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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die Verunstaltung deutscher Lieder

Nun höre man, was für eine "Vorbereitung" der Lehrer seinen Schülern zu
den elend zugerichteten Strophen (denn anders wird man das Ganze füglich
nicht mehr nennen können) geben soll: "Eine arme Waise (Mädchen oder
Knabe, je nach der Schule) zog mit ihrem Stiefvater (!) weit fort von der
Heimat in ein fernes Land. Bruder und Schwester (!) aber blieben daheim.
Obgleich es ihr erträglich ging, fühlte sie sich hier doch ganz verlassen und
fremd. Es verstrich Jahr um Jahr, und wenn der Winter kam, tröstete sie
ihr Stiefvater, daß sie zum nächsten Sommer in die Heimat zurückkehren
würden, was jedoch niemals in Erfüllung ging. So waren bereits zehn (!)
Jahre vergangen und die Waise zur Jungfrau (zum Jüngling) herangereift,
da erfaßte sie ein heftiges Sehnen nach der Heimat, das Heimweh. An einem
wonnigen Sommerabend saß sie allein vor der Laube ihres Gartens und sang
folgendes Lied." Anerkennung verdient nur die Höflichkeit, mit der dem weib¬
lichen Geschlechte der Vortritt vor dem männlichen gelassen wird. Dagegen
ist der Stiefvater eine Klügelei, deren Pedanterie nicht einmal mehr humoristisch
zu wirken vermag. Derselben Pedanterie entspricht dann in der "Vermittlung"
die Vorschrift, daß der Lehrer zwar auf der Unterstufe und Mittelstufe an der
Thatsache der ersten Strophe nicht herumdeuteln solle, daß er aber in der
Oberklasse "anstatt Vogel eine Taube interpretiren möge, da durch Tauben
ja wirklich Briefe befördert werden." Dieser Einfall wird nur noch durch die
zum Schluß folgende poetische Deutung übertroffen: "Ein Vöglein, vielleicht
eine Nachtigall, kam zur Laube, setzte sich dicht zu Füßen der Waise und
sang ihr Lied genau so, wie es die Waise in der Heimat gehört hatte. Da
wars ihr, als ob Bruder und Schwester (Brief) Botschaft, Nachricht und
Gruß ihr gesandt hätten."

Zu solche" sich steigernden Albernheiten, die der Lehrer dann gegen seine
bessere Überzeugung dem gesunden Hirn des Knaben (oder Mädchens!) be¬
greiflich machen soll, sührt das ^^cZrv,^ </>e56os, die Tilgung des Schatzes und
die Verunstaltung des zarten Liebesliedchens in ein Lied ganz gewöhnlichen
Schlags. Warum muß denn aber das Kind schon in den untern Klassen auf
Kosten der Poesie mit einem vielgesungnen Liede überhaupt bekannt gemacht
werden, wenn es später erkennt, daß der ganze, ihm mit lächerlich verschrobnen
Erklärungen eingeprägte Text eitel Trug und Dunst war? Die Schule soll
auch zur Wahrheit erziehen, und jene zurechtschneidernden oder verkürzenden
Pädagogen begehen mindestens eine grobe Täuschung an der Jugend (ganz
abgesehen von ihren Sünden gegen den heiligen Geist der Dichtung), wenn
sie gerade das Anmutigste und Schönste in usum vglxliini Herrichten wollen!

Dieser Vorwurf trifft das folgende Beispiel freilich nur bedingungsweise,
weil das Original in ihm fast bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt ist. Aber
ersparen kann man auch ihm den Vorwurf nicht. Ich gebe zunächst das
Original nach "Des Knaben Wunderhorn" (Boxberger I, 141 f.):


Die Verunstaltung deutscher Lieder

Nun höre man, was für eine „Vorbereitung" der Lehrer seinen Schülern zu
den elend zugerichteten Strophen (denn anders wird man das Ganze füglich
nicht mehr nennen können) geben soll: „Eine arme Waise (Mädchen oder
Knabe, je nach der Schule) zog mit ihrem Stiefvater (!) weit fort von der
Heimat in ein fernes Land. Bruder und Schwester (!) aber blieben daheim.
Obgleich es ihr erträglich ging, fühlte sie sich hier doch ganz verlassen und
fremd. Es verstrich Jahr um Jahr, und wenn der Winter kam, tröstete sie
ihr Stiefvater, daß sie zum nächsten Sommer in die Heimat zurückkehren
würden, was jedoch niemals in Erfüllung ging. So waren bereits zehn (!)
Jahre vergangen und die Waise zur Jungfrau (zum Jüngling) herangereift,
da erfaßte sie ein heftiges Sehnen nach der Heimat, das Heimweh. An einem
wonnigen Sommerabend saß sie allein vor der Laube ihres Gartens und sang
folgendes Lied." Anerkennung verdient nur die Höflichkeit, mit der dem weib¬
lichen Geschlechte der Vortritt vor dem männlichen gelassen wird. Dagegen
ist der Stiefvater eine Klügelei, deren Pedanterie nicht einmal mehr humoristisch
zu wirken vermag. Derselben Pedanterie entspricht dann in der „Vermittlung"
die Vorschrift, daß der Lehrer zwar auf der Unterstufe und Mittelstufe an der
Thatsache der ersten Strophe nicht herumdeuteln solle, daß er aber in der
Oberklasse „anstatt Vogel eine Taube interpretiren möge, da durch Tauben
ja wirklich Briefe befördert werden." Dieser Einfall wird nur noch durch die
zum Schluß folgende poetische Deutung übertroffen: „Ein Vöglein, vielleicht
eine Nachtigall, kam zur Laube, setzte sich dicht zu Füßen der Waise und
sang ihr Lied genau so, wie es die Waise in der Heimat gehört hatte. Da
wars ihr, als ob Bruder und Schwester (Brief) Botschaft, Nachricht und
Gruß ihr gesandt hätten."

