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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die antike Aunst und die Schule

stärkern und nachhaltigem Einfluß ausgeübt haben, als die Dichtkunst. Der
fromme gläubige Sinn, der das griechische Volk in der Blütezeit seiner Bil¬
dung durchdrang, sprach sich deutlicher und verständlicher in der bildenden als
in der dichtenden Kunst aus. Als das Volk die hehren Worte des Äschylvs
und Sophokles über den Späßen der Komödie vergessen hatte, da redete der
Zeus des Phidias zu Olympia noch immer seine stumme, aber eindringliche
Sprache, sodaß Anilins Paullus von seinem Anblick tief ergriffen wurde und
Dio Chrysostomus begeistert ausrief, auch ein schwer bekümmerter und von
Seelenqualen bedruckter Mensch müßte vor diesem lichten Bild alles vergessen,
was es im Menschenleben schweres und furchtbares gebe.

Warum hat man aber bisher nur die alte Geschichte und die Sprache
und Litteratur der Alten in den Unterricht des Gymnasiums aufgenommen
und die Betrachtung der klassischen Kunst fast ganz davon ausgeschlossen? Die
Schönheit eines griechischen Tempels und die machtvolle Erscheinung römischer
Gewölbebauten oder die Gestalten der Götter und Heroen wirken auf den
empfänglichen Schüler sicherlich ebenso nachdrücklich und bildend, wie ein home¬
rischer Gesang und ein Stück des Euripides oder die Verba auf ^et. Vor
einem halben Jahrhundert, als die Grundlagen zu unserm Gymnasium gelegt
wurden, war die Ausschließung der alten Kunst begreiflich. Lange Zeit war
ja die archäologische Wissenschaft nur als Nebenzweig der Antiquitäten an den
Universitäten verhältnismäßig durch wenige tüchtige Gelehrte vertreten, und
selbst ein archäologisch gebildeter Lehrer wäre damals in Verlegenheit ge¬
kommen, wenn er seinen Schülern gute und dabei billige Abbildungen alter
Kunstwerke hätte vorlegen wollen. Beides ist jetzt anders geworden. An jeder
größern und mancher kleinen Universität findet man Gelegenheit, die Entwick¬
lung der griechischen Kunst und ihre erhabensten Schöpfungen in kunstgeschicht-
lichen Vorträgen und bei Führungen durch eine reiche Sammlung guter Ab¬
güsse kennen zu lernen, und dem Lehrer, der seinen Schülern die edle Schön¬
heit des perikleischen Athens oder die gewaltige Größe des kaiserlichen Roms
veranschaulichen will, steht eine Fülle guter, billiger Abbildungen zu Gebote.
Deshalb ist schon seit Jahren mit vollem Rechte die Forderung erhoben worden,
daß das Gymnasium seinen Schülern in gewissen Grenzen die Schöpfungen
der klassischen Kunst vorführe und erkläre. Eine verständige Betrachtung der
alten Kunstwerke wird Segen bringen.

Bei dem herrschenden Lehrplan des Gymnasiums sehlt es an der leben¬
digen Anschauung. Die meisten von uns können nicht mehr recht sehen. Sie
haben es nie gelernt, zu Hause nicht und in der Schule erst recht nicht, ja
der Primaner ist darin häufig noch hilfloser als der Sextaner, denn dieser
hat doch wenigstens noch die Jugendfrische und seinen Zeichenunterricht, wäh¬
rend jener darüber weit erhaben ist. Ich denke immer noch gern an einen
deutschen Aufsatz zurück, der uns einmal in der Prima aufgegeben wurde: die


Grenzboten IV 189L 29
Die antike Aunst und die Schule

stärkern und nachhaltigem Einfluß ausgeübt haben, als die Dichtkunst. Der
fromme gläubige Sinn, der das griechische Volk in der Blütezeit seiner Bil¬
dung durchdrang, sprach sich deutlicher und verständlicher in der bildenden als
in der dichtenden Kunst aus. Als das Volk die hehren Worte des Äschylvs
und Sophokles über den Späßen der Komödie vergessen hatte, da redete der
Zeus des Phidias zu Olympia noch immer seine stumme, aber eindringliche
Sprache, sodaß Anilins Paullus von seinem Anblick tief ergriffen wurde und
Dio Chrysostomus begeistert ausrief, auch ein schwer bekümmerter und von
Seelenqualen bedruckter Mensch müßte vor diesem lichten Bild alles vergessen,
was es im Menschenleben schweres und furchtbares gebe.

