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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die antike Kunst und die Schule

Beschreibung des Laokoon, eine schlichte Beschreibung, ohne jede kunstgeschicht¬
liche, ästhetische oder mythologische Beimengung. Wir lächelten anfangs über
das Thema, das für Primaner doch kaum noch geeignet schien. Eine einfache
Beschreibung! Hatten wir nicht Lessings Laokoon gelesen und schon manchen
gehaltoollern, wie wir glaubten, und tiefsinnigern Aufsatz geschrieben? Aber
als wir nnn mit der einfachen Beschreibung Ernst machen mußten, standen
wir geradezu hilflos vor der Laokoongruppe im Museum und wußten nicht,
wo anfangen. Beim Vater, bei den Söhnen, bei den Schlangen oder beim
Altar? Und wenn beim Vater, wie einige wollten -- in unsrer Verlegenheit
hielten wir schließlich förmliche Beratungen -- sollte man dann mit dein
Kopfe beginnen oder womit sonst? Das Ergebnis war kläglich. Nur wenige
hatten etwas befriedigendes gebracht, darunter zu aller Überraschung einer,
den wir bisher nur als tüchtigen Mathematiker und witzigen Zeichmr von
Bildern für unsre Kneipzeitung gekannt hatten. Ähnlich wie in der Schule,
steht es aber bei den meisten Erwachsenen. Man bitte einmal den oder jenen,
ein Denkmal, an dem er vielleicht zwei- bis dreimal täglich vorbeigeht, zu
schildern. Wie wenige werden eine wirklich lebendige Anschauung davon haben!
Wir sehen, und sehen dabei doch nicht. Das Geschaute haftet nicht als Bild
in unsrer Seele. Wie es ein flüchtiges Lesen giebt, so auch ein flüchtiges
und gedankenloses Sehen, und wie der, der sich in seiner Jugend flüchtig zu
lesen gewöhnt hat, später nur bei großer Selbstbeherrschung davon zurück¬
kommt, so braucht es auch Zwang und Übung, um von einem gedankenlosen
Sehen wieder zu lebendiger Anschauung vorzudringen.

Die geschwnndne Anschauungskraft muß die Schule neu beleben, und sie
wird es können, wenn sie uns einen bessern Zeichenunterricht giebt und den
Blick des Schülers durch die Betrachtung von Kunstwerken schärft. Von den
Schöpfungen der neuern Kunst muß dabei mit wenigen Ausnahmen abgesehen
werden. Sie sind zu unruhig und nicht genügend abgeklärt, es wogt und
wallt noch alles in ihnen, Erzeugnissen einer nervösen Zeit, Nachahmungen
schönerer Vorbilder. Aus diese Vorbilder muß auch die Schule zurückgehn.
Die griechische Kunst hat wie aus einem innersten Triebe heraus nach dem
höchsten gestrebt, sie hat die Gesetze der Kunst klar erfaßt und in ihren Werken
deutlich niedergelegt. Die Anlage des griechischen Tempels ist bei aller
Mannichfaltigkeit einfach, durchsichtig im Grundriß und vom schönsten Eben¬
maß im Aufbau, recht als wüchse im Wechsel des tragenden und des ge¬
tragnen ein Bauglied aus dem andern hervor, und als könnte es gar nicht
anders sein. Die Schöpfungen der Blütezeit der griechischen Plastik machen
den gleichen Eindruck des ungekünstelten und der künstlerischen Vollendung,
sie sind in Nachahmung der Natur vom reinsten Idealismus empfangen und
über die Natur hinaus zur edelsten Schönheit gesteigert, mögen sie nun die
Erscheinung eines Gottes oder die körperliche Vollkommenheit des Menschen


Die antike Kunst und die Schule

Beschreibung des Laokoon, eine schlichte Beschreibung, ohne jede kunstgeschicht¬
liche, ästhetische oder mythologische Beimengung. Wir lächelten anfangs über
das Thema, das für Primaner doch kaum noch geeignet schien. Eine einfache
Beschreibung! Hatten wir nicht Lessings Laokoon gelesen und schon manchen
gehaltoollern, wie wir glaubten, und tiefsinnigern Aufsatz geschrieben? Aber
als wir nnn mit der einfachen Beschreibung Ernst machen mußten, standen
wir geradezu hilflos vor der Laokoongruppe im Museum und wußten nicht,
wo anfangen. Beim Vater, bei den Söhnen, bei den Schlangen oder beim
Altar? Und wenn beim Vater, wie einige wollten — in unsrer Verlegenheit
hielten wir schließlich förmliche Beratungen — sollte man dann mit dein
Kopfe beginnen oder womit sonst? Das Ergebnis war kläglich. Nur wenige
hatten etwas befriedigendes gebracht, darunter zu aller Überraschung einer,
den wir bisher nur als tüchtigen Mathematiker und witzigen Zeichmr von
Bildern für unsre Kneipzeitung gekannt hatten. Ähnlich wie in der Schule,
steht es aber bei den meisten Erwachsenen. Man bitte einmal den oder jenen,
ein Denkmal, an dem er vielleicht zwei- bis dreimal täglich vorbeigeht, zu
schildern. Wie wenige werden eine wirklich lebendige Anschauung davon haben!
Wir sehen, und sehen dabei doch nicht. Das Geschaute haftet nicht als Bild
in unsrer Seele. Wie es ein flüchtiges Lesen giebt, so auch ein flüchtiges
und gedankenloses Sehen, und wie der, der sich in seiner Jugend flüchtig zu
lesen gewöhnt hat, später nur bei großer Selbstbeherrschung davon zurück¬
kommt, so braucht es auch Zwang und Übung, um von einem gedankenlosen
Sehen wieder zu lebendiger Anschauung vorzudringen.