Zu solche» sich steigernden Albernheiten, die der Lehrer dann gegen seine
bessere Überzeugung dem gesunden Hirn des Knaben (oder Mädchens!) be¬
greiflich machen soll, sührt das ^^cZrv,^ </>e56os, die Tilgung des Schatzes und
die Verunstaltung des zarten Liebesliedchens in ein Lied ganz gewöhnlichen
Schlags. Warum muß denn aber das Kind schon in den untern Klassen auf
Kosten der Poesie mit einem vielgesungnen Liede überhaupt bekannt gemacht
werden, wenn es später erkennt, daß der ganze, ihm mit lächerlich verschrobnen
Erklärungen eingeprägte Text eitel Trug und Dunst war? Die Schule soll
auch zur Wahrheit erziehen, und jene zurechtschneidernden oder verkürzenden
Pädagogen begehen mindestens eine grobe Täuschung an der Jugend (ganz
abgesehen von ihren Sünden gegen den heiligen Geist der Dichtung), wenn
sie gerade das Anmutigste und Schönste in usum vglxliini Herrichten wollen!

Dieser Vorwurf trifft das folgende Beispiel freilich nur bedingungsweise,
weil das Original in ihm fast bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt ist. Aber
ersparen kann man auch ihm den Vorwurf nicht. Ich gebe zunächst das
Original nach „Des Knaben Wunderhorn" (Boxberger I, 141 f.):


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[0326] Die Verunstaltung deutscher Lieder Nun höre man, was für eine „Vorbereitung" der Lehrer seinen Schülern zu den elend zugerichteten Strophen (denn anders wird man das Ganze füglich nicht mehr nennen können) geben soll: „Eine arme Waise (Mädchen oder Knabe, je nach der Schule) zog mit ihrem Stiefvater (!) weit fort von der Heimat in ein fernes Land. Bruder und Schwester (!) aber blieben daheim. Obgleich es ihr erträglich ging, fühlte sie sich hier doch ganz verlassen und fremd. Es verstrich Jahr um Jahr, und wenn der Winter kam, tröstete sie ihr Stiefvater, daß sie zum nächsten Sommer in die Heimat zurückkehren würden, was jedoch niemals in Erfüllung ging. So waren bereits zehn (!) Jahre vergangen und die Waise zur Jungfrau (zum Jüngling) herangereift, da erfaßte sie ein heftiges Sehnen nach der Heimat, das Heimweh. An einem wonnigen Sommerabend saß sie allein vor der Laube ihres Gartens und sang folgendes Lied." Anerkennung verdient nur die Höflichkeit, mit der dem weib¬ lichen Geschlechte der Vortritt vor dem männlichen gelassen wird. Dagegen ist der Stiefvater eine Klügelei, deren Pedanterie nicht einmal mehr humoristisch zu wirken vermag. Derselben Pedanterie entspricht dann in der „Vermittlung" die Vorschrift, daß der Lehrer zwar auf der Unterstufe und Mittelstufe an der Thatsache der ersten Strophe nicht herumdeuteln solle, daß er aber in der Oberklasse „anstatt Vogel eine Taube interpretiren möge, da durch Tauben ja wirklich Briefe befördert werden." Dieser Einfall wird nur noch durch die zum Schluß folgende poetische Deutung übertroffen: „Ein Vöglein, vielleicht eine Nachtigall, kam zur Laube, setzte sich dicht zu Füßen der Waise und sang ihr Lied genau so, wie es die Waise in der Heimat gehört hatte. Da wars ihr, als ob Bruder und Schwester (Brief) Botschaft, Nachricht und Gruß ihr gesandt hätten." Zu solche» sich steigernden Albernheiten, die der Lehrer dann gegen seine bessere Überzeugung dem gesunden Hirn des Knaben (oder Mädchens!) be¬ greiflich machen soll, sührt das ^^cZrv,^ </>e56os, die Tilgung des Schatzes und die Verunstaltung des zarten Liebesliedchens in ein Lied ganz gewöhnlichen Schlags. Warum muß denn aber das Kind schon in den untern Klassen auf Kosten der Poesie mit einem vielgesungnen Liede überhaupt bekannt gemacht werden, wenn es später erkennt, daß der ganze, ihm mit lächerlich verschrobnen Erklärungen eingeprägte Text eitel Trug und Dunst war? Die Schule soll auch zur Wahrheit erziehen, und jene zurechtschneidernden oder verkürzenden Pädagogen begehen mindestens eine grobe Täuschung an der Jugend (ganz abgesehen von ihren Sünden gegen den heiligen Geist der Dichtung), wenn sie gerade das Anmutigste und Schönste in usum vglxliini Herrichten wollen! Dieser Vorwurf trifft das folgende Beispiel freilich nur bedingungsweise, weil das Original in ihm fast bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt ist. Aber ersparen kann man auch ihm den Vorwurf nicht. Ich gebe zunächst das Original nach „Des Knaben Wunderhorn" (Boxberger I, 141 f.):

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/326>, abgerufen am 22.12.2024.