Warum hat man aber bisher nur die alte Geschichte und die Sprache
und Litteratur der Alten in den Unterricht des Gymnasiums aufgenommen
und die Betrachtung der klassischen Kunst fast ganz davon ausgeschlossen? Die
Schönheit eines griechischen Tempels und die machtvolle Erscheinung römischer
Gewölbebauten oder die Gestalten der Götter und Heroen wirken auf den
empfänglichen Schüler sicherlich ebenso nachdrücklich und bildend, wie ein home¬
rischer Gesang und ein Stück des Euripides oder die Verba auf ^et. Vor
einem halben Jahrhundert, als die Grundlagen zu unserm Gymnasium gelegt
wurden, war die Ausschließung der alten Kunst begreiflich. Lange Zeit war
ja die archäologische Wissenschaft nur als Nebenzweig der Antiquitäten an den
Universitäten verhältnismäßig durch wenige tüchtige Gelehrte vertreten, und
selbst ein archäologisch gebildeter Lehrer wäre damals in Verlegenheit ge¬
kommen, wenn er seinen Schülern gute und dabei billige Abbildungen alter
Kunstwerke hätte vorlegen wollen. Beides ist jetzt anders geworden. An jeder
größern und mancher kleinen Universität findet man Gelegenheit, die Entwick¬
lung der griechischen Kunst und ihre erhabensten Schöpfungen in kunstgeschicht-
lichen Vorträgen und bei Führungen durch eine reiche Sammlung guter Ab¬
güsse kennen zu lernen, und dem Lehrer, der seinen Schülern die edle Schön¬
heit des perikleischen Athens oder die gewaltige Größe des kaiserlichen Roms
veranschaulichen will, steht eine Fülle guter, billiger Abbildungen zu Gebote.
Deshalb ist schon seit Jahren mit vollem Rechte die Forderung erhoben worden,
daß das Gymnasium seinen Schülern in gewissen Grenzen die Schöpfungen
der klassischen Kunst vorführe und erkläre. Eine verständige Betrachtung der
alten Kunstwerke wird Segen bringen.

Bei dem herrschenden Lehrplan des Gymnasiums sehlt es an der leben¬
digen Anschauung. Die meisten von uns können nicht mehr recht sehen. Sie
haben es nie gelernt, zu Hause nicht und in der Schule erst recht nicht, ja
der Primaner ist darin häufig noch hilfloser als der Sextaner, denn dieser
hat doch wenigstens noch die Jugendfrische und seinen Zeichenunterricht, wäh¬
rend jener darüber weit erhaben ist. Ich denke immer noch gern an einen
deutschen Aufsatz zurück, der uns einmal in der Prima aufgegeben wurde: die


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[0233] Die antike Aunst und die Schule stärkern und nachhaltigem Einfluß ausgeübt haben, als die Dichtkunst. Der fromme gläubige Sinn, der das griechische Volk in der Blütezeit seiner Bil¬ dung durchdrang, sprach sich deutlicher und verständlicher in der bildenden als in der dichtenden Kunst aus. Als das Volk die hehren Worte des Äschylvs und Sophokles über den Späßen der Komödie vergessen hatte, da redete der Zeus des Phidias zu Olympia noch immer seine stumme, aber eindringliche Sprache, sodaß Anilins Paullus von seinem Anblick tief ergriffen wurde und Dio Chrysostomus begeistert ausrief, auch ein schwer bekümmerter und von Seelenqualen bedruckter Mensch müßte vor diesem lichten Bild alles vergessen, was es im Menschenleben schweres und furchtbares gebe. Warum hat man aber bisher nur die alte Geschichte und die Sprache und Litteratur der Alten in den Unterricht des Gymnasiums aufgenommen und die Betrachtung der klassischen Kunst fast ganz davon ausgeschlossen? Die Schönheit eines griechischen Tempels und die machtvolle Erscheinung römischer Gewölbebauten oder die Gestalten der Götter und Heroen wirken auf den empfänglichen Schüler sicherlich ebenso nachdrücklich und bildend, wie ein home¬ rischer Gesang und ein Stück des Euripides oder die Verba auf ^et. Vor einem halben Jahrhundert, als die Grundlagen zu unserm Gymnasium gelegt wurden, war die Ausschließung der alten Kunst begreiflich. Lange Zeit war ja die archäologische Wissenschaft nur als Nebenzweig der Antiquitäten an den Universitäten verhältnismäßig durch wenige tüchtige Gelehrte vertreten, und selbst ein archäologisch gebildeter Lehrer wäre damals in Verlegenheit ge¬ kommen, wenn er seinen Schülern gute und dabei billige Abbildungen alter Kunstwerke hätte vorlegen wollen. Beides ist jetzt anders geworden. An jeder größern und mancher kleinen Universität findet man Gelegenheit, die Entwick¬ lung der griechischen Kunst und ihre erhabensten Schöpfungen in kunstgeschicht- lichen Vorträgen und bei Führungen durch eine reiche Sammlung guter Ab¬ güsse kennen zu lernen, und dem Lehrer, der seinen Schülern die edle Schön¬ heit des perikleischen Athens oder die gewaltige Größe des kaiserlichen Roms veranschaulichen will, steht eine Fülle guter, billiger Abbildungen zu Gebote. Deshalb ist schon seit Jahren mit vollem Rechte die Forderung erhoben worden, daß das Gymnasium seinen Schülern in gewissen Grenzen die Schöpfungen der klassischen Kunst vorführe und erkläre. Eine verständige Betrachtung der alten Kunstwerke wird Segen bringen. Bei dem herrschenden Lehrplan des Gymnasiums sehlt es an der leben¬ digen Anschauung. Die meisten von uns können nicht mehr recht sehen. Sie haben es nie gelernt, zu Hause nicht und in der Schule erst recht nicht, ja der Primaner ist darin häufig noch hilfloser als der Sextaner, denn dieser hat doch wenigstens noch die Jugendfrische und seinen Zeichenunterricht, wäh¬ rend jener darüber weit erhaben ist. Ich denke immer noch gern an einen deutschen Aufsatz zurück, der uns einmal in der Prima aufgegeben wurde: die Grenzboten IV 189L 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/233>, abgerufen am 03.07.2024.