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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Albrecht von Roon

schüchtern, konnte dem Knaben wenig sein. In den engsten Verhältnissen
hauste die Familie in abgelegner Gegend, und bei schlechter Wirtschaft und
der Ungunst der Zeit kam sie immer mehr zurück. Auch die Beziehungen zu
den väterlichen Großeltern in Frankfurt a. O. waren nicht sehr freundlich. So
blieb sich der Knabe fast ganz selbst überlassen. Er besuchte die dürftige Dorf¬
schule; aber die meiste Zeit verbrachte er allein oder mit Gespielen in den
ausgedehnten Baumgärten des Dorfes oder in den Dünen, die hinter dem
Hause der Eltern aufstiegen und ihm damals gewaltig hoch erschienen. Da
tummelte er sich in den Sandthälern und auf der luftigen Höhe, lag träumend
im weichen Sande und verfolgte den Zug der Wolken oder sah hinaus auf
die bald leise wogende, im Sonnenschein blitzende, bald wild vom Sturm ge¬
peitschte See, deren donnernde Brandung ihn oft in den Schlaf sang.

Von dem schweren Geschick, das damals über Preußen kam, hat er un¬
mittelbar wohl wenig erfahren; als der Heldenkampf um die Wälle des nahen
Kolberg tobte, war er erst vier Jahre alt. Gedrückt und schweigend trugen
die Eltern die schwere Last der Zeit. Für den Sohn war es unter solchen
Umstanden kaum ein Verlust, als der Vater schon im Jahre 1811 starb; denn
nachdem er einige Zeit bei einem benachbarten Pfarrer in Pension gewesen
war, kam er neunjährig im Frühjahr 1812 in das Haus seiner Großmutter
zu Alt-Damm bei Stettin. Dieser klugen, strengen und thatkräftigen, dabei
aber herzlich wohlwollenden Frau verdankte der Enkel alles, auch den ersten
regelmäßigen Unterricht; sie ist ihm "unvergeßlich" geblieben.

Gewaltig wirkte jetzt auch das Leben der Zeit auf ihn ein. Kaum war
er in Alt-Damm eingetroffen, da wälzten sich die Heeresmassen der "großen
Armee" in endlosen Zügen gegen Nußland. Ein furchtbarer Druck lastete auf
dem Lande. Auch die Großmutter Borcke hielt nur mit äußerster Mühe unter
den fortwährenden Einquartierungen und Kriegsstenern den Hause)alt aufrecht.
Selbst der Befreiungskrieg brachte zunächst keine Befreiung, denn im April 1813
wurden Stettin und Alt-Damm, die seit 1806 in den Händen der Franzosen
geblieben waren, von preußischen Truppen eingeschlossen. Freilich störte auch
die drückendste Not die tapfre Großmutter nicht in ihrem Patriotismus; sie
wandte ihre letzten Groschen dran, um am 3. August am offnen Fenster, den Fran¬
zosen zum Ärger, ein Glas Wein auf den Geburtstag ihres Königs zu trinken.
Derweilen hütete der Enkel den Garten vor den hungernden Franzosen, ein
Bajonett auf einen Besenstiel gepflanzt. Als die Beschießung begann, stand
Albrecht, wie er später scherzend erzählte, zum erstenmale im Feuer, ein Bomben¬
splitter verwundete ihn leicht. Erst Ende Dezember wurde die Festung über¬
geben. Aber schon am 13. Oktober starb die Großmutter, und der zehnjährige
Knabe stand nun einsam und mittellos in der Welt. Denn seine Mutter litt
schon seit längerer Zeit an Gehirnkrämpfen, die allmählich zu völligem Schwach¬
sinn führten; sie ist 1823 nach langem Siechtum gestorben. Da nahm sich


Albrecht von Roon

schüchtern, konnte dem Knaben wenig sein. In den engsten Verhältnissen
hauste die Familie in abgelegner Gegend, und bei schlechter Wirtschaft und
der Ungunst der Zeit kam sie immer mehr zurück. Auch die Beziehungen zu
den väterlichen Großeltern in Frankfurt a. O. waren nicht sehr freundlich. So
blieb sich der Knabe fast ganz selbst überlassen. Er besuchte die dürftige Dorf¬
schule; aber die meiste Zeit verbrachte er allein oder mit Gespielen in den
ausgedehnten Baumgärten des Dorfes oder in den Dünen, die hinter dem
Hause der Eltern aufstiegen und ihm damals gewaltig hoch erschienen. Da
tummelte er sich in den Sandthälern und auf der luftigen Höhe, lag träumend
im weichen Sande und verfolgte den Zug der Wolken oder sah hinaus auf
die bald leise wogende, im Sonnenschein blitzende, bald wild vom Sturm ge¬
peitschte See, deren donnernde Brandung ihn oft in den Schlaf sang.

Von dem schweren Geschick, das damals über Preußen kam, hat er un¬
mittelbar wohl wenig erfahren; als der Heldenkampf um die Wälle des nahen
Kolberg tobte, war er erst vier Jahre alt. Gedrückt und schweigend trugen
die Eltern die schwere Last der Zeit. Für den Sohn war es unter solchen
Umstanden kaum ein Verlust, als der Vater schon im Jahre 1811 starb; denn
nachdem er einige Zeit bei einem benachbarten Pfarrer in Pension gewesen
war, kam er neunjährig im Frühjahr 1812 in das Haus seiner Großmutter
zu Alt-Damm bei Stettin. Dieser klugen, strengen und thatkräftigen, dabei
aber herzlich wohlwollenden Frau verdankte der Enkel alles, auch den ersten
regelmäßigen Unterricht; sie ist ihm „unvergeßlich" geblieben.

Gewaltig wirkte jetzt auch das Leben der Zeit auf ihn ein. Kaum war
er in Alt-Damm eingetroffen, da wälzten sich die Heeresmassen der „großen
Armee" in endlosen Zügen gegen Nußland. Ein furchtbarer Druck lastete auf
dem Lande. Auch die Großmutter Borcke hielt nur mit äußerster Mühe unter
den fortwährenden Einquartierungen und Kriegsstenern den Hause)alt aufrecht.
Selbst der Befreiungskrieg brachte zunächst keine Befreiung, denn im April 1813
wurden Stettin und Alt-Damm, die seit 1806 in den Händen der Franzosen
geblieben waren, von preußischen Truppen eingeschlossen. Freilich störte auch
die drückendste Not die tapfre Großmutter nicht in ihrem Patriotismus; sie
wandte ihre letzten Groschen dran, um am 3. August am offnen Fenster, den Fran¬
zosen zum Ärger, ein Glas Wein auf den Geburtstag ihres Königs zu trinken.
Derweilen hütete der Enkel den Garten vor den hungernden Franzosen, ein
Bajonett auf einen Besenstiel gepflanzt. Als die Beschießung begann, stand
Albrecht, wie er später scherzend erzählte, zum erstenmale im Feuer, ein Bomben¬
splitter verwundete ihn leicht. Erst Ende Dezember wurde die Festung über¬
geben. Aber schon am 13. Oktober starb die Großmutter, und der zehnjährige
Knabe stand nun einsam und mittellos in der Welt. Denn seine Mutter litt
schon seit längerer Zeit an Gehirnkrämpfen, die allmählich zu völligem Schwach¬
sinn führten; sie ist 1823 nach langem Siechtum gestorben. Da nahm sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/220>, abgerufen am 22.12.2024.