden, die man
im stillen als vorhanden anerkennt, öffentlich ableugnet und die, die auf sie
hinweisen, bekämpft, wird sich bitter rächen. Leider ist nur wenig Aussicht
vorhanden, daß sich in dieser Beziehung bald eine Besserung zeigen wird, denn
ihre wohl kaum mehr zu vermeidende Annäherung an die Freisinnigen wird
die Nationalliberalen mehr oder minder auch unter den Einfluß der Richterschen
Schlagwörter und in den Bann ihres erheuchelten Philosemitismus bringen.
Doch ist das nur von den eigentlichen „Politikern" anzunehmen, der Wähler
wird sich dadurch nicht ins Bockshorn jagen lassen, sondern sich einfach nach
einer Partei umsehen, die seine Ansichten besser und thatkräftiger vertritt.

Vergeblich ist es beklagt worden, daß die nationalliberale Partei trotz
der Heidelberger Erklärung, mit der sie die Schutzzollpolitik des Fürsten Bis-
marck anerkannte, in wirtschaftlicher Beziehung ihre schwankende Haltung nicht
aufgegeben hat. Es ist zwar richtig, daß sich an der Heidelberger Erklärung


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[0354] Die Fehler der nationalliberalen Partei Schmach des Jahrhunderts, und Führer der nationalliberalen Partei setzen ihre Namen unter Aufrufe zur Abwehr des Antisemitismus, anstatt daß man, was doch bei ihrer unbestreitbar nicht philvsemitischen Gesinnung mindestens ge¬ fordert werden könnte, wenigstens neutral bliebe und die Verteidigung des Judentums den Juden selbst überließe, denen es ja dazu weder an geistigen Waffen noch an Geld fehlt. Dadurch, daß die Führer der Partei an die Spitze der ganz überflüssigen „arti-antisemitischen" Bewegung treten, ent¬ fremden sie sich dem Volke vollkommen. Die Folge wird denn auch nicht ausbleiben. Schon jetzt kam? man mit ziemlicher Gewißheit voraussagen, daß in dem ehemaligen Kurhessen, namentlich so weit Buckels Einfluß in Marburg reicht, und nicht minder in Hessen-Darmstadt der Antisemitismus den National- liberalen bei deu nächsten Reichstagswahlen ernstlich zu schaffen machen, ja vielleicht sie gar aus den Mandaten verdrängen wird. Dies würde nicht ge¬ schehen, wenn die Nationalliberalen der antisemitischen Vewegnng gegenüber eine neutrale Haltung bewahrten, wenn sie sich ferner nicht scheuten, der Wahr¬ heit die Ehre zu geben und die wirtschaftlichen Schädigungen, die durch bäuer¬ lichen Wucher (Viehleihe u. s. w.) hervorgerufen werden, zuzugestehen, und sich ernsthaft an der Arbeit beteiligten, durch Gründung bäuerlicher Kreditkasscn (natürlich nach Raiffeisen) das Landvolk von den blutsaugerischen Elementen zu befreien. Sie hätten da ein schönes Vorbild in der eignen Partei: der nationallibernle Landrat und Abgeordnete I)r. Knebel in Merzig bei Trier hat, ohne irgendwie mit antisemitischen Schlngworten um sich zu werfen, durch stille und stetige Arbeit im Verein mit gleichgesinnten Männern seinen Kreis und die nächste Nachbarschaft von den Viehwucherern und den Wucherern überhaupt vollkommen befreit. Sicherlich ist es durchaus löblich, daß man die verfassungsmäßige!! Einrichtungen hochhält, und wir wollen den National- liberalen in keiner Weise zureden, die staatsrechtliche Stellung der Juden an¬ zugreifen, aber die Zaghaftigkeit, die darin liegt, daß man Schäden, die man im stillen als vorhanden anerkennt, öffentlich ableugnet und die, die auf sie hinweisen, bekämpft, wird sich bitter rächen. Leider ist nur wenig Aussicht vorhanden, daß sich in dieser Beziehung bald eine Besserung zeigen wird, denn ihre wohl kaum mehr zu vermeidende Annäherung an die Freisinnigen wird die Nationalliberalen mehr oder minder auch unter den Einfluß der Richterschen Schlagwörter und in den Bann ihres erheuchelten Philosemitismus bringen. Doch ist das nur von den eigentlichen „Politikern" anzunehmen, der Wähler wird sich dadurch nicht ins Bockshorn jagen lassen, sondern sich einfach nach einer Partei umsehen, die seine Ansichten besser und thatkräftiger vertritt. Vergeblich ist es beklagt worden, daß die nationalliberale Partei trotz der Heidelberger Erklärung, mit der sie die Schutzzollpolitik des Fürsten Bis- marck anerkannte, in wirtschaftlicher Beziehung ihre schwankende Haltung nicht aufgegeben hat. Es ist zwar richtig, daß sich an der Heidelberger Erklärung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/354>, abgerufen am 03.07.2024.