Die geschwnndne Anschauungskraft muß die Schule neu beleben, und sie
wird es können, wenn sie uns einen bessern Zeichenunterricht giebt und den
Blick des Schülers durch die Betrachtung von Kunstwerken schärft. Von den
Schöpfungen der neuern Kunst muß dabei mit wenigen Ausnahmen abgesehen
werden. Sie sind zu unruhig und nicht genügend abgeklärt, es wogt und
wallt noch alles in ihnen, Erzeugnissen einer nervösen Zeit, Nachahmungen
schönerer Vorbilder. Aus diese Vorbilder muß auch die Schule zurückgehn.
Die griechische Kunst hat wie aus einem innersten Triebe heraus nach dem
höchsten gestrebt, sie hat die Gesetze der Kunst klar erfaßt und in ihren Werken
deutlich niedergelegt. Die Anlage des griechischen Tempels ist bei aller
Mannichfaltigkeit einfach, durchsichtig im Grundriß und vom schönsten Eben¬
maß im Aufbau, recht als wüchse im Wechsel des tragenden und des ge¬
tragnen ein Bauglied aus dem andern hervor, und als könnte es gar nicht
anders sein. Die Schöpfungen der Blütezeit der griechischen Plastik machen
den gleichen Eindruck des ungekünstelten und der künstlerischen Vollendung,
sie sind in Nachahmung der Natur vom reinsten Idealismus empfangen und
über die Natur hinaus zur edelsten Schönheit gesteigert, mögen sie nun die
Erscheinung eines Gottes oder die körperliche Vollkommenheit des Menschen


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[0234] Die antike Kunst und die Schule Beschreibung des Laokoon, eine schlichte Beschreibung, ohne jede kunstgeschicht¬ liche, ästhetische oder mythologische Beimengung. Wir lächelten anfangs über das Thema, das für Primaner doch kaum noch geeignet schien. Eine einfache Beschreibung! Hatten wir nicht Lessings Laokoon gelesen und schon manchen gehaltoollern, wie wir glaubten, und tiefsinnigern Aufsatz geschrieben? Aber als wir nnn mit der einfachen Beschreibung Ernst machen mußten, standen wir geradezu hilflos vor der Laokoongruppe im Museum und wußten nicht, wo anfangen. Beim Vater, bei den Söhnen, bei den Schlangen oder beim Altar? Und wenn beim Vater, wie einige wollten — in unsrer Verlegenheit hielten wir schließlich förmliche Beratungen — sollte man dann mit dein Kopfe beginnen oder womit sonst? Das Ergebnis war kläglich. Nur wenige hatten etwas befriedigendes gebracht, darunter zu aller Überraschung einer, den wir bisher nur als tüchtigen Mathematiker und witzigen Zeichmr von Bildern für unsre Kneipzeitung gekannt hatten. Ähnlich wie in der Schule, steht es aber bei den meisten Erwachsenen. Man bitte einmal den oder jenen, ein Denkmal, an dem er vielleicht zwei- bis dreimal täglich vorbeigeht, zu schildern. Wie wenige werden eine wirklich lebendige Anschauung davon haben! Wir sehen, und sehen dabei doch nicht. Das Geschaute haftet nicht als Bild in unsrer Seele. Wie es ein flüchtiges Lesen giebt, so auch ein flüchtiges und gedankenloses Sehen, und wie der, der sich in seiner Jugend flüchtig zu lesen gewöhnt hat, später nur bei großer Selbstbeherrschung davon zurück¬ kommt, so braucht es auch Zwang und Übung, um von einem gedankenlosen Sehen wieder zu lebendiger Anschauung vorzudringen. Die geschwnndne Anschauungskraft muß die Schule neu beleben, und sie wird es können, wenn sie uns einen bessern Zeichenunterricht giebt und den Blick des Schülers durch die Betrachtung von Kunstwerken schärft. Von den Schöpfungen der neuern Kunst muß dabei mit wenigen Ausnahmen abgesehen werden. Sie sind zu unruhig und nicht genügend abgeklärt, es wogt und wallt noch alles in ihnen, Erzeugnissen einer nervösen Zeit, Nachahmungen schönerer Vorbilder. Aus diese Vorbilder muß auch die Schule zurückgehn. Die griechische Kunst hat wie aus einem innersten Triebe heraus nach dem höchsten gestrebt, sie hat die Gesetze der Kunst klar erfaßt und in ihren Werken deutlich niedergelegt. Die Anlage des griechischen Tempels ist bei aller Mannichfaltigkeit einfach, durchsichtig im Grundriß und vom schönsten Eben¬ maß im Aufbau, recht als wüchse im Wechsel des tragenden und des ge¬ tragnen ein Bauglied aus dem andern hervor, und als könnte es gar nicht anders sein. Die Schöpfungen der Blütezeit der griechischen Plastik machen den gleichen Eindruck des ungekünstelten und der künstlerischen Vollendung, sie sind in Nachahmung der Natur vom reinsten Idealismus empfangen und über die Natur hinaus zur edelsten Schönheit gesteigert, mögen sie nun die Erscheinung eines Gottes oder die körperliche Vollkommenheit des Menschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/234>, abgerufen am 22.12.2